# taz.de -- Weitspringer mit Prothese: Markus Rehm ist zu gut | |
> Bei den Deutschen Meisterschaften werden Markus Rehms Sprünge wieder | |
> gesondert gewertet. Und er darf noch immer nicht zu Olympia. | |
Bild: 26. Juli 2014: Markus Rehm wird Deutscher Weitsprungmeister im Ulmer Dona… | |
Als Markus Rehm bei den Deutschen Meisterschaften in Ulm aus der Kuhle | |
hüpft, sich den Sand abschüttelt und zur Anzeige blickt, muss er gleich | |
noch mal hinsehen. Er wusste, acht Meter sind drin, wenn es gut läuft. | |
Dafür hatte er trainiert. Vor der Arbeit, nach der Arbeit, am Wochenende. | |
Aber 8,24 Meter? Deutscher Meister im Weitsprung? | |
Der 26-Jährige mit den eisblauen Augen lächelt, wenn er davon erzählt. Er | |
lächelt sowieso fast immer, wie Animateure im Club-Urlaub, nur nicht so | |
aufdringlich. Sein Titelgewinn im Sommer 2014 war eine Sensation. Rehm | |
wurde bejubelt, bestaunt, saß noch am selben Abend im Sportstudio. Doch | |
andere Athleten waren verärgert. Er habe einen Vorteil, sagten sie. Weil er | |
beim Springen eine Carbonprothese trägt. Dort, wo mal sein rechter | |
Unterschenkel war. | |
Der Verband änderte nach den Deutschen Meisterschaften das Reglement. | |
Sportler mit Handicap dürfen nur noch in getrennter Wertung an Wettkämpfen | |
Nichtbehinderter teilnehmen. So kann Rehm am Wochenende bei den Deutschen | |
Meisterschaften, die mit dem Weitsprungwettbewerb am Freitag auf dem | |
Hauptmarkt von Nürnberg eröffnet werden, seinen Titel nicht verteidigen, | |
egal wie weit er springt. Er wird trotzdem wieder an den Start gehen. | |
Die entscheidende Frage wurde indes noch gar nicht geklärt: Ist die | |
Prothese überhaupt ein Vorteil? Keine wissenschaftliche Studie belegt das. | |
Der DLV hatte eine derartige Untersuchung in Aussicht gestellt. „Dass es in | |
diesem Jahr eine Lösung gibt, ist unwahrscheinlich“, sagt Gerhard Janetzky, | |
Inklusionsbeauftragter des DLV. Derzeit prüft der Verband die Anforderungen | |
einer Studie. | |
## Spitzensportler und Orthopädietechniker | |
Der 10. August 2003 hat Rehms Leben verändert. Er ist 14 und hängt am | |
Motorboot seines Vaters. Auf dem Main bei Würzburg fahren sie Wakeboard. | |
Nach einem Sprung muss Rehm die Leine loslassen und stürzt ins Wasser. Als | |
er auftaucht, sieht er ein Boot, das auf ihn zufährt. Der Kapitän bemerkt | |
ihn nicht. Rehm versucht auszuweichen. Doch die Schiffsschraube erfasst | |
seine Beine, zertrümmert sie. Tagelang versuchen die Ärzte, sie zu retten. | |
Den rechten Unterschenkel müssen sie wegen einer Blutvergiftung amputieren. | |
Rehm war gezwungen, sich mit Prothesen zu beschäftigen. Und er war | |
neugierig, machte ein Praktikum im Sanitätshaus, später die Meisterprüfung. | |
Neben dem Sport arbeitet er nun als Orthopädietechniker im rheinischen | |
Troisdorf, halbtags. Er hat noch einen Termin vor Feierabend, mit Iwan, | |
einem kräftigen Mann mit Arbeiterhänden, seine Prothese sitzt zu locker. | |
Iwan plaudert viel, klagt über den Stau auf der A 3 und erzählt von seinem | |
neuen Hund. Iwan kommt extra wegen Markus Rehm hierher, so wie viele andere | |
seit seinem Sieg in Ulm. | |
In der Werkstatt bessert Rehm die Prothese seines Patienten aus. Es riecht | |
nach Gips und Klebstoff. Rehm füllt den Schaft des hautfarbenen | |
Kunststoffbeins mit einem Harz, wartet bis das Material ausgehärtet ist, | |
schleift die Oberfläche glatt. Danach bringt er sie zu Iwan. Der steckt | |
seinen Stumpf in die Prothese und grinst. Passt. | |
## Bester mit Standardteil | |
Rehm muss jetzt nach Leverkusen zum Training. Er ist spät dran, steht mal | |
wieder im Stau. „Wir müssen uns ein bisschen beeilen.“ In der Umkleide | |
wuchtet er seine Tasche auf die Bank, nimmt seine Alltagsprothese ab und | |
montiert das gebogene Stück Carbon an seinen Oberschenkel, über das seit | |
vergangenem Sommer so viel gesprochen wird. Es ist extrem leicht und | |
steinhart. | |
Rehms Carbonfeder ist ein Standardteil. Jeder kann es kaufen. „Das ist mir | |
auch extrem wichtig“, sagt er. Die besten Weitspringer im Behindertensport | |
springen alle mit dieser Feder. Aber Rehm hat keine Konkurrenz, springt | |
mindestens einen Meter weiter als die anderen Sportler mit Handicap. Welten | |
im Weitsprung, einer Sportart, in der Rekorde oft jahrelang ungebrochen | |
bleiben. So wie der weiteste Sprung bisher: Mike Powell, 8,95 Meter, Tokio | |
1991. Vielleicht ein Sprung für die Ewigkeit. | |
Es ist ein sonniger Nachmittag, trainiert wird draußen. Diskuswerfer, | |
Speerwerfer, Sprinter, überall im Stadion Athleten von Bayer Leverkusen. | |
Auf den Bänken diskutieren drei Jungs über Alufelgen, ein Ghettoblaster | |
spielt Westküsten-HipHop. Rehm trainiert heute nur Sprints. Das Sprinten | |
ist eine gute Ergänzung für das Training. Rehm nimmt aber auch in dieser | |
Disziplin an Wettkämpfen teil. Mit drei anderen Sportlern will er in der 4 | |
x 100-Meter- Staffel paralympisches Gold holen. | |
Er spurtet mit dem Staffelstab los. Die ersten Schritte sind lang, dann | |
werden sie kürzer und schneller. Mit klackernden Geräuschen krallen sich | |
die Spikes seiner Carbonfeder in die Tartanbahn. Je mehr Tempo er aufnimmt, | |
desto runder ist sein Lauf. | |
## Rehm ist nie zufrieden | |
Die Feder funktioniert ähnlich wie ein Fußgelenk. Sie gibt die Energie | |
zurück, die auf sie einwirkt. In der Kurve spurtet er auf den zweiten | |
Läufer zu. Die Übergabe gelingt. Trainiert wird Rehm von Steffi Nerius, | |
einer ehemaligen Weltmeisterin im Speerwurf. Sie ist wie Sportlehrerinnen | |
in der Schule: streng, aber fair, eine Hand immer an der Stoppuhr. | |
Nerius bremst ihn aber auch mal ein, wenn es sein muss. Er braucht das. | |
Rehm ist Perfektionist, nie zufrieden. Er erzählt vom Wettkampf in Dubai | |
Ende Februar. Wieder wurde er Erster, allerdings mit weniger als acht | |
Metern. „Da war ich total am Ausflippen.“ Rehm will noch weiterspringen, | |
obwohl im Behindertensport sowieso keiner an ihn rankommt. | |
Der Verband wollte ihn vergangenen Sommer bei den Deutschen Meisterschaften | |
dabei haben. Es sollte ein Experiment sein. Die erste Teilnahme eines | |
Sportlers mit Handicap bei einer Meisterschaft der Nichtbehinderten. Dass | |
Rehm gewinnen würde, hatte keiner erwartet. Christian Reif, der Favorit, | |
flog bei jedem Versuch weiter als acht Meter und wurde trotzdem nur | |
Zweiter. Rehms Triumph war eine Sensation. Aber noch am selben Abend ging | |
die Debatte los: Hat er durch die Prothese einen Vorteil? Geht das | |
überhaupt: Inklusion im Profisport? | |
## Mit den Besten der Welt | |
Die Debatte war von Anfang an aufgeladen. Für die Skeptiker war es auch | |
nicht leicht. Kritik an einem behinderten Sportler: ein Tabubruch. | |
Sebastian Bayer, ein anderer Favorit auf den Meistertitel, beschwerte sich | |
nach dem Wettkampf über Rehm und seine gebogene Carbonfeder: „Ich weiß nur, | |
dass die Prothese gefühlte 15 Zentimeter länger ist als das andere Bein. | |
Mein Sprungbein ist genauso lang wie das andere.“ Es gab einen Shitstorm. | |
Aufgrund seines großen Erfolges werden Rehms Sprünge bei den | |
Meisterschaften in Nürnberg wieder gesondert gewertet. | |
Markus Rehm stört jedoch etwas anderes: Er darf noch immer nicht zur WM, | |
nicht zu Olympia. Die Wertung sei zweitrangig. Er will dabei sein, sich | |
messen mit den Besten der Welt. Aber: Die Sonderregelung, nach der er in | |
getrennter Wertung springen darf, gilt nur in Deutschland. | |
Der DLV hat kürzlich einen Antrag an den Weltverband gestellt, die Regelung | |
zu übernehmen. „Wir würden uns freuen, wenn er teilnehmen kann“, sagt | |
Gerhard Janetzky. Er fragt sich aber auch, wie das funktionieren soll. | |
„Würde Rehm dann einem anderen den Startplatz wegnehmen?“ | |
## Wunsch nach mehr Respekt | |
Seit seinem Sieg in Ulm hat sich etwas grundsätzlich verändert, sagt Rehm. | |
Alle redeten nur noch über die Prothese, nicht über seine Leistung. „Hätte | |
ich den sechsten oder siebten Platz gemacht, hätten wahrscheinlich alle | |
gesagt: Ein tolles Zeichen für die Inklusion.“ Er wünscht sich mehr Respekt | |
für den Behindertensport. Und er will zeigen, dass man mit einem Handicap | |
viel erreichen kann. | |
Die Studie, über deren Verwirklichung man beim DLV noch nachdenkt, könnte | |
aufwendig werden, denn die Untersuchung soll für alle Alters- und | |
Leistungsklassen regeln, wie Leistungen von Sportlern mit Behinderung | |
bewertet werden können. „Wir wollen keine Lex Rehm“, sagt Janetzky. 200.000 | |
bis 300.000 Euro könnte die Studie laut Janetzky kosten. Das Geld müsse zum | |
Großteil vom Bund und von Sponsoren kommen, sagt er. Man wolle schließlich | |
eine Frage beantworten, die die ganze Gesellschaft angehe. | |
Rehm spricht von den Wochen nach seinem Unfall. Die Rehaklinik war weit weg | |
von seinem Elternhaus bei Stuttgart. Er hatte Zeit, haderte, zweifelte. Im | |
Nachhinein war das gut, sagt er. Man könne das nur mit sich selbst | |
ausmachen. „Viele sagen zwei Wochen nach ihrer Amputation, dass sie das | |
schon abgehakt haben.“ Für ihn ist das falscher Stolz. Er hatte doch auch | |
Fragen, die ihm keiner beantworten konnte. | |
## „Das Allergeilste“ | |
„Ich hab gedacht: Kriege ich überhaupt noch eine Freundin? Kann ich jemals | |
wieder Sport machen?“ Unbegründete Sorgen, sagt er heute. Doch manche | |
Menschen zerbrechen an ihren Zweifeln. Rehm will ihnen Mut machen. Seit | |
seinem Meistertitel ist der Terminkalender noch voller. Urlaub hatte er | |
lange nicht mehr. Aber er liebt das, was er jetzt macht. Auch seinen Job. | |
Nach der Sportkarriere will er als Orthopädietechniker arbeiten. | |
Er erzählt von einem Jungen, der neulich bei ihm war. Rehm baute ihm seine | |
erste Sportprothese. Der Junge probierte sie an, lief los, dann weinte er. | |
„Ein Elfjähriger, der wieder rennen kann“, sagt Rehm, „das ist doch das | |
Allergeilste.“ | |
25 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Jan Schmidbauer | |
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