Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Pillepalle mit Sinn
> Sprachkritik ist wie Haarespalten durch, über und für die Zunge. Zum
> Beispiel wenn man sich die guten alten Präpositionen und ihren Gebrauch
> ansieht.
Bild: Wer wird denn gleich bei einem Fehler die Zunge durchbohren?
Haarespalten macht Spaß. Sprachkritik auch. Ob sie einen Sinn hat, ist eine
andere Frage, weil das Selbstverständnis jedes Menschen derart eng mit
seiner Sprache verwoben ist, dass Kritik schnell als Majestätsbeleidigung
empfunden wird. Andererseits: Auch Majestätsbeleidigung macht Spaß.
„Macht“ sie auch Sinn? Vielleicht ja, mit Sicherheit nein, weil Dinge,
Zustände und Handlungen niemals Sinn machen. Es ist der Mensch, der den
Sinn macht und ihn den Dingen und so weiter gibt, die daraufhin einen
haben; sodass, wer ein Ding verwendet, einen Zustand einordnet oder eine
Handlung bewertet, sagen kann, dass etwas Sinn hat oder Sinn ergibt. Schon
Luther wollte, „dass man wenig wort mache, aber vill und tiefe meynungen
oder Synnen mache“, und Goethe urteilte über in Musik gesetzte Psalmen,
dies sei „unglaublich original, ob man gleich sich erst einen Sinn dazu
machen muß“. Dass also ein Ding selbst Sinn macht, mögen Okkultisten
behaupten – alle anderen wissen, dass „es“ niemals Sinn macht. Sondern
„man“, der, siehe oben, Mensch.
Der macht sich zum Beispiel bei Präpositionen seinen ganz eigenen Sinn oder
auch Unsinn. Es gibt da eine Tendenz zur Vereinheitlichung: Entsprechend
der Begeisterung „über“ etwas sind die Leute nicht mehr von, sondern „ü…
etwas begeistert und begeistern sich sogar aktiv „über“ etwas: In ihrer
„Liste beneidenswerter Leute“ erwähnte 2014 die Titanic „Leute, die sich
über das Design des neuen 10-Euro-Scheins begeistern“. Analog führt die
Enttäuschung „über“ etwas dazu, dass man nicht mehr „von“, sondern, w…
jener in Kuba inhaftierte US-Bürger, „enttäuscht über die eigene Regierung…
ist (taz).
Man ist auch „schockiert über“ Gewalt (Deutschlandfunk), „überrascht ü…
ein hohes Einkommensniveau (taz) und möchte schon „Über, über, über alles…
singen. Doch dann ist man schockiert und überrascht, dass das „über“ dort
fehlt, wo es am Platz ist, denn in der taz debattiert man gern „um“ etwas �…
statt etwa eine Debatte über den Gebrauch von Präpositionen zu führen.
Die hätte übrigens auch anderswo Sinn. Der „Simpsons“-Erfinder „Matt
Groening hat das Konzept einer Animationsserie als Sammelbecken für
Reflexionen auf die amerikanische Gesellschaft und die Populärkultur mit
,Futurama‘ fortgesetzt“, heißt es in einem Reclam-Buch: ein freilich
zeitgemäßer Fehler, weil der Schreiber das aufs Denken zielende
„reflektieren über“ mit dem gierigen „auf etwas reflektieren“ verwechs…
Ähnlich sinnvoll heißt es in der deutschen Übersetzung von Céline Minards
Roman „Mit heiler Haut“: „Er fühlte sich innerlich gewachsen, völlig ru…
bereichert an etwas, von dem er nicht hätte sagen können, was es war“ –
sehr richtig, denn das materielle „sich an etwas bereichern“ passt besser
ins 21. Jahrhundert, als bloß seelisch um etwas reicher zu werden.
## Faszinosum Zeichensetzung
Ähnlich zeittypisch ist der Glaube an die freie Selbstbestimmung des
herrlichen Individuums. Es entscheidet sogar, „für“ was es sich fasziniert!
Da gibt es die „Faszination für die DDR“ (taz), die „Faszination für die
arktischen Regionen“ (taz) und die „Faszination für einen der bedeutendsten
deutschsprachigen Autoren“ (Literarisches Zentrum Göttingen) – mithin eine
Verkehrte Welt, weil Faszination vom Objekt ausgeht, nicht vom Subjekt;
dieses ist von jenem fasziniert, verhält sich also passivisch, weshalb es
„Faszination durch“ heißen muss.
Eines der besten Felder fürs Haarespalten aber ist die Zeichensetzung. Da
niemand sie ganz beherrscht, verzichten manche gleich ganz auf sie. So geht
es in einem Geschäftsbrief nach einem form- und kommalosen „Hallo“ in der
zweiten Zeile genauso formlos weiter: „habe den Film heute verschickt wäre
toll wenn Sie mir sagen können wenn sie [!] da ist und Sie mich Bewerten
[!] würden sollte es ein Problem geben Bitte [!] ich um Nachricht und nicht
gleich eine negative Bewertung oder neutrale man kann über alles reden“
kein Komma neue Zeile „Gruß“.
Da wundert es nicht, wenn die Göttinger Universitätszeitung Augusta
konstatiert: „Interessanterweise entsteht sobald die Klausuren der meisten
Fächer vorbei sind allerdings ein großes Gefälle was die Leistungsabbildung
der Studenten angeht.“
Selbstredend oder selbstlesend ist, was die Autoren wollen, zu verstehen –
Kommata, die den Text sinnvoll gliedern, wären daher nur hinderlich, genau
wie Regeln im Straßenverkehr. Manchmal ahnt man aber, dass welche am Platz
wären, und weiß bloß nicht, wo der sein soll. Dann verlässt man sich am
besten auf sein Gefühl und macht es vollkommen falsch: „Es ist schwer, vor
allem für die jungen Leute in die Welt zu gehen“, schreibt der Kasseler
Tagessatz und wirft überraschenderweise die Frage auf, wer denn da für die
jungen Leute in die Welt geht.
Der Teufel steckt eben bekanntlich im Detail; und der ist niemals
Pillepalle.
9 Dec 2015
## AUTOREN
Peter Köhler
## TAGS
Sprache
Sprachkritik
Deutsche Sprache
Schwerpunkt Klimawandel
Christentum
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Flüchtlingshilfe
Sprachkritik
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Bohei um den Nebbich
Amtlich nicht anerkannte Verbalien sind hier nun endlich erfasst. Was nicht
im Duden steht, kann trotzdem in aller Munde sein.
Wahrheit: 2016
Winston Smith lebt in einem totalitären Überwachungsstaat. Alles folgt
genauen Regeln: Liebe wie Arbeit, Leben wie Sprache.
Die Wahrheit: Die Schläferin
Schurken, die die Welt beherrschen wollen: Heute die spätberufene
Bundesumweltministerin Barbara „Babu“ Hendricks.
Die Wahrheit: Jahwes bester Mann
Was geschah wirklich auf dem Berg Sinai, als Moses angeblich Gott traf?
Neue Dokumente werfen ein grelles Licht auf das mystische Ereignis.
Die Wahrheit: Hamburg muss Olympia!
Vor dem Referendum am Sonntag: Der Hansestadt Hamburg gehören die Spiele
2024 – unwiderlegbar, logisch und zwingend.
Die Wahrheit: Tu dich deutsch!
Flüchtlingshilfe: Noch ein Leitgeber für schnelle Intigration, damit Zunge
und Gemüt von alle Fremde gut in Tritt kommt in neues Land.
Die Wahrheit: Weiße Schimmelreiter
Das Land der Sprachkritik ist weit und der Pleonasmen und Tautologien sind
viele.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.