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# taz.de -- Die Wahrheit: Der Geist der Weihnachtsspende
> Jedes Jahr dieselben braven Vorsätze, wenn es um die guten Taten zum
> Jahresende geht. Aber was wird eigentlich aus den ganzen milden Gaben?
Dieses Jahr, das war mein Vorsatz, halte ich mein Beutelchen fest
zugeschnürt. Eigentlich spende ich nämlich kurz vor Weihnachten noch mal so
richtig mit Schwung, weil: a) Weihnachtsgeld, b) Steuervorteil, c)
Hirnerweichung. Die hatte mich diesmal sogar schon im November erwischt.
Nichtsahnend saß ich in einem Berliner Hotelfrühstückssaal, als dessen
einziger Vorzug die relative Ruhe erschien. Industriekäse und
Büchsenobstsalat ruhten still und starr auf dem Buffet am ersten
Adventssonntag morgens um acht, und ich war, da man als übergewichtiger
Nichtflüchtling nicht unbedingt frühstücken muss, sehr zufrieden, bis es
über mir „Krk!“ machte und mir aus einem verborgenen Lautsprecher „Last
Christmas“ mit sämtlichen Strophen auf den Kopf fiel. Wham! Gerührt legte
ich ein paar Münzen auf den Tisch und dachte darüber nach, wer in diesem
Dezember mein schönes Geld bekommen soll.
Damit war ich nach einer Woche noch nicht fertig, denn täglich kamen neue
Bettelbriefe verschiedenster Organisationen. Seltsame Krankheiten,
Naturkatastrophen, ferne Kriege, Obdachlosigkeit vor meiner Haustür. Ich
verzweifelte, bis mir in der Nacht zum Nikolaustag der Geist der
vergangenen Weihnachtsspenden erschien. Er nahm mich stumm an die Hand und
führte mich in die Dorfbibliothek vor ein paar schöne neue Bücher. Ich
nickte zufrieden, denn ich erinnerte mich an meine Spende. Der Geist drehte
mich sanft im Kreis herum. Außer der Bibliothekarin war niemand zu sehen.
Der Geist sah traurig aus. Jetzt entdeckte auch ich die Spinnweben an den
Bänden.
Der Geist zog mich weiter zum Freibad. „Es ist Dezember, natürlich ist
jetzt niemand hier“, erklärte ich ihm gleich, denn ich wusste noch, dass
ich Geld dafür gegeben hatte. Der Geist öffnete ein Display auf seiner
Stirn, weil Geister nicht sprechen. „Besucherzahlen“ leuchtete in roter
Warnschrift auf. „Mehr als letztes Jahr!“, rief ich. „Nicht genug, Zukunft
ungewiss“, flimmerte es anklagend zurück.
Als Nächstes fand ich mich in einem Raum voll alter Herren mit Trompeten,
Posaunen und Saxofonen. Eine Amateur-Bigband aus der Region, die seit 100
Jahren „Black Coffee“ spielt. „Das war ich nicht!“, sagte ich entsetzt.…
Display flackerte ein bisschen, dann stand da: „D-O-C-H! Und es ist
Humbug!“ Der Geist kicherte.
Das also war aus meinen gutgemeinten Regionalspenden geworden.
Schweißgebadet erwachte ich rasch, denn ich hatte Angst, dass der Geist
mich als Nächstes mit nach Syrien nimmt und mir zeigt, wie trotz meiner
Gabe dort Kinder sterben. Aber am Frühstückstisch verwandelte sich das
hartnäckige Nachtgespenst in einen Artikel aus der Süddeutschen, in dem
stand, dass humanitäre Spenden verbrecherische Regime stabilisieren, weil
sie Hungeraufstände der leidenden Bevölkerung verhindern. Auf der Teekanne
erschien in Leuchtschrift das Wort „ZYNISCH“. Ich nahm einen Stapel
Überweisungsformulare und rannte, geistlos wie immer im Dezember, zur Bank.
9 Dec 2015
## AUTOREN
Susanne Fischer
## TAGS
Spenden
Aberglaube
Frauen
Mütter
Gunter Gabriel
Provinz
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