| # taz.de -- Sigismund Oheim über die Psychiatrie: Und im Radio lief der Golden… | |
| > Sigismund Oheim aus Neumünster, seit 30 Jahren psychiatrieerfahren, | |
| > erzählt, wie sich das Psychiatriesystem entwickelt und er in ihm. | |
| Bild: Leitet heute Selbshilfegruppen und die Zeitschrift „Brückenbote“: Si… | |
| Die Drogen habe ich aus Neugier probiert – gespritzt habe ich nie, aber | |
| gekifft, getrunken, gespielt. Insgesamt 30 Jahre lang war ich suchtkrank. | |
| Die Psychose kam dazu, ausgelöst durch die „Magic Mushrooms“, psychoaktive | |
| Pilze. | |
| Ich aß einen Bissen und sah im Spiegel, wie ich zum Werwolf wurde: Mir | |
| wuchsen Reißzähne, Fell spross aus meinem Gesicht, ich bekam lange | |
| Fingernägel. Ich fiel erschrocken auf mein Bett und wurde in ein Foto | |
| hineingezogen, das dort lag. Im nächsten Moment schleuderte das Bild mich | |
| wieder hinaus in den Sessel, der auf einmal mit mir redete. Am nächsten Tag | |
| war es ganz heftig: Die Muster auf dem Teppich flossen durcheinander, und | |
| auf der Straße knurrten mich alle Hunde an. Also tat ich viele Sachen, die | |
| man nicht tut: Ich zog die Schuhe aus und streifte mir Plastiktüten über | |
| die Füße. In der Stadt habe ich Torte gekauft und Passanten beworfen. In | |
| Kiel war ich bei Hippie-Kumpeln von mir, die in besetzten Häusern lebten, | |
| aber die schmissen mich raus. Ich landete am Hafen bei den Zuhältern, | |
| geriet in eine Prügelei. | |
| Irgendwann schrieb ich mit Edding an die Wände „Only the Fool is very | |
| cool“, da tauchte ein Polizist auf. Ich nannte ihn Volksschüler und | |
| erklärte ihm, dass ich von überall komme, also von über dem All. Naja, das | |
| gab einen Freiflug nach Heiligenhafen, der zentralen Psychiatrie für das | |
| südliche Schleswig-Holstein. Das Radio im Krankenwagen spielte das Lied vom | |
| Goldenen Reiter. | |
| Das war nicht mein erster Aufenthalt in einer Geschlossenen – der erste war | |
| 1976 gewesen. Damals ging ich in ein städtisches Krankenhaus, weil ich | |
| pleite war und schlechte Gedanken hatte. Die sagten, sie könnten mir nicht | |
| helfen und setzen mich in ein Taxi nach Heiligenhafen. Dort kam ich das | |
| erste Mal mit Psychopharmaka in Kontakt: Sie gaben mir die höchste | |
| Dröhnung, mit allen Nebenwirkungen und Schmerzen. Da habe ich auch | |
| begriffen, wie reglementiert, wie militärisch dieses System ist. | |
| In Heiligenhafen war es extrem hart. Ich war vollgedröhnt bis zum | |
| Gehtnichtmehr mit Sachen, die ich heute auf keinen Fall mehr nehmen würde. | |
| Zweimal bin ich abgehauen, aber die Polizei brachte mich zurück. In den | |
| folgenden Jahren, von 1983 bis 91, bin ich immer wieder in Heiligenhafen | |
| eingefahren, später auch ins Fachkrankenhaus in Rickling. Das war die Hölle | |
| – ich wurde fixiert, bekam sogar Schläge, und Medikamente sowieso. | |
| Es kam dann eine Phase, in der es etwas besser wurde, aber meine Chance kam | |
| 2001: Eine Sozialarbeiterin im Krankenhaus Hahnknüll riet mir, in eine WG | |
| in Kiel für Leute mit Doppeldiagnosen – Sucht und psychische Krankheit – zu | |
| gehen. Ich hatte dort nur einen Rückfall, ich habe gekifft und musste | |
| danach zum Entzug in die Klinik. Danach habe ich eine Zeitlang auch nicht | |
| mehr getrunken. Inzwischen habe ich aufgehört mit den Drogen und aufgehört | |
| zu spielen. Ich trinke hin und wieder, aber kontrolliert. | |
| Bereits im Jahr 2000 hatte ich ein WG-Zimmer in einer Wohnung der Brücke | |
| Neumünster – da war ich noch total auf Droge, und unsere Wohnung war ein | |
| Drogenumschlagsplatz. Entsprechend skeptisch waren die, als ich mich 2004 | |
| wieder meldete, aber ich bekam einen Platz in einer WG, danach ein | |
| Einzelappartement. Inzwischen habe ich seit acht Jahren eine eigene | |
| Wohnung, zahle meine Rechnungen, habe hier alles im Griff. Sogar zum | |
| Glauben habe ich wieder gefunden, dank meiner Freundin, die sich in einer | |
| Gemeinde engagiert. | |
| Meine Tage sind voll ausgefüllt – ich habe etwa 28 Ämter. Mal sehen, ob ich | |
| alles zusammenkriege: Ich leite eine Theatergruppe, bin Klientensprecher, | |
| sitze im Beirat der Begegnungsstätten, leite Selbsthilfegruppen für Sucht, | |
| Depression und Psychose, gehe als Streetworker zu den Trinkern, gehe als | |
| Besuchsdienst in geschlossene Psychiatrien, halte Vorträge, lese aus meinen | |
| eigenen Werken und betreue die Zeitschrift „Brückenbote“ als Chefredakteur. | |
| Ach so, bei Amnesty bin ich auch. Die meisten dieser Tätigkeiten sind | |
| ehrenamtlich, aber für einiges erhalte ich Entschädigungen oder kleine | |
| Honorare. | |
| Ich habe nicht viel Geld, aber ich bin reich. Ich rede offen über mein | |
| Leben, auch die Trinker- und Drogengeschichten – mir selbst hilft es, nicht | |
| rückfällig zu werden, und ich kann damit hoffentlich anderen helfen. | |
| Das System Psychiatrie, in dem ich mich schon so lange bewege, hat sich | |
| gewandelt. Es ist einiges besser geworden – durch die Einbeziehung und | |
| Mitbestimmung der Erfahrenen, durch Patientenvollmachten. Aber einiges | |
| bewegt sich auch schon wieder abwärts. Vor einigen Jahren galt, erst eine | |
| kleine Dosis Psychopharmaka zu geben und langsam zu steigern. Heute ist es | |
| üblich, gleich mit einer vollen Dröhnung anzufangen und bei einem Schub zu | |
| steigern. Das macht die Leute nur kränker und spart kein bisschen: Sie | |
| werden vielleicht schnell entlassen, kommen aber auch schnell wieder rein. | |
| Und ich sehe, etwa im Besuchsdienst, dass heute ganz andere Leute in der | |
| Psychiatrie arbeiten. In der Pflege sind viele aus den östlichen Teilen | |
| Europas, lange Gespräche sind da rein sprachlich schwierig. Hat ja auch | |
| keiner mehr Zeit dafür. Mein Wunsch wäre: Mehr Personal, weniger | |
| Medikamente. Warum nicht pflanzliche Mittel oder Gesprächstherapie? Und, | |
| ganz wichtig, die Vorurteile sollten abgebaut werden – in der Psychiatrie | |
| seien ja nur Bescheuerte. Die Gesellschaft tut sich immer noch schwer, mit | |
| Menschen jenseits der Norm klarzukommen, dabei wäre das echte Inklusion: | |
| Wenn kein Betreuer dabei sein muss, damit Inklusion passiert. | |
| Wie mein Leben ohne die Krankheit wäre? Langweilig! Seit meinem letzten | |
| psychotischen Schub kann ich ununterbrochen in Reimen denken. Heinz Erhardt | |
| und Heinrich Heine konnten das ebenfalls, ich bin da also in guter | |
| Gesellschaft. Ich trete mit meinen Gedichten bei Poetryslams auf – getreu | |
| meinem Motto: Ist das Leben dir zu öde, werde doch ein bisschen blöde. | |
| 3 Oct 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Geißlinger | |
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