# taz.de -- Harper Lee und Rassismus: Die weiße Weste ist schmuddelig | |
> Die Aufregung ist berechtigt: Harper Lee entzaubert in „Gehe hin, stelle | |
> einen Wächter“ ihren Helden in einer packenden Coming-of-Age-Geschichte. | |
Bild: Wird sicher ein Bestseller | |
Als die Schriftstellerin Harper Lee 1957 ihren Erstling, das Manuskript von | |
„Gehe hin, stelle einen Wächter“ vorlegte, war ihren Agenten die Art, wie | |
sie darin das Thema Rassismus anging, zu heiß. Erst wenige Monate zuvor | |
hatte sich Rosa Parks in der 160 Kilometer von Lees Geburtsort Monroeville, | |
Alabama entfernten Stadt Montgomery geweigert, einem weißen Fahrgast im Bus | |
ihren Sitzplatz zu überlassen und damit den Auftakt zu massenhaftem zivilen | |
Ungehorsam gemacht. | |
Das Bürgerrechtsgesetz, das im Herbst 1957 von Präsident Dwight D. | |
Eisenhower unterschrieben wurde und schwarzen Bürgern das Wahlrecht | |
zugestand, war im Kongress noch hart umkämpft. | |
Harper Lee verlegte das Geschehen mit demselben Personal in die dreißiger | |
Jahre, in die Kindheit der Hauptfigur Jean Louise Finch, genannt Scout. | |
Heraus kam „Wer die Nachtigall stört“, 1960 veröffentlicht und bald ein | |
Welterfolg, übersetzt in über vierzig Sprachen. Und er blieb lange der | |
einzige Roman seiner öffentlichkeitsscheuen Autorin, die die | |
Herausforderung nicht annehmen wollte, an diesen ungeheuerlichen Erfolg | |
anzuknüpfen, geschweige denn, ihn zu toppen. | |
Mit der Herausgabe des verschollen geglaubten Manuskripts ihres Erstlings | |
beweist die inzwischen 89-jährige Harper Lee nun, dass ihr Status als one | |
hit wonder zu überdenken ist. „Gehe hin, stelle einen Wächter“ wird zu | |
Recht als Sensation gehandelt, und zwar weil diese Fassung den Helden aus | |
„Wer die Nachtigall stört“ von seinem antirassistischen Sockel stößt. | |
Atticus Finch, Scouts Vater und im Städtchen Maycomb, Alabama, ein | |
angesehener Anwalt, verteidigt in „Wer die Nachtigall stört“ – erfolglos… | |
den unschuldigen schwarzen Tom Robinson, der der Vergewaltigung einer | |
Weißen angeklagt wird. Für weiße Leser bot er die gewissensberuhigende | |
Projektionsfläche des guten, gerechten Weißen. | |
In „Gehe hin, stelle einen Wächter“ kommt heraus, dass seine weiße Weste … | |
Wahrheit recht schmuddelig ist. Die Verteidigung – hier ist sie erfolgreich | |
– von Robinson hatte er in der früheren Version aus reinem juristischem | |
Gerechtigkeitssinn übernommen, um seine moralische Integrität zu wahren. Es | |
ging ihm nur um sich, nicht darum, ein Zeichen zu setzen. | |
## Befürworter der Rassentrennung | |
Er befürwortet die Segregation, ist gar überzeugt, dass Schwarze unmündig | |
und „rückständig“ seien, eine Gefahr geradezu, sollten sie wählen dürfe… | |
insbesondere in Landstrichen mit überwiegend schwarzer Bevölkerung. | |
Paradoxerweise gewinnt Finch durch die Offenlegung seines Rassismus an | |
Glaubwürdigkeit. Gut und Böse sind nicht klar voneinander zu trennen, Lee | |
führt in ihrem reifen Debütroman die Bigotterie der Weißen unverhohlen vor. | |
Außerdem ist „Gehe hin, stelle einen Wächter“ ein packender | |
Coming-of-Age-Roman. Glücklicherweise nutzt Lee das Thema Rassismus nicht | |
als bloßes Vehikel, um die Emanzipation Jean Louises zu transportieren. | |
Während die Geschehnisse in „Wer die Nachtigall stört“ mit den Augen der | |
unmündigen Schülerin Scout gesehen werden, was die politische Brisanz | |
entschärft, bezieht „Gehe hin, stelle einen Wächter“ durch die Wahl der | |
reflektierten auktorialen Erzählstimme unmissverständlich Stellung. | |
Das Wissen um die autobiografischen Bezüge tun ihr Übriges – in Atticus ist | |
der Vater der Autorin zu erkennen, im Jugendfreund Dill Harper Lees | |
Jugendfreund und Schriftstellerkollege Truman Capote. Und das verschlafene | |
Maycomb ist Monroeville nachempfunden. | |
## Verzahnte Episoden | |
Der Roman ist fast reißbretthaft strukturiert. Was bei vielen Debüts ein | |
Manko ist, bietet hier Halt und kontrastiert die durcheinandergekommene | |
Gefühlswelt der 26-jährigen Jean Louise, die allein in New York lebt und | |
während ihrer Ferien in der Heimatstadt erkennen muss, dass ihr abgöttisch | |
geliebter Vater nicht der Held ist, für den sie ihn immer hielt. Sie muss | |
sich von ihm lösen. | |
Lee verzahnt Episoden, in dem die „farbenblinde“ Jean Louise den sie | |
umgebenden allgegenwärtigen Rassismus erkennt, mit Alltagsgeschichten, | |
Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend. Zunächst entdeckt sie, dass ihr | |
Vater zu rassistischen Bürgerratsversammlungen geht. Im darauffolgenden | |
Kapitel erinnert sie sich, wie sie unaufgeklärt von ihrer ersten | |
Menstruation überrascht wird, kurz darauf glaubt, schwanger zu sein, weil | |
sie geküsst wurde, und sich deshalb umbringen will. Durch diesen brillanten | |
Kniff wird deutlich, wie Ignoranz und Unwissenheit in die Irre führen | |
können. | |
Einzig ein kurzes Glossar wäre schön gewesen, das die im Roman | |
allgegenwärtigen Begriffe der US-amerikanischen Staatskunde erläutert. | |
25 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Sylvia Prahl | |
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