| # taz.de -- Debütalbum „Ratchet“ von Shamir: Wunderkerzen und Kuhglockenso… | |
| > Der Sänger Shamir aus Las Vegas ist ein Countertenor mit Haltung. Sein | |
| > Debütalbum „Ratchet“ changiert zwischen Hedonismus und Ballade. | |
| Bild: Sänger Shamir bevorzugt ausgefallene Kleidung. Von sich selbst behauptet… | |
| Shamir Bailey macht Musik, die sich gegen Eindeutigkeiten entscheidet. | |
| Zwischen bittersüßem Dancepop, introspektivem R&B und forschem HipHop ist | |
| auf seinem Debütalbum „Ratchet“ von allem etwas dabei. | |
| Höchsten Wiedererkennungswert bildet die überaus hohe, extravagante Stimme | |
| des 20-Jährigen. Wie ein junger Michael Jackson, scheinbar ohne jede | |
| Stimmbruchzäsur, definiert Shamir mit seiner Stimme den Begriff | |
| Androgynität neu. „Ich bin mir bewusst, dass viele Hörer meine Stimme | |
| komisch finden“, räumt Shamir im Interview ein, gleich nach einer | |
| herzlichen Umarmung. | |
| Leise fährt er fort: „Schon mein Highschool-Lehrer hat mich deswegen | |
| aufgezogen. Er dachte, ich sei eigentlich Bariton und würde die ganze Zeit | |
| Falsett singen. Ich habe das auch eine Weile versucht und darüber völlig | |
| meine Stimme verloren. Heute weiß ich, dass ich Countertenor bin.“ Besagte | |
| Highschool liegt in einem Vorort von Las Vegas, in der Wüstenstadt ist er | |
| aufgewachsen, inzwischen lebt Shamir in New York. | |
| „Ratchet“, der Albumtitel, lässt sich in etwa mit „Ghetto-Diva“ übers… | |
| „Das passt einfach zu mir und meinen Freunden. Wir hören 2Chainz und halten | |
| uns für die schärfsten. Wir reclaimen die Negativassoziation von | |
| Ghetto-Diva sozusagen für uns.“ Nicht nur dem Albumtitel merkt man | |
| Selbstbewusstsein an. Als ihn die Mitschüler wegen der Stimme mobbten, | |
| focht das den Teenager nicht an. In der Folge kleidete sich Shamir | |
| ausgefallener als alle anderen. Vermeintliche Schwächen münzt er in | |
| Selbstverwirklichung um. | |
| Insbesondere das Internet ist eine unverzichtbare Hilfe: „Keine Ahnung, wer | |
| ich heute ohne das Internet wäre. Ich hatte in der sechsten Klasse ein Abo | |
| bei einem Musikstreaming-Dienst. Da habe ich viel Musik entdeckt … und | |
| Mode! Ich wusste dadurch auch, dass ich nicht allein bin. Meine Stimme | |
| weicht von der Norm ab. Mein Gender liegt irgendwo zwischen den | |
| Geschlechtern. Das Internet hat mir extrem geholfen.“ Konsequenterweise | |
| heuert der Fashionista daraufhin in einer Filiale der Boutiquenkette | |
| „Topshop“ an. | |
| Noch kurz vor der Veröffentlichung seines Debüts hadert Shamir mit der | |
| Wahrnehmung als neuester Dancepop-Hype. Er sieht sich mehr als Unterhalter | |
| mit selbstbewusster Attitüde. Die Geisteshaltung liefert dabei die | |
| Eindeutigkeit, der sich die Kunst bewusst entzieht. Wer auf YouTube sucht, | |
| findet unter anderem Baileys Bewerbungsvideo für eine Stand-up-Comedyshow. | |
| „Ich bin ein 18-jähriger Schwarzer mit der Stimme eines 14-jährigen weißen | |
| Mädchens“, gibt er dort selbstironisch zu Protokoll. | |
| ## In erster Linie Musiker und Sänger | |
| Sein erster Liveauftritt im französischen Fernsehen Ende 2014 führt | |
| unterdessen zu hämischen Kommentaren, die ihn stimmlich in der Nähe von | |
| Micky Maus verorten. „Singt da ein Junge oder ein Mädchen?“, lautet eine | |
| häufig gestellte Frage. Trotz aller Anfeindungen bleibt Shamir gelassen. | |
| „Ich bin in erster Linie Musiker und Sänger. Ich sehe nicht, welche Rolle | |
| da mein Gender, biologisches Geschlecht oder Hautfarbe spielen.“ | |
| Wenn Fans aus seiner unkorrumpierbaren Haltung Kraft schöpfen, findet er | |
| das zwar schön, betont jedoch zugleich: „I am an artist that happens to be | |
| a queer, but I am not a queer artist.“ Wie seine Musik, die zwischen | |
| jugendlichem Hedonismus und nachdenklicher Ballade changiert, entzieht sich | |
| auch Shamirs Persönlichkeit der Schublade des klar Politisierten. „Ratchet“ | |
| erzähle schlicht eine Coming-of-age-Geschichte, sagt der Sänger. Das Album | |
| eröffnet mit „Vegas“. | |
| Dort erklingen die typischen Kuhglockensounds des DFA-Dancepunk, typisch | |
| auch für seinen Produzenten Nyck Silvester, und Shamirs sehr spezielle | |
| Stimme, bis er im Finale in „Head In The Clouds“ ein paar Wunderkerzen auf | |
| seine ganz persönliche Freiheit anzündet: „Got my head in the cloud / and | |
| I’m never coming out.“ | |
| Woanders thematisiert Shamir gar den Tod. „Ich denke tatsächlich viel über | |
| den Tod nach. Ich finde das eine schöne Sache. Es kommt natürlich darauf | |
| an, wie man stirbt und ob man die Chance auf ein erfülltes Leben hatte. | |
| Nach dem Tod gelangt man dann auf eine weitere, ganz neue Ebene.“ Selbst | |
| wenn das Debüt vielleicht nicht ganz so viel transzendentes Moment besitzt | |
| wie dieser Gedanke – Shamir Baileys selbstbejahende Grundhaltung überlebt | |
| hoffentlich noch manchen Hype. | |
| NaN NaN | |
| ## AUTOREN | |
| Matthias Manthe | |
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