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# taz.de -- Prozess auf Kreta: Wie ein Historiker zum Nazi wird
> Der linksliberale Heinz Richter ist angeklagt, weil er mit griechischen
> Mythen aus dem Zweiten Weltkrieg aufgeräumt hat.
Bild: Feiern zum 70. Jahrestag der Befreiung in Athen. Auf Kreta endet beim Thm…
Der Griechenland-Experte Heinz Richter macht derzeit um Griechenland einen
großen Bogen. „Ich bin doch nicht lebensmüde“, erklärt der 76-Jährige
emeritierte Professor von der Universität Mannheim. Der linksliberale
Historiker ist auf Kreta der Verbreitung von Rassismus und Lügen über die
Nazi-Besatzungszeit angeklagt – weil er in einem Buch mit Mythen über den
griechischen Widerstand aufgeräumt hat. Ihm drohen bis zu drei Jahren Haft.
Am 2. September soll im kretischen Rethymnon sein Prozess beginnen.
Der Angeklagte wird nicht anwesend sein. Die deutsche Botschaft in Athen
habe ihm empfohlen, sagt Richter, schon jetzt griechischen Boden zu meiden.
Mehr als 150 Menschen haben eine Petition zu seinen Gunsten unterschrieben.
Doch der renommierte Historiker, der in seinem Leben 22 Bücher und über 220
Fachaufsätze über Griechenland verfasst hat, ist pessimistisch: „In Kreta
werde ich verlieren“, sagte er, und auch sein Anwalt Athanasios
Anagnostopulos sieht wenig Anlass zum Optimismus.
Der Historiker ist zwischen die Mahlsteine aktueller wie historischer
Legenden geraten. „Ich bin quasi der Stellvertreter und Prügelknabe
bestimmter Berliner Politiker, die in Griechenland verhasst sind“, glaubt
Richter. Die Ursache dafür sind einige Schlussfolgerungen Richters in
seinem schon 2011 erschienenen Buch „Operation Merkur“ über die Eroberung
Kretas im Mai 1941 durch deutsche Fallschirmtruppen, das auch ins
Griechische übersetzt worden ist. Das Werk beschreibt detailliert die
einzelnen Kampfhandlungen zwischen alliierten und deutschen Truppen. Der
griechische Widerstand gegen die Deutschen wird nur am Rande gestreift.
Die Freiheit der Wissenschaft endet nach Auffassung des Staatsanwalts
Paterakis beispielsweise auf Seite 284. Dort schreibt Richter, die Schlacht
um Kreta sei „der Beginn der ‚schmutzigen‘ Kriegsführung, die durch
Partisanenüberfälle und Repressalien geprägt“ gewesen sei. Hintergrund
dieser Einschätzung sind einerseits Tötungen und Leichenschändungen von
verletzten deutschen Wehrmachtsangehörigen durch kretische Partisanen,
anderseits die summarischen Strafen und Morde durch die Deutschen an
unschuldigen griechischen Dorfgemeinschaften. Staatsanwalt Paterakis, der
für die taz nicht zu sprechen war, machte daraus laut Richter in seiner
Anklage den Vorwurf, der Historiker habe den kretischen Widerstand
insgesamt für „schmutzig“ erklärt – ein Fall für das Gesetz 927/1979, …
die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellt.
## Der erste Angeklagte
Dieses im September 2014 verabschiedete Gesetz sollte sich eigentlich gegen
die Neonazis der „Goldenen Morgenröte“ richten. Doch schon in der Athener
Parlamentsdebatte befürchteten Abgeordnete, es könne dazu dienen, die
Meinungsfreiheit einzuschränken, weshalb die damals oppositionelle Syriza
dem Gesetz ihre Zustimmung verweigerte. Ein Neonazi ist aufgrund des
Gesetzes bisher nicht belangt worden. Vielmehr sei Richter seines Wissens
der erste Angeklagte überhaupt, erklärt sein Anwalt Anagnostopulos.
Richter vermutet hinter der kretischen Anklage den einflussreichen früheren
Oberkommandierenden der griechischen Streitkräfte, General Manousos
Paragioudakis, der sich auf Kreta zur Ruhe gesetzt hat. Paragioudakis habe
sich schon bei der Präsentation von Richters Kreta-Buchs im Heraklion
empört gezeigt, wütend den Saal verlassen und ihm später in einem Brief
„Goebbelsche Propaganda“ vorgeworfen. Stein des Anstoßes dafür war Richte…
Aussage, es sei ein längst widerlegter Mythos, dass der sechswöchige Krieg
um Kreta den Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion so weit
verzögert habe, dass dieser schließlich in Matsch und Schnee vor Moskau
stecken blieb.
Doch genau diese Behauptung, die, zu Ende gesponnen, zu der Erkenntnis
führt, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg dank des Einsatzes griechischer
Freiheitskämpfer verloren habe, zählt zu den wiederholten historischen
Legenden der griechischen Gegenwart. General Paragioudakis jedenfalls habe
nach Richters Eindruck eine Kampagne auf Kreta gegen seine Person lanciert,
die zuletzt dazu führte, dass der Rektor der Universität Kreta ihn darum
bat, seine erst 2014 erlangte Ehrendoktorwürde zurückzugeben – was Richter
als Schuldeingeständnis verweigerte. Paragioudakis ist es auch, der, so ein
Zufall, von der Staatsanwaltschaft als Belastungszeuge bei dem anstehenden
Prozess aufgeboten wird.
„An die Wand!“, schreibt ein griechisches Internetportal über Richter.
Kretische Dorfgemeinden verlangten die Aberkennung seiner Ehrendoktorwürde.
Inselzeitungen empörten sich über Richter. Auf Fotomontagen wird er neben
mordenden Nazis gezeigt. „Niemand von ihnen hat mein Buch gelesen. Für den
Staatsanwalt ist jeder Deutsche ein Nazi“, beklagt sich Richter, der seit
40 Jahren der SPD angehört.
So ist aus dem Buch eines emeritierten deutschen Professors ein „Fall
Richter“ geworden. Es wäre unangemessen und falsch, deshalb die griechische
Öffentlichkeit anzuklagen. Im Gegenteil findet Richter auf dem griechischen
Festland auch Solidarität und Unterstützung. Doch was derzeit auf Kreta
geschieht, entwickelt sich in der Tat zu einem Fall für den Staatsanwalt –
wegen Missachtung der in der griechischen Verfassung geschützten Freiheit
von Meinung und Wissenschaft.
28 Jun 2015
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Griechenland
Justiz
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Historiker
Wissenschaft
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