# taz.de -- Kommentar Sterbehilfe: Ende, aus, vorbei | |
> Beihilfe zum Suizid wird strafbar. Wie Abgeordnete des Bundestags ihre | |
> eigenen kruden Moralvorstellungen zur Staatsdoktrin erklären. | |
Bild: Die staatliche Bevormundung wird dieses Land verändern. | |
Fast zwei Jahre lang haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestags eine | |
hoch emotionale Debatte geführt. Es ging um die Frage, ob Angehörige, Ärzte | |
oder Sterbehelfer künftig strafrechtlich belangt werden sollen, wenn sie | |
anderen Menschen dabei helfen, sich selbst zu töten – etwa, indem sie ihnen | |
ein todbringendes Medikament überlassen. 10.000 Menschen jährlich begehen | |
in Deutschland Suizid. 200, vielleicht 300 von ihnen bitten deswegen ihnen | |
nahestehende Menschen um Beihilfe. | |
Bald 150 Jahre lang waren sich Politik wie Zivilgesellschaft in Deutschland | |
darüber einig, dass dies zwar in jedem Einzelfall zu bedauern, aber als | |
individuelle Entscheidung mündiger Bürger auszuhalten und zu respektieren | |
sei. Konsens war: Weil der Suizid straffrei ist, konnte die Beihilfe zum | |
Suizid auch nichts anderes als straffrei sein. | |
Ende, aus, vorbei. Diesen Konsens hat eine Mehrheit der Parlamentarier am | |
Freitag ohne Not aufgekündigt: Künftig wird die Beihilfe zum Suizid in | |
Deutschland strafbar sein, sobald sie geschäftsmäßig stattfindet, also auf | |
Wiederholung ausgerichtet ist. Egal, ob Angehörige, Ärzte oder Sterbehelfer | |
aus Vereinen die Beihilfe leisten – sie alle laufen Gefahr, strafverfolgt | |
zu werden. Das Abstimmungsergebnis ist eine Zäsur. Es ist ein bewusster | |
Bruch mit einer Rechtslage, die seit 1871 in Deutschland gegolten und gut | |
funktioniert hat. | |
Die Warnungen vieler Politiker vor den Konsequenzen einer | |
Strafverschärfung, die es während der Debatte am Freitag durchaus gegeben | |
hatte, sie vermochten das Wahlergebnis schlussendlich nicht zu verhindern: | |
Die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ wird künftig im | |
Strafgesetzbuch verankert, zu ahnden „mit Freiheitsstrafe bis zu drei | |
Jahren“. | |
## Staatsmoralischer Paternalismus | |
Die staatliche Bevormundung in einer der intimsten Fragen, der | |
Selbstbestimmung über das eigene Lebensende, sie wird Gesetz in | |
Deutschland. Sie wird, das jedenfalls steht zu befürchten, dieses Land | |
verändern. | |
Rückblickend ist es deswegen so lohnend wie bedrückend, sich den Eifer vor | |
Augen zu führen, mit dem viele Bundestagsabgeordnete in den vergangenen | |
zwei Jahren dafür sorgen wollten, die Bürgerinnen und Bürger ohne Not – und | |
vor allem: gegen deren erklärten Willen – in Fragen des Todes und Sterbens | |
einem staatsmoralischen Paternalismus zu unterwerfen, der im Widerspruch | |
steht zum Gebot staatlicher Neutralität in einer pluralistischen | |
Gesellschaft. | |
Gesetzentwürfe wurden formuliert, vielleicht nicht in der Absicht, aber im | |
Ergebnis durchaus geeignet, das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und | |
Patienten dauerhaft zu belasten. Experten wurden angehört und durften den | |
Dammbruch prophezeien. Der Fraktionszwang wurde wegen der vermeintlich | |
schweren Gewissensentscheidung aufgehoben. Es konnte der Eindruck | |
entstehen, bei der Inanspruchnahme von Suizidbeihilfe handele es sich um | |
ein Massenphänomen, das aus dem Ruder zu laufen drohe. Und dem deswegen | |
Einhalt geboten werden müsse. Empirische Belege, die ein staatliches | |
Eingreifen hätten rechtfertigen können, fehlten freilich. Sie fehlen bis | |
heute, aber das hat die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten am Freitag | |
nicht daran gehindert, ihre eigenen kruden Moralvorstellungen zur | |
Staatsdoktrin zu erklären. | |
Nun könnte man die Auffassung vertreten, dass sich die Lebensrealität für | |
das Gros der Menschen im Land angesichts weniger Hundert assistierter | |
Suizide jährlich nicht verändern wird – und dass sich die Aufregung über | |
das neue Gesetz insofern nicht lohnt. Aber das stimmt nicht. Die Frage, ob | |
die Suizidbeihilfe legal oder illegal ist, sie betrifft eben sehr wohl | |
weitaus mehr als die wenigen Hundert direkt Betroffenen. | |
Sie erregt die Gemüter zu Recht auch deswegen so sehr, weil sie | |
exemplarisch steht für den generellen Respekt oder eben Nicht-Respekt des | |
Staates vor der Selbstbestimmung und den sehr privaten Entscheidungen | |
seiner Bürgerinnen und Bürger, die niemanden außer diesen etwas angehen. | |
Im Fall der Suizidbeihilfe wird die befürchtete Einmischung nun also per | |
Gesetz eingeführt. Andere Bereiche der Bioethik, der medizinischen | |
Versorgung und der Gesundheitsprävention könnten folgen. Denn auch bei | |
ihnen ist die Frage, wie paternalistisch der Staat sein darf – wohlwollend | |
unter dem neumodischen Begriff „Nudging“ subsumiert, kritisch als | |
Gesundheitsdiktatur bezeichnet – derzeit umstritten. Die Debatte um die | |
Suizidbeihilfe, und das ist das eigentlich verstörende Ergebnis vom | |
Freitag, sie könnte nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer Gesellschaft | |
der zunehmend Bevormundeten sein. | |
6 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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