| # taz.de -- Queer sein im Westjordanland: „Ach, wenn du ein Mann wärst“ | |
| > Nadya und Samia lieben sich. Aber in Ramallah hält man das besser geheim. | |
| > Ein Gespräch über eine sich langsam öffnende Gesellschaft, alte | |
| > Rollenbilder und Sex. | |
| Bild: Kopftuch zu tragen, ist in Ramallah keine Pflicht. Viele Frauen entscheid… | |
| taz: Nadya, Samia, Sie sind lesbisch und leben zusammen in Ramallah. Weiß | |
| hier irgendjemand von Ihrer Beziehung? | |
| Nadya: Nur ein paar sehr gute Freundinnen. Und meine Familie weiß davon, | |
| aber sie spricht nicht darüber. | |
| Ihre Familie weiß davon? | |
| Nadya: Ja, ich hab’s 1999 rausgehauen und bin dann nach Deutschland | |
| gegangen. Sechs Monate später kam ich kurz zurück, um vernünftig darüber zu | |
| sprechen. Meine Familie sagte: Okay, so ist es. Seitdem wurde es mit keiner | |
| Silbe mehr erwähnt. | |
| Und Ihre Familie, Samia? | |
| Samia: Meine Familie ist zwar verhältnismäßig offen, aber sie weiß trotzdem | |
| nichts davon. Hinzu kommt, dass ich nicht genau weiß, wie ich mich | |
| definieren würde. Als Lesbe? Ich habe einfach wahnsinnig schlechte | |
| Erfahrungen mit Männern gemacht. | |
| Das klingt nach einem Klischee, das Männer gerne vorbringen: Sie hat nur | |
| noch nicht den richtigen Mann getroffen. | |
| Samia: Kann sein, aber ich möchte mich in dieser Hinsicht nicht definieren. | |
| Was immer ich bin, ich habe Nadya kennengelernt. | |
| Wann war das? | |
| Nadya: Im November 2013. Da sind wir als Mitbewohnerinnen zusammengezogen. | |
| Und seit wann sind Sie ein Paar? | |
| Nadya: Seit August 2014. Wir waren bis dahin sehr gut befreundet. Ich hatte | |
| schon früh Gefühle für Samia. Aber ich dachte: Sie ist Palästinenserin, sie | |
| weiß wahrscheinlich nicht einmal, was lesbisch sein bedeutet. | |
| Samia: Ich wusste es aber. Mein Cousin, der eine Weile in Belgien gewohnt | |
| hat, hat mir davon erzählt. Und als er Nadya kennengelernt hat, hat er | |
| gesagt: Nadya ist lesbisch, ganz sicher. | |
| Wie sind Sie zusammengekommen? | |
| Nadya: Eines Abends, das war in der Zeit des Gazakrieges, kam Samia völlig | |
| aufgelöst nach Hause, nach 15 Stunden Arbeit als Krankenschwester. Ein | |
| schwer verletzter palästinensischer Junge war ins Krankenhaus gebracht | |
| worden. Ich hatte am gleichen Tag meine Haare sehr kurz geschnitten, und | |
| Samia fand es fürchterlich, was mich merkwürdigerweise sehr mitgenommen | |
| hat. Da dachte ich: O.k., ich muss es ihr sagen. | |
| Samia: Meine erste Reaktion war: Ach, wenn du ein Mann wärst, würde ich zu | |
| deiner Mutter laufen und um deine Hand anhalten. | |
| Nadya: Zwei Tage später hat unsere Beziehung angefangen. Gleichzeitig weiß | |
| ich, sobald sie einen Mann trifft, den sie wirklich lieben kann, wird sie | |
| ihn heiraten. | |
| Hatten Sie jemals Sex mit einem Mann? | |
| Samia: Nein, aber ich hätte gerne. Am liebsten mit einem Mann aus Europa, | |
| der meine Familie nicht kennt. | |
| Seit wann wissen Sie, dass Sie lesbisch sind, Nadya? | |
| Nadya: Das wusste ich schon früh. Ich bin mit meinen palästinensischen | |
| Eltern in Brasilien aufgewachsen. Mit 14 wurde ich dort mit einem Mädchen | |
| unter der Dusche erwischt. Daraufhin hat mein Vater beschlossen, mich nach | |
| Palästina zu schicken und mit meinem Cousin zu verheiraten. Zwei Jahre | |
| später saß ich alleine hier. | |
| Den Cousin haben Sie offensichtlich nicht geheiratet? | |
| Nadya: Nein. Stattdessen habe ich in Nablus studiert und hatte viele | |
| Affären. | |
| Mit Frauen? | |
| Nadya: Es klingt vielleicht absurd, aber dort im Wohnheim waren die besten | |
| Bedingungen für lesbische Frauen. Ich habe dort auch unterrichtet und hatte | |
| eine Affäre mit einer Studentin. | |
| Samia: Ich habe in vielen WGs mit Frauen gelebt. Dort gab es immer | |
| mindestens eine sexuelle Beziehung. | |
| Nadya: Ist doch ganz klar. Die Leute brauchen Sex. Frauen können vor der | |
| Ehe keinen Sex mit Männern haben, sonst gelten sie automatisch als | |
| Prostituierte. Da liegt es nahe, mit Frauen zu schlafen. Aber wirklich alle | |
| Frauen, mit denen ich damals was hatte, sind mittlerweile mit einem Mann | |
| verheiratet. Dieses Spiel wollte ich nicht mitspielen. Also bin ich nach | |
| Deutschland gegangen. Wäre ich hier geblieben, hätte mich das völlig | |
| zerstört. | |
| Sie waren 13 Jahre lang in Deutschland. 2013 kamen Sie zurück. Hatte sich | |
| etwas verändert? | |
| Nadya: Absolut. In den 1990er Jahren waren die Frauen wesentlich naiver. | |
| Aber mit den neuen sozialen Medien gibt es zahlreiche Onlineaffären. Über | |
| Skype, Facebook. Du musst heute eigentlich einen Onlinefreund haben, sonst | |
| bist du out. Das gab’s vor 14, 15 Jahren nicht. Die Hochzeiten waren | |
| hauptsächlich arrangiert, heute gibt es viele Liebesheiraten. Aber noch | |
| immer gilt: Sobald der Mann hat, was er will – man sagt hier „öffnen“ da… | |
| ein schreckliches Wort – geht die Frau in seinen Besitz über und so | |
| behandelt er sie dann für gewöhnlich auch. Wie ein Auto. Das ist auch Samia | |
| passiert mit ihrem Verlobten. Gleichzeitig haben sich aber auch die | |
| Scheidungsraten verändert. Heute ist jede zweite Frau geschieden. Man muss | |
| sich aber auch scheiden lassen, wenn man nur verlobt war. | |
| Und das ist in Ordnung? | |
| Nadya: Früher haben Frauen alles getan, um den schlechten Ruf, den eine | |
| Scheidung mit sich bringt, zu vermeiden. Heute ist es ihnen oft egal. Wenn | |
| Frauen nicht glücklich sind in der Ehe, können sie sich scheiden lassen und | |
| tun das in vielen Fällen auch. Das hat mich sehr überrascht. | |
| Gleichzeitig haben palästinensische Frauen in den 1980er Jahren selten ein | |
| Kopftuch getragen. Heute sieht man kaum noch Frauen ohne. Wie passt das? | |
| Nadya: Das hängt maßgeblich mit der Ersten Intifada zusammen. Die Leute | |
| zogen sich auf die einzige Identität zurück, die sie haben – und die ist | |
| patriotisch und religiös. | |
| Was meinen Sie damit? | |
| Nadya: Lieder, Theaterstücke und Literatur sind mit der Ersten Intifada | |
| rein patriotisch geworden. Hochzeitslieder waren plötzlich nur noch | |
| patriotischer Kram. Die Hamas ist aufgestiegen und der Islam war die Lösung | |
| für alles. Mit diesem Rückzug auf die religiöse Identität mussten Frauen | |
| plötzlich wieder Kopftuch tragen. Ich auch, als ich zur Schule ging. Und | |
| das ist so geblieben. | |
| Samia: Wir tragen heute beide kein Kopftuch. Umso mehr müssen wir | |
| aufpassen, was wir anziehen. Wir sind nicht automatisch „rein“. | |
| Nadya: Wichtig zu verstehen ist aber, dass das Kopftuch Frauen nicht davon | |
| abhält, selbstbewusster zu werden. Okay, ich trage ein Kopftuch, sagen sie, | |
| aber es hält mich nicht davon ab, Pornos zu gucken. | |
| Pornos? | |
| Nadya: Die sind hier sehr verbreitet, auch unter Frauen. Eine Bekannte hat | |
| mir gesagt, dass sie gerne Pornofilme sieht. Ich habe damals mein | |
| feministisches Argument vorgebracht, dass es immer der Mann ist, der | |
| Befriedigung erhält, nicht die Frau. Entschuldigung, wie bitte?, hat sie | |
| erwidert und mir einen Ausschnitt gezeigt. Tatsächlich hat darin der Mann | |
| schwitzend dafür gesorgt, dass die Frau Befriedigung erhält. Das ist | |
| vielleicht das, was Pornos für Frauen hier attraktiv macht. | |
| Inwiefern? | |
| Nadya: Insofern, als dass es dort um ihre eigene Befriedigung geht. Eine | |
| Freundin hat mich mal gebeten, ihr einen Dildo aus Deutschland | |
| mitzubringen. Und hat mir im gleichen Atemzug erzählt, sie habe jetzt vier | |
| Kinder und wisse nicht, wie es sich anfühlt, einen Orgasmus zu haben. Ich | |
| hab sie gefragt, warum sie das nicht ihrem Mann sagt. Er würde mich eine | |
| Prostituierte nennen, war ihre Antwort. Aber wichtig ist eben, dass sich in | |
| den Köpfen der jungen Frauen die Ansprüche langsam verändern. | |
| Was müsste passieren, damit die Frauen sich zusammenschließen und | |
| rebellieren? | |
| Nadya: Es ist gefährlich zu rebellieren. Wenn ich zum Beispiel hier mit dem | |
| Fahrrad herumfahre, werden die Leute sagen: Aha, die war im Westen. | |
| Vielleicht arbeitet sie für Israel. Das betrachten sie als Gefahr für | |
| Nationalität und Religion. Es wird immer eine vermeintliche Bedrohung von | |
| außen herangezogen. In der Verfassung von Palästina gibt es keine Passage, | |
| in der Homosexualität verboten ist, auch nicht, dass es Frauen verboten | |
| ist, Fahrrad zu fahren. Aber keine Frau macht es. | |
| Würde sich etwas verändern, wenn die Grenzen der Westbank geöffnet würden? | |
| Nadya: Absolut. Vor dem Oslo-Abkommen Mitte der Neunziger Jahre war die | |
| Gesellschaft viel offener. | |
| Aber Homosexualität war damals auch nicht anerkannt. | |
| Nadya: Gut, aber gucken Sie sich Deutschland in der Zeit an … Ich würde | |
| sagen, wir warten nochmal dreißig Jahre ab. Und um noch einmal auf Ihre | |
| Anfangsfrage zurückzukommen: Wenn irgendjemand hier herausfinden würde, | |
| dass wir zusammen sind – ich glaube nicht, dass uns jemand umbringen würde. | |
| Samia: Bist du sicher? | |
| Nadya: Nicht sicher, aber ich glaube es nicht wirklich. Aber wir überlegen | |
| trotzdem, gemeinsam wegzugehen – in eines der arabischen Länder, in denen | |
| die Atmosphäre weniger restriktiv ist. | |
| In welches? | |
| Nadya: Das zu sagen, ist uns zu riskant. Wir wollen nicht, dass man uns | |
| erkennt. | |
| 22 Jul 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Judith Poppe | |
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