# taz.de -- Film über Sexualität von Behinderten: Masturbieren statt Märchen | |
> In „Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ versucht eine | |
> behinderte junge Frau, sich aus dem Käfig der Fürsorge ihrer Eltern zu | |
> befreien. | |
Bild: Peter (Lars Eidinger) und Dora (Victoria Schulz) | |
Bildfüllend die Gesichter und die fürsorglichen Hände der einen, hinnehmend | |
passiv der Blick der anderen, die Welt außerhalb des intimen | |
Gesichtskreises nur ein pastellfarbenes Gewölk. So kann sie aussehen, die | |
elementare Symbiose, Nähe und Zuwendung, wenn es um „ein Löffelchen für | |
Mama, eins für Papa“ geht. Allerdings sind es Psychopharmaka, die Tochter | |
Dora (Victoria Schulz) in Stina Werenfels’ Film „Dora oder Die sexuellen | |
Neurosen unserer Eltern“ von Kristin (Jenny Schily) und Felix (Urs Jucker) | |
in den Mund geschoben bekommt. | |
Werenfels’ Adaption eines Theaterstücks des Schweizer Schriftstellers Lukas | |
Bärfuss erzählt, macht uns zu Komplizen der jungen Frau, die sich aus dem | |
Käfig wohlmeinender Fürsorge befreien will. Die Mutter wischt | |
herabgetropfte Sahne von Doras Schuh, sie liest immer noch Märchen vor, | |
auch wenn der Tochter in der Badewanne mehr nach Masturbieren ist. Der Film | |
fühlt sich mit präzisen Details in die grotesken Asymmetrien ein, die das | |
familiäre Zusammenleben mit Pubertierenden zur emotionalen Achterbahnfahrt | |
machen. | |
Diese Geschichte kreist um einen Teenager, der kein „Mongo“ sein will, | |
nicht anders sein will als der Rest der Welt. Dora ist 18, sie ist mündig. | |
Ihre Mutter setzt die vom Neurologen verschriebenen Pillen ab, die Tante | |
schenkt ihr ein knallrotes Kleid. Mit Liebe und Einsatz haben die Eltern | |
kompensiert, dass ihre Tochter (nicht näher definiert) Kind geblieben ist, | |
in einem Kokon naiven Weltvertrauens lebt und in einem Paralleluniversum an | |
den Härten des Realitätsprinzips vorbeisegelt. | |
## Keine Etikette, kein Tabu, keine Scham | |
Victoria Schulz deutet die ungelenke Körperlichkeit und schwierige | |
sprachliche Artikulation ihrer Figur diskret an, viel mehr Gewicht hat ihre | |
Spielfreude in Momenten ungeschützter Offenheit. Dora kennt keine Etikette, | |
kein Tabu, keine Scham, wenn sie ihren Gefühlsimpulsen freien Lauf lässt. | |
Sie nicht zu pathologisieren und in ein Schubfach des Diversitätsdiskurses | |
zu verfrachten ist die große Herausforderung, auf die Werenfels sich | |
eingelassen hat. | |
Die „normalen“ Erwachsenen sind es, die sich ins Dilemma amputierter | |
Gefühle hineinmanövrieren. Kristin, die sich noch ein zweites Kind wünscht, | |
nimmt Abschied vom Traum später Mutterschaft. Sie kocht und dekoriert gern | |
und nimmt schließlich das Job-Angebot an, bei burlesken Erotikpartys als | |
Köchin zu arbeiten. | |
Seit die Mutter die Pillen aus ihrem Leben verbannt hat, spürt das Mädchen | |
seine erwachende Sinnlichkeit und sexuelle Neugier mit voller Hingabe an | |
den Moment. Dora will „ein Paar“ sein. Sie ist es, die Peter (Lars | |
Eidinger), einen undurchsichtigen Einzelgänger, mit einem Granatapfel | |
beschenkt und ihm hinterherläuft. Auch als der Fremde sie in einer | |
öffentlichen Toilette vergewaltigt, verweigert sie die Opfersituation. | |
## Komplexe Mutter-Tochter-Beziehung | |
Die Eltern suchen Hilfe bei der Polizei und einer psychologischen Beratung, | |
Dora jedoch bekennt sich dazu, dass Sex ihr gefalle, trifft sich weiter mit | |
dem Mann und träumt vom Heiraten in Las Vegas, als sie schwanger wird. Kann | |
Dora die Verantwortung für ein Kind übernehmen? | |
Der Film spitzt seine Frage nach der komplexen Mutter-Tochter-Beziehung zu. | |
Auf sich gestellt, beweist das Mädchen eine überraschende Souveränität, | |
während die Mutter in einer bizarren Parallelerzählung für sich selbst den | |
Genuss am Kontrollverlust auslebt. Ein Rollenwechsel, der alle Fragen offen | |
lässt. | |
21 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
## TAGS | |
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