# taz.de -- James Camerons "Avatar": Drogentrip mit Pixelromantik | |
> James Cameron hat den ersten großen All-in-One-Film für ein Jahrzehnt | |
> gedreht. "Avatar" ist Fantasy und Western, Wunderwerk und B-Movie, | |
> moralisches Statement und visueller Trip. | |
Bild: Neytiri (Zoe Saldana) ist die moderne Version des Indianermädchens Pocah… | |
Er hat es wieder getan! James Cameron, der sich mit großem Geschick in die | |
zwei offenen Erzählungen der filmischen Science Fiction noir, "Alien" und | |
"Terminator", einschrieb, gelang mit "Titanic" der große Metafilm der | |
Neunzigerjahre. Melodram und Katastrophenfilm, Gründungsmythos und | |
Sozialmetapher, Romantik und Ernüchterung: Es war nicht "die große | |
amerikanische Erzählung", aber verdammt nah dran. "Avatar" ist eine | |
vielleicht noch kühnere Mischung: Fantasy und Western, Science Fiction und | |
Kriegsfilm, moralisches Statement und visueller Trip (eine | |
Parallelschöpfung auf Magic Mushrooms), History Lesson und Kinderkram, | |
technisch-ästhetisches Wunderwerk und das teuerste B-Movie aller Zeiten. | |
Wenn man "Avatar" gesehen hat, hat man alles gesehen, was das populäre Kino | |
derzeit können will und wollen kann. | |
Damit dieser Film seinen Reichtum entfalten kann, muss der Plot sehr | |
einfach sein. Wir sind im Jahr 2154. Die Menschen haben einen Planeten | |
namens Pandora befallen, dessen Rohstoffe sie in gewohnter Manier ausbeuten | |
wollen. Dummerweise gibt es auf Pandora aber noch "humanoide" Wesen, die | |
Navi. Die Wissenschaftlerin Dr. Grace Augustine (Sigourney Weaver) hat ein | |
Projekt entwickelt, mit dem man die Lebensweise der "Eingeborenen" | |
studieren kann. Dazu übernehmen Menschen einen genetisch manipulierten | |
Navikörper mittels einer telepathischen Technologie. Ein menschlicher | |
"Pilot" in einer Traumkapsel blickt durch die Augen des Navi-Avatars und | |
schlüpft in dessen Körper. In ihrer normalen Gestalt können die Menschen | |
auf den gewaltigen Lebensbäumen von Pandora nicht überleben. | |
Für diese Operation wird der von der Hüfte abwärts gelähmte Jake Sully (Sam | |
Worthington) ausgewählt. Und so gelangt er in der Gestalt des Avatars in | |
den Wunderwald, voller seltsamer Schöpfungen, Gefahren und Suggestionen. | |
Gerettet aus höchster Not wird er von einer schönen Navi-Frau namens | |
Neytiri (Zoe Saldana), die Jake Sully gegen den Zorn ihres Volks beschützt | |
und die Aufgabe erhält, ihn in die Lebens- und Denkweise von Pandora | |
einzuführen. Doch während Sully immer mehr Geschmack an dem natürlichen, | |
respektvollen und magischen Leben findet, stellt sich heraus, dass sein | |
Projekt in Wahrheit nur ein militärisches Ziel hatte: die Vertreibung der | |
Navis aus ihrem natürlichen Lebensraum (eben jenes gewaltigen Baums), ihre | |
Vernichtung mit eingeschlossen. Da können Sully und seine wenigen Getreuen | |
nicht anders, als die Seiten zu wechseln und das Volk der Navi in den | |
Befreiungskrieg zu führen. Am Ende muss der Zweikampf mit dem Anführer der | |
militaristischen Schweinerei die Entscheidung zwischen Gut und Böse | |
herbeiführen. | |
All in One, wie gesagt. In "Avatar" ist immer was los, und wenn gerade | |
nichts los ist, gibt es was zu staunen. Wenn weder was los ist noch etwas | |
zu staunen geboten wird, dann wird der Film nachdenklich und erlaubt sich | |
mythische Tiefen und heftige Kritik: Das Militär ist ein tödlich ignoranter | |
Apparat, der seit Vietnam nichts gelernt hat, außer sich noch perfider der | |
Führung durch Politik und Moral zu entziehen. Auch begegnen wir dem | |
"Narbengesicht", dem großen amerikanischen Bösewicht von Ahab bis Capone. | |
Schrecklich ist der Mörderapparat, den das Militär gegen die Kultur von | |
Pandora in Anschlag bringt, schrecklich der ewige Kampf der verletzten | |
Männer der amerikanischen Erzählung. Schrecklicher aber ist der dumme | |
Gehorsam, der Machokult, dem sich Soldatinnen wie Soldaten so gern | |
unterwerfen, die Faszination der Vernichtungstechnologie, die | |
Skrupellosigkeit des Neoliberalismus: Cameron ist vielleicht naiv, aber | |
entschlossen in seiner Kritik. | |
Mythos 1: Pandora, der Planet, der Traumleib der "ersten Frau". Ihre | |
Verführungskraft ist ein Werkzeug von Zeus, der sie als Rache für den Raub | |
des Feuers durch Prometheus einsetzt (also für Menschwerdung und | |
Kapitalismus). Und sie, die "Allbeschenkte", besitzt auch in der Tat alle | |
Gaben, die Schönheit, die Poesie, die Musik, sogar die Neugier. Pandora | |
öffnet das Fass mit dem Vorrat, den Zeus ihr mitgegeben hat. Und diese | |
"Büchse der Pandora" verwandelt die Gaben in Plagen. Kurz bevor auch die | |
letzte Gabe entweicht, die Hoffnung, wird das Fass wieder geschlossen. Die | |
Welt also ist ein trostloser Ort, bis Pandora noch einmal ihre Büchse | |
öffnet und auch die Hoffnung wieder in die Welt kommen kann. Aber das | |
Goldene Zeitalter ist vorbei, nun müssen die Menschen mit der Arbeit, der | |
Krankheit und dem Tod leben. Das ist die Geschichte, die noch die biblische | |
Vorstellung von der Vertreibung aus dem Paradies grundiert. "Avatar" | |
erzählt sie erstaunlich genau. Vor allem der Part, in dem die Hoffnung | |
verloren scheint, geht zu Herzen, doch, das tut er. Sogar Grace, sogar die | |
Gnade, musste sterben. | |
Mythos 2: Captain Smith, der im Dienste der Kolonisatoren unterwegs ist, | |
soll getötet werden. Da wirft sich die schöne Pocahontas vor ihren Vater, | |
sie rettet ihn, sie lehrt ihn. Ein Fieber ist das, wie wir vom Rock n Roll | |
her wissen. Aber die weitere Geschichte von Captain Smith und Pocahontas | |
verliert sich zwischen den Fronten und den Kontinenten; es ist ein Mythos, | |
der stark beginnt und kein Ende findet, wie auch? "Avatar" erzählt ihn zu | |
Ende: Pandora vernichtet die Kolonisatoren. Und Captain Smith alias Sully? | |
Vielleicht vergisst er seine Herkunft, die allein ihn doch befähigte, die | |
Natives zum Widerstand zu führen. Vielleicht aber bleibt er dann einsam, | |
wie Wildtöter, der romantische Fremdling im Paradies. | |
Psychedelia 1: "Avatar" ist ein ständiges Wechseln zwischen einer Real- und | |
einer Traumebene, und am entscheidenden Plot Point erkennt unser Held, dass | |
sich die Verhältnisse umgekehrt haben: Vom Traum her sieht ihm nun das | |
wirkliche Leben irreal an (ziemlich unerträglich war es schon vorher). Denn | |
genauso gut könnte die Reise nach Pandora der Drogentrip eines kranken | |
Mannes sein. Und dieser Trick ist einer der ästhetischen Glücksfälle von | |
Camerons Film. Der Übergang von der äußeren Wirklichkeit in die Welt des | |
CGI-Wunderlandes hat seine Logik, erzeugt den Sog, dem man sich | |
bereitwillig überlässt. Wenn man vorweg nur Bilder und Ausschnitte von | |
"Avatar" gesehen hat, konnte man argwöhnen, es handele sich um die | |
"übliche" digital aufgebretzelte Fantasy, doch Cameron erklärt sie ganz | |
anders, als Rücksturz in den Mythos, in magisches Kinderdenken, in wildes | |
Träumen, Naturschwärmerei anhand der künstlichsten aller Bilder: | |
Pixelromantik. | |
Psychedelia 2: Und der 3-D-Effekt? Es ist wohl so, dass es in Filmen wie | |
"Avatar" nicht darum geht, "räumlich zu sehen". Wozu auch? Das haben wir | |
doch in der normalen Wirklichkeit. Nein, es geht wohl vielmehr darum, den | |
Raum zu sehen. Im schlechteren Fall sieht das aus wie ein cineastisches | |
Pop-up-Buch: Räumlich gestaffelte 2-D-Bilder (die paradoxerweise die | |
Zweidimensionalität der Bildelemente nur umso deutlicher machen). Im | |
normalen Fall: Effekte der "Coming At You"-Art. Ganz mag auch Cameron nicht | |
darauf verzichten. Im besten Fall aber, und davon gibt es in Camerons Film | |
reichlich, bekommt Räumlichkeit eine eigene Poesie. Am schönsten ist das | |
nicht so sehr bei den spektakulären Dingen, sondern beim Kleinen, bei | |
Wassertropfen, beim Funkenflug, bei der Bewegung kleiner, zarter Medusen | |
durch die giftig-schöne Atmosphäre von Pandora. | |
Ob das Konzept des "Zwiebelfilms" - Häutung um Häutung vom Popcornkino über | |
das message picture zum Philosophieseminar - so recht aufgeht, ist schwer | |
zu sagen. Die Popmythologie des All-in-One-Films ist ein wunderbarer | |
semiologischer Selbstbedienungsladen. Und "Avatar" ein | |
ikonografisch-mythisches Großprojekt, der erste Metafilm des neuen | |
Jahrhunderts. Über die drei Jahre der direkten Vorbereitung gibt ein üppig | |
bebildertes Buch von Lisa Fitzpatrick (Knesebeck Verlag) Auskunft. In | |
dessen Nachwort warnt James Cameron, nicht ganz zu Unrecht, vor seiner | |
Schöpfung Pandora: "Eine Welt, die wir auf eigene Gefahr betreten, da wir | |
sie vielleicht nicht wieder verlassen wollen." | |
16 Dec 2009 | |
## AUTOREN | |
Georg Seesslen | |
## TAGS | |
Psychiatrie | |
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