| # taz.de -- Tourismus in Städten: Disneyland an der Gracht | |
| > Die Besucherzahlen steigen, der Unmut der Bewohner wächst: In Amsterdam | |
| > stößt der Tourismus an seine Grenzen. | |
| Bild: Touristen haben Spaß in einer Gasse am Grachtengürtel. | |
| Kinderwagen. Gruppen von Radfahrern auf bunten „Leihfietsen“. Lieferautos, | |
| die sich im Schritttempo einen Weg auf die andere Seite bahnen, wo im | |
| beliebten Yuppiekiez Jordaan auch noch Markt ist. Und dann sind da noch | |
| bauchige Lastenräder, eine lokale Spezialität, Mofas, Autos, Segways und | |
| natürlich Fußgänger, die zum Verweilen eingeladen werden. Durch die | |
| Riesenluftblasen, die ein Münzensammler wabernd in die Luft entlässt. Oder | |
| einfach durch die pittoreske Aussicht auf die Prinsengracht. | |
| Ein Foto? Aber klar. Während unten auf der Gracht die Rundfahrtboote | |
| einander ausweichen, kommt oben der Fluss zum Erliegen. Sie ist wahrlich | |
| ein Nadelöhr, die Doppelbrücke zwischen der Einkaufsmeile Haarlemmerstraat | |
| und der Prinsengracht. Schon wegen ihrer rechtwinklige Konstruktion hat sie | |
| Staupotenzial. Doch ist die Brücke nicht nur das verstopfte Eintrittstor | |
| zum Zentrum Amsterdams, sondern als solches auch ein Symbol. | |
| Die Grachtenmetropole, seit jeher eine der beliebtesten globalen | |
| Destinationen für Wochenendtrips, ächzt immer lauter unter ihrer | |
| Überfüllung. Und auch wenn die Stadt zurzeit mit jährlich 10.000 neuen | |
| Bewohnern die schnellste Wachstumsperiode ihrer Geschichte erlebt, wird | |
| dafür vor allem der Tourismus verantwortlich gemacht. Viereinhalb Millionen | |
| internationale Besucher kamen 2000 nach Amsterdam, 2014 waren es schon neun | |
| Millionen. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Hotelzimmer von gut | |
| 16.000 auf beinahe 27.000, die zunehmende inoffizielle Vermietung von | |
| Privaträumen nicht mitgerechnet. Der ortsansässige Experte Stephen Hodes | |
| geht von einer weiteren Verdopplung der Besucherzahlen bis 2030 aus. | |
| ## Eine klitzekleine Stadt | |
| „Wenn das Verhältnis zwischen Wohnen, Arbeiten und Erholung aus dem | |
| Gleichgewicht kommt“, warnte Hodes zu Jahresbeginn in der Tageszeitung Het | |
| Parool, „bekommen wir Disneyfizierung, und die Stadt wird ein | |
| Vergnügungspark.“ Erschwerender Faktor: „Wir leben in einer klitzekleinen | |
| Stadt.“ Tatsächlich hat Amsterdam zurzeit 825.000 Einwohner – wahrlich | |
| nicht viel für einen solchen Besucherstrom. Dieses Verhältnis bekommt eine | |
| sehr greifbare Dimension, wenn man von besagter Brücke aus das Zentrum | |
| durchstreift. | |
| Keine 700 Meter weiter stößt man vor dem Anne-Frank-Haus auf eine der | |
| legendärsten Warteschlangen in der Stadt, die sich nicht selten um mehrere | |
| Ecken windet und den Verkehr in der Prinsengracht erheblich beeinflusst. | |
| Gut einen Kilometer entfernt beginnt das Rotlichtviertel, etwas mehr als | |
| zwei sind es bis zum Museumsplatz, wo sich Van-Gogh- , Stedelijk- und das | |
| neue Rijksmuseum mit Besucherrekorden überbieten. Dazwischen erstreckt sich | |
| eine veritable Spielwiese um den „I AMSTERDAM“- Schriftzug aus meterhohen | |
| Buchstaben, täglich in hoher Frequenz beklettert und aus einem Wald von | |
| Selfie-Sticks heraus tausendfach fotografiert. | |
| Die Konsequenzen sind überaus ambivalent: Da sind zum einen 100.000 | |
| Arbeitsplätze im Tourismussektor sowie sechseinhalb Milliarden Euro, die | |
| Besucher jedes Jahr in Amsterdam und seinem malerischen Umland mit | |
| Blumenschau und Windmühlen lassen. Mehr und mehr Bewohner aber beschweren | |
| sich über den Andrang, und die Konfrontation zwischen Touristen mit | |
| Rollkoffern, desorientiert, unbedarft im Weg stehend und nicht selten | |
| „stoned wie eine Garnele“, und den als launisch bekannten Fahrradfahren der | |
| Stadt mag zwar klischeehaft überzeichnet sein, findet aber doch ganz | |
| ähnlich tagtäglich auf den engen Straßen Amsterdams statt. | |
| ## Die Stadt gehört den Bewohnern | |
| Bürgermeister Eberhard van der Laan nennt daher „den Ruf nach Gleichgewicht | |
| in der Stadt mehr als gerechtfertigt“. In seiner Neujahrsansprache | |
| bekräftigte er, die Stadt sei in erster Linie für ihre Bewohner da. Selbst | |
| Jos Vranken, Direktor des niederländischen Tourismus- und Kongressbüros | |
| (NCTB), nuanciert: „Natürlich schätzen wir eine Attraktion wie Amsterdam, | |
| doch bei solch einem Wachstum wird der Druck an bestimmten Orten zu groß. | |
| Das verlangt nach Interventionen.“ Damit beschäftigt sich die | |
| Stadtverwaltung zurzeit. Im Mai verfasste sie einen Aktionsplan mit | |
| autofreien Gebieten in der Innenstadt, hartem Vorgehen gegen illegale | |
| Zimmervermietung und der Absicht, weniger zentrale Orte auf die | |
| touristische Karte zu bringen. | |
| „Wir müssen die Leute dazu bringen, weiter zu gehen als zum Anne-Frank-Haus | |
| und Reichsmuseum“, erläutert Wirtschaftsdezernentin Kajsa Ollongren. Neu | |
| ist dieser Ansatz indes nicht. Schon seit einigen Jahren probiert man im | |
| Stadthaus, unbekanntere Gebiete Amsterdams zu promoten. „Verbreiterung“ ist | |
| das Stichwort. Ein Beispiel ist die App, die das Anne-Frank-Haus seinen | |
| Besuchern anbietet. Diese schickt sie nicht nur auf die Spuren der Familie, | |
| bevor sie im Hinterhaus an der Prinsengracht ihr Versteck bezog, sondern | |
| auch in das kaum je von Touristen besuchte Viertel Rivierenbuurt. | |
| Der Haken: Die weitaus meisten Besucher bleiben nur einige Tage in der | |
| Stadt. Und in diesem engen Rahmen verlassen die wenigsten die Routen, die | |
| ein amerikanischer Backpacker, gefragt nach den Sehenswürdigkeiten der | |
| Stadt, einst so umriss: „Well, the Van Gogh Museum and then obviously a | |
| coffeeshop.“ Nicht wenige Bewohner Amsterdams misstrauen ohnehin dem | |
| Schlagwort der „Verbreitung“. Solange die Besucherzahlen weiterwüchsen, sei | |
| dies nichts als „ein Schnuller, den die Stadtregierung kritischen | |
| Amsterdamern in den Mund stopft“, so der Politologe Arthur Claassen | |
| unlängst in einem Kommentar in Het Parool. | |
| ## Verhasste Bierbikes | |
| Einige der kritischen Amsterdamer haben sich in Anbetracht dieser | |
| Konstellation auf einen leichteren Gegner eingeschossen: das sogenannte | |
| Bierfiets. Jener fahrbare Tresen, mit Zapfhahn und rund einem Dutzend | |
| Pedalpaaren ein maßgeschneidertes Gefährt für eindimensionale Herrentouren, | |
| zieht seit Monaten immer mehr Unmut auf sich. Laut, betrunken und im Weg | |
| stehend – die unbeliebteste Erscheinung im Verkehrsbild. „Weg mit dem | |
| Bierfiets“ nennt sich daher die Kampagne der „Vereinigung der Freunde der | |
| Amsterdamer Innenstadt“(VVAB). Sie hat Erfolg: Mitte November kündigte der | |
| Stadtteil Centrum an, die Pedal- Tresen künftig ebenso zu verbieten wie | |
| Strassenmusikanten. | |
| An unsere eingangs erwähnte Doppelbrücke allerdings haben sich ch die | |
| tretenden Trinker ohnehin kaum gewagt – dafür sorgt schon die ebenso | |
| abrupte wie knackige Steigung. Vermutlich würden sie auch das Gleichgewicht | |
| der Brücke sprengen, nicht statisch betrachtet, sondern eher sozial. Denn | |
| trotz aller Staus beweisen sich dort im Sommer jedes Wochenende jene | |
| Eigenschaften, die sich die Verkehrsteilnehmer der Stadt auf den engen | |
| Grachten angeeignet haben: Gelassenheit und Improvisationsvermögen. Zu | |
| Unfällen, Wutausbrüchen oder Handgreiflichkeiten kommt es dort jedenfalls | |
| nicht. | |
| 21 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Tobias Müller | |
| ## TAGS | |
| Amsterdam | |
| Tourismus | |
| Bevölkerung | |
| Amsterdam | |
| Anne Frank | |
| Niederlande | |
| Airbnb | |
| New York | |
| Airbnb | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kiffen und Speisen in Amsterdam: Trompeten für die Eltern | |
| Ein Familienausflug in die niederländische Metropole Amsterdam. Und ein | |
| Rezept für Schwarzwälder-Hasch-Kirsch-Torte. | |
| Diskussion um Urheberrecht: Anne Franks Tagebuch ist online | |
| Ein Dozent und eine Abgeordnete aus Frankreich stellten Anne Franks | |
| Tagebuch online. Der Anne Frank Fonds droht mit rechtlichen Schritten. | |
| LGBT-Flüchtlinge in Holland: Streit um separate Unterkünfte | |
| Wegen Bedrohung und Diskriminierung in Asylheimen stellt Amsterdam | |
| gesonderte Plätze für LGBT-Flüchtlinge bereit. Das passt der Regierung | |
| nicht. | |
| Begrenzung von Airbnb in San Francisco: Bürgerentscheid gescheitert | |
| Die Initiative wollte schärfere Regelungen für die Untervermietung der | |
| eigenen Wohnung. Diese sollte auf 75 Tage im Jahr begrenzt werden. | |
| Die Freiheitsstatue: Business as usual bei Miss Liberty | |
| Man nehme ein Inselchen, eine französische Dame, viel Symbolgehalt und | |
| fertig ist ein Nationaldenkmal. Ein Ausflug zum US-Nationalsymbol. | |
| Kolumne Aufgeschreckte Couchpotatoes: Warum mich Airbnb nur noch nervt | |
| Voll im Trend und voll alternativ, dabei super geschäftstüchtig: Airbnb | |
| hebelt alle Standards der Hotelerie aus. Zum Kotzen. |