| # taz.de -- Wer hat die Macht im ESC?: Jonglieren für Europa | |
| > Der Niederländer Sietse Bakker ist Event Supervisor beim Eurovision Song | |
| > Contest. Seine Arbeit unterliegt bis auf Weiteres keiner Kontrolle. | |
| Bild: Der Schwede Mans Zelmerloew gewinnt den Eurovision Song Contest und holt … | |
| Is this Switzerland’s next FIFA scandal?“, schrieb neulich das Genfer | |
| Onlinemagazin le News, Schwedens Aftonbladet im Mai: Was läuft da schief | |
| beim Eurovision Song Contest? Damals ging es um einen Mitarbeiter der | |
| Medienabteilung des ESC, Jarmo Siim, der in einem privaten Chat über den | |
| späteren schwedischen Sieger Lästerliches schrieb. | |
| Als das dann doch an die eurovisionäre Öffentlichkeit kam, gab es empörte | |
| Reaktionen: Darf sich ein Mitarbeiter der European Broadcasting Union, des | |
| TV- und Radionetzwerks der öffentlich-rechtlichen Sender mit Sitz in Genf, | |
| so antineutral äußern? | |
| Nein. Nur: Für Siim, den Mann aus Estland, fühlte sich die EBU nicht | |
| zuständig. Er sei kein Angehöriger der Europäischen Rundfunkunion (EBU) und | |
| auch nicht von deren Abteilung, die den Eurovision Song Contest Jahr für | |
| Jahr managt. | |
| Ein Rätsel: Ein Mann, der beim ESC für die offizielle [1][EBU-Website | |
| eurovision.tv] schreibt und andere Autoren auch betreut – nicht auf der | |
| Payroll der EBU? Also auch nicht den Ethikrichtlinien, den Complianceregeln | |
| des Netzwerks unterworfen? | |
| ## Einer, der querschießt | |
| Nein, das war er nicht, und das macht die Chose, um die es in Genf und | |
| anderswo geht, momentan so anrüchig. Tatsächlich liegen wesentliche Teile | |
| der Operationalisierung des – womöglich auch global – größten Showprojek… | |
| öffentlich-rechtlicher Sender in den Händen einer privaten Firma: WOW!works | |
| mit Sitz in Amsterdam. | |
| Dahinter steckt vor allem der Niederländer Sietse Bakker. Er ist faktisch | |
| der engste Mitarbeiter von Jon Ola Sand, Geschäftsführendem Direktor des | |
| ESC bei der EBU. Der Norweger kam 2010 zu diesem Job, er war ein gutes Jahr | |
| zuvor für den ESC in Oslo als Angestellter des Senders NRK zuständig, er | |
| hatte einen ziemlich guten Job gemacht. | |
| Als Sand im Herbst 2011 in Genf sein Büro bezog, fand er an personeller | |
| Kompetenz vor – so gut wie nichts. Die alten Mitarbeiter hatten ihr Wissen | |
| mitgenommen. Die Lösung lag nahe: Sietse Bakker hatte, was Sand begehrte: | |
| Durchblick – und das Vermögen, mit Menschen aus bis zu 46 Ländern gut | |
| auszukommen. Ein Europäer sondergleichen, immer über den eigenen nationalen | |
| Tellerrand hinausblickend. | |
| ## Ein merkantiles Juwel | |
| Bakker hatte vor 15 Jahren die Website [2][www.esctoday.com] begründet, ein | |
| englischsprachiges Nachrichtenforum für alles, was es das ganze Jahr über | |
| den ESC zu vermelden gibt. Und Bakker kannte das Prozedere eines ESC | |
| intern. Wie man das Mediengeschäft dirigiert, wie eine Website aufzubauen | |
| ist, wie die Sicherheitsfragen zu organisieren sind, wie man mit den so | |
| unterschiedlichen Empfindsamkeiten von ESC-Künstlerdelegationen umgeht – | |
| und, nicht das Unwichtigste, wie das schwierige Geschäft des Merchandising | |
| anzukurbeln sein könnte. | |
| Er wusste Antworten auf die Frage aller eurovisionären TV-Verantwortlichen: | |
| Wie macht man aus einer Show, die seit 1956 Europa bis an dessen letzte | |
| Ränder einmal im Jahr verbindet, ein merkantiles Juwel, auf dass die Kosten | |
| des Projekts dessen Realisierung nicht verunmöglichen? | |
| Die Budgets werden traditionell zur Hälfte vom Gastgeber – fast immer dem | |
| Land, das im Vorjahr gewann – aufgebracht, die andere kommt aus Gebühren | |
| der teilnehmenden Länder zustande. Die Show in den einzelnen Ländern zu | |
| promoten, gelingt immer dann besonders schlecht, wenn die Künstler*innen | |
| dieser Länder jeweils schlecht abschnitten – was die Quoten senkt. | |
| Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien zahlen am | |
| meisten in den Umlagetopf – aber selbst sehr geringe Gebühren sind für | |
| ökonomisch schwache Länder wie Bulgarien, Mazedonien oder Serbien nur | |
| schwer aufzubringen. | |
| ## Undurchsichtige Geschichten | |
| Es muss also jongliert werden – wie auch in der EU momentan bei der | |
| Flüchtlingsfrage: Was gehen mich die Sorgen der anderen an, wenn sie mich | |
| als Land gerade nicht betreffen? Jon Ola Sand und Sietse Bakker haben, so | |
| gesehen, einen ziemlich guten Job gemacht. Letzter Fall: Wie überzeugt man | |
| die Türkei, wieder dabei zu sein und nicht „Verschwörung“ zu kreischen, | |
| wenn das Lied dieses Landes nicht vorne liegt oder gar – Kulturschande in | |
| den Augen von Islamisten – eine wie Conchita Wurst mitmacht? | |
| Das Problem ist nur: Sietse Bakker untersteht nicht dem „Code of Ethics“ – | |
| ist aber zugleich Event Supervisor des ESC seit einigen Jahren. Viele | |
| Geschichten, die er zu verantworten hat, sind undurchsichtig. Seit Jahren | |
| vermarktet die EBU über YouTube alle Eurovisions-Lieder – wer erhält die | |
| Erlöse? | |
| Um wie viele Millionen Euro geht es? Jon Ola Sand sagt: „Das sind marginale | |
| Summen.“ Aber genaue Zahlen möchte er im Sinne der Verschwiegenheitsklausel | |
| nicht nennen. Wie dem auch sei: Weshalb treten Komponisten und Texter | |
| Tantiemen an die EBU ab, wenn sie – was sie müssen – die Rechte an YouTube | |
| abtreten? | |
| Mehr noch: Weshalb konnte ein altmodisches ESC-Jubiläumsgala-Konzept im | |
| März, einige Wochen vor dem offiziellen ESC in Wien, in London ins Werk | |
| gesetzt werden – und warum verlor ein modernes Konzept, das nicht auf | |
| Oldtimer und Old Style, also kaum auf Pop setzte? Aus welchen Gründen hat | |
| Sietse Bakkers Firma den Promotionauftrag für dieses Event erhalten? | |
| ## Es bleibt alles, wie es ist | |
| Wie ist es zu erklären, dass die Arbeit der Website eurovision.tv | |
| überwiegend von unbezahlten Volunteers bestritten wird? Welche Gründe | |
| sprachen dafür, den Lenkungsausschuss des ESC, der von Vertretern der | |
| ESC-Länder gewählt wird (momentan ohne ARD-Vertreter*in), nicht über die | |
| genauen Zahlen und Vertragswerke zu informieren? Schließlich: Sietse Bakker | |
| ist bei allen entscheidenden ESC-Sitzungen dabei – was war der Grund? | |
| Jon Ola Sand sagt lapidar – durchaus nicht unglaubwürdig: „Wir müssen mit | |
| Vertrauen zusammenarbeiten. Mit Misstrauen geht es nicht.“ Ein allzu wahrer | |
| Satz, der vielleicht für Familien gilt, aber nicht fürs Geschäftsleben. | |
| WOW!works erhielt, soweit man es durchblicken kann, alle Tätigkeitsbereiche | |
| ohne öffentliche Ausschreibung. Die wäre in der Schweiz nicht nötig, aber: | |
| Sitte in der EU ist es schon. | |
| Inzwischen hat Sietse Bakker erklärt, Event Supervisor nur noch bis zum | |
| Ende des nächstjährigen ESC zu sein. Eine offene Ausschreibung ist von der | |
| EBU formuliert worden. Jede IT-Firma, jede Marketingklitsche kann sich nun | |
| bewerben. Der Veranstaltungskoordinator, der Sietse Bakker bis zum | |
| Stockholmer ESC-Finale noch ist, soll künftig EBU-intern besetzt werden. | |
| Bakker erklärte, er werde sich für die neuen Aufträge ins Rennen begeben. | |
| Mit einer neuen Firma, heißt es. | |
| Experten sagen, so billig wie bislang – 400.000 Euro pro Jahr – gebe es die | |
| Dienstleistungen nicht. Momentan ist es so: Niemand kennt die extrem | |
| anspruchsvolle Kommunikation mit bis fast vier Dutzend Ländern so wie | |
| Sietse Bakker – gut möglich, dass er zum ESC 2017 wieder da ist. Jon Ola | |
| Sand sagt: „Hätten wir keine Volunteers, würden wir den ESC teurer denn je | |
| gestalten.“ Das heißt wohl: Je lohngerechter und honorarsatter es wird, | |
| desto weniger Länder können es sich leisten, das Programm zu halten. | |
| Mitarbeit: Jürgen Werwinski | |
| Jan Feddersen, Autor von Büchern zum ESC, schreibt regelmäßig für die | |
| Webseite des NDR: [3][www.eurovision.de] | |
| 18 Nov 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.eurovision.tv/page/timeline | |
| [2] http://www.esctoday.com/ | |
| [3] http://www.eurovision.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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