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# taz.de -- Fotografie: Mystik des Zerfalls
> Miron Zownirs beeindruckende Studien des ukrainischen Zusammenbruchs
> führen sein legendäres Werk konsequent und klug weiter.
Bild: Tragische Touristenfalle: Paulchen Panther auf dem Maidan
BREMEN taz | Miron Zownirs Nominierung für den diesjährigen Lead Award ist
der vorläufige Höhepunkt seines späten zweiten Erfolgs. Erst kam im
vergangenen Jahr die Neuveröffentlichung seiner Berlin-Reportage im Zoo
Magazine. Dann ist auch eine Neuauflage seiner Fotos der „Fuck Piers“ in
New York auf dem Weg, wo sich Anfang der 80er-Jahre die Schwulenszene zum
Ficken getroffen hat. Dass Zownir den Preis nun tatsächlich bekommt und am
29. Oktober in Hamburg zum „Visual Leader“ gekürt wird, daran glaubt er
selbst nicht. Und er klingt, als sei es ihm im Grunde auch recht egal.
Das Gemisch aus Szeneleben, Schmutz und Pornografie prägt Zownirs Arbeiten,
der 1953 in Karlsruhe geboren ist und seit den 80ern als Autor, Filmemacher
und Fotograf arbeitet, seit jeher. Sein heute vergriffener Bildband
„Radical Eye“ über den moralischen Verfall der Gesellschaft, fotografiert
in Berlin, New York und der ehemaligen Sowjetunion, hat ihm einigen Ruhm in
der Indie-Szene eingebracht – und andere nachhaltig verstört. „Bitte von
Kindern fernhalten“ steht auf dem Einband. Die sittlichen und moralischen
Werte der BetrachterInnen seien in Gefahr.
Im Norden ist er derzeit gleich zweimal zu sehen. Bis zum Wochenende läuft
seine neue Ausstellung in der linken Polit-Galerie K‘ – am Hinterhof des
Bremer Viertels. Und als Kandidat für den „Visual Leader“ ist er auf der
Nominierten-Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen, mit
40.000 BesucherInnen eine der größten Fotoschauen Europas. Nach Bekunden
der VeranstalterInnen geht es um das Beste vom Besten aus Reportage,
Porträt, Zeitung und Werbung.
Schräg gegenüber von Zownirs Arbeiten hängt dort eine Reportage von Andrew
Lubimov: Hooligans in der Ukraine. Zerschundene Gesichter, von denen
frisches Blut und Tränen tropfen. Lubimov ist nah dran, steht erst mitten
im Geprügel und zeigt anschließend noch die lädierten Schläger, wie sie im
Bus schlafen. Die beeindruckenden Bilder aus unangenehmer Nähe sind ein
Publikumsmagnet der Ausstellung.
Natürlich sind die Exponate ausgesprochen sehenswert. Sie wurden ja auch
längst prominent veröffentlicht. In der Süddeutschen Zeitung, im Zeit
Magazin oder wie Lubimovs Hooligans in der für radikal subjektive
Reportagen berüchtigten Vice.
Die Jury der Lead Awards um den Journalisten Markus Peichl, der vor allem
durch die Gründung des Magazins Tempo bekannt wurde, nominiert seit 1993,
was im vergangenen Jahr so richtig geknallt hat – ganz egal wie. So bekommt
der Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl gleich zwei Auftritte in der diesjährigen
Ausstellung. Einmal auf Andreas Mühes in der Bild-Zeitung erschienenem
Porträt: Kohl im Rollstuhl vor dem Brandenburger Tor, durch das ihm grelles
Licht entgegen strahlt. Mensch und Architektur sind gleichermaßen
monumental in Szene gesetzt. Der ewige Kanzler vor dem offenen
Grenzübergang – seinem vermeintlichen Lebenswerk.
Nur wenige Schritte entfernt ist der selbe Mensch gebrochen und zerzaust
auf dem Titel der Dezember-Ausgabe des Satiremagazins Titanic zu sehen:
„Traumjob Sterbehelfer“, heißt es da. Kohls Gedankenblase meint seine
zweite Ehefrau Maike Kohl-Richter: „Hehe, die Alte mach ich Hannelore“ –
nominiert als Cover des Jahres.
Nun ließe sich das als Meinungspluralismus missverstehen, wie er einem
Medienpreis in der Tat gut anstünde. Doch die Ausstellung lässt keinen
Unterschied erkennen zur ausdrücklich gewollten inhaltlichen Beliebigkeit
der ebenfalls nominierten „Fotografiert mit dem iPhone 6“-Kampagne.
Und irgendwo dazwischen dann eben auch Miron Zownirs Reportage „Berlin
Noir“. Die Fotos sind im vergangenen Jahr im Zoo Magazine erschienen, sind
aber bereits 35 Jahre alt. Sie zeigen Westberlin vor dem Mauerfall als
schattenhafte Alptraumwelt: Ein Kruzifix ragt aus den Trümmern einer
zerstörten Kirche. Eine Frau im punkigem Grufti-Chic mit überzeichnetem
Makeup blickt beim Sex auf dem Kneipen-Klo in Zownirs Kamera, der sich wohl
über die Trennwand beugt, wie die Perspektive annehmen lässt. Der
notorische Außenseiter und fotografische Autodidakt Zownir ist immer
irgendwie verstrickt in das oft elende Geschehen, das er dokumentiert.
Obwohl Zownirs Kunstwelt unübersehbare mystische Züge hat, ist sein Werk
immer auch als politische Aufklärung verstanden worden. Spätestens seit
Zownir nach dem Mauerfall nach Moskau geschickt wurde und dort seinen
Auftrag ignorierte, das neue urbane Nachtleben zu porträtieren. Stattdessen
hat er die Leichen der Umbruchsverlierer fotografiert, die nach dem Ende
der Sowjetunion buchstäblich auf der Straße herum lagen. Manche hat Zownir
mehrfach besucht und ihren Verfall dokumentiert. Trotz der ästhetisierenden
Düsternis: Überhaupt dagewesen zu sein und als einer von sehr wenigen auch
hingesehen zu haben, ist sein Verdienst.
Zownirs Ausstellung in Bremen fokussiert diesen politischen Zownir. Kurz
vor der Revolution hat er die Ukraine bereist und den politischen und
gesellschaftlichen Zusammenbruch des Landes dokumentiert. Auch eine
Leichenhalle mit Blut an der gekachelten Wand. Die Toten liegen kaum
zugedeckt auf dem Boden.
Sowas wirkt. Nachdrücklicher aber sind Zownirs Aufnahmen der gerade noch
Lebenden. In einem finsteren Kellerloch in Odessa hat er Jugendliche im
Müll besucht. Völlig verarmt und von Billigdrogen zerfressen lässt er sie
sich selbst inszenieren und der Gangsterpose ein bisschen Würde abringen.
Oder die anonyme Gestalt im Pink-Panther-Kostüm, die etwas Kleingeld damit
verdienen wollte, für Fotos mit Touristen zu posieren. Heute steht sie auf
dem verlassenen Maidan vor Müllbergen und Barrikaden. Ganz allein, weil es
keine Touristen mehr gibt.
Zownir, der früher selbst im Milieu mitmischte, wirkt heute distanzierter
und nachdenklicher. Seine Ukraine-Reise führte ihn auch auf die Spuren
seines Vaters, der aus der Ukraine stammt und sich auf der Flucht vor
Stalin der Wehrmacht anschloss. Der kürzlich bei Spector Books erschienene
Bildband „Ukrainian Night“ dokumentiert die neue Nachdenklichkeit.
Zownirs Berlin-Bildern in den Deichtorhallen hingegen ist längst etwas
verlorengegangen. Ihre Leistung war es gerade, das Gegenwärtige als
jenseitige Alptraumwelt zu zeichnen. Die nominierte Serie hat in der
Retrospektive etwas Anheimelndes, fast Kitschiges. Sie geht nur zu leicht
auf in Berliner Kiez-Folklore. Und das obwohl Zownir gerade von dieser Zeit
als extremer Selbstzerstörung spricht.
6 Oct 2015
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Fotografie
Ausstellung
Ukraine
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Ausstellung „Fokus: Ukraine“: Als die Mauern noch standen
Zwischen 2012 und 2014 dokumentierte der Fotograf Miron Zownir das Leben in
der Ukraine. Nun sind einige der Bilder in der Bremer Weserburg zu sehen.
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