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# taz.de -- Orthorexie: Die gesündeste Krankheit
> Sie knabbern Mohrrüben, kippen sich Kräutertee hinter die Binde - und
> sind trotzdem krank: Wer an Orthorexie leidet, isst nur Gesundes.
Bild: Festessen für Orthorektiker: Salat
Zum Frühstück raspelt er sich einen knackigen Apfel und eine Birne auf den
Teller. Vom Biobauern nebenan. Mittags gibts leckeren Salat mit Nüssen und
gehackten Kräutern aus dem Garten. Dazu ein selbst gebackenes Brötchen. Aus
frisch geschrotetem Korn. Mmmhhh! Am Abend kommen Paprika- und Möhrenwürfel
mit Naturreis auf den Tisch. Mann, lebt der gesund! So gesund, dass dieser
Mensch stundenlang nur ans Einkaufen und Essen denkt. An Biobananen und
Bircher Müsli. An Nährstoffgehalt und naturnahe Anbaumethoden.
So gesund, dass er für diesen lukullischen Hochgenuss mehrere Stunden im
Bioladen verbringt und Packungsangaben studiert. So gesund, dass
Ernährungs- und Suchtberater schon von einer Art Krankheit sprechen.
Orthorexie: eine krankhafte Fixierung auf gesundes Essen.
Orthorektiker pflanzen selbst Gemüse und Obst an, kaufen im Bioladen, auf
dem Markt oder direkt beim Bauern ein. Fisch und Fleisch sind meist tabu,
auch Eier, Käse und andere Milchprodukte gelten als ungesund. Der Reis muss
direkt aus Asien eingeflogen werden, die Hirse kommt aus Afrika. Gemüse
kochen oder braten zerstört zu viele Nährstoffe. Besser: das Grünfutter
direkt vom Baum essen. "Ich weigerte mich, Gemüse zu essen, das vor mehr
als einer Viertelstunde geerntet worden war", beschreibt es Dr. Steven
Bratman, ein US-Arzt, der selbst betroffen war und 1997 dafür den Begriff
"Orthorexia nervosa" prägte. Eine ähnlich zwanghafte Sucht wie "Anorexia
nervosa" (nervlich bedingte Appetitlosigkeit), die Magersucht.
Warum die Gesundesser gesund essen? Als eine "Überlebensstrategie"
beschreibt es Sylvia Baeck, Buchautorin und Geschäftsführerin des Berliner
Beratungszentrums "Dick & Dünn". "Menschen wollen mit dem gesunden Essen
etwas kaschieren oder von eigentlichen Problemen ablenken", sagt sie. Ein
Beispiel: Anstatt sich das Leben zu nehmen, weil die Ehe kaputtging, nimmt
die Verlassene ihr Leben in die Hand und regelt ihre Essgewohnheiten neu,
verzichtet auf alles Ungesunde, achtet auf Vitamine und kauft nur noch fair
gehandelte Produkte. Wenigstens ein Teil des Lebens scheint gerettet. Sie
hat es voll im Griff. Auffallend viele Männer seien - im Gegensatz zur
Magersucht - unter den Orthorektikern zu finden. Zwanghaft-perfekt, ewig
jung, gesund und knackig, der Marathon-Mann eben, beschreibt Baeck die
Essopfer, die nicht wie bei der Magersucht größtenteils im Teenager-Alter,
sondern eher zwischen 30 und 40 seien.
Deutschland als "Land der Dicken", der Schönheitswahn, die Biowelle, BSE,
Vogelgrippe und Schweinepest seien Verstärker einer nur scheinbar gesunden
Gegenbewegung, meint Kerstin Woite, Heilpraktikerin und Köchin. Tendenz:
steigend. Sie sieht in dem Zwang zu gesundem Essen eine Art
Ernährungsreligion. Mit gesundem Essen könne der Orthorektiker etwas
erreichen, abnehmen, Erfolg haben, besser leben und sich besser fühlen als
andere. Orthorektiker seien absolute Profis in Sachen Ernährungs- und
Warenkunde, kennen den Proteinanteil in Sojamilch und den Mangangehalt von
Lauch. Der Blick über den Tellerrand hinaus allerdings gelingt ihnen nicht
mehr. Vielmehr landen sie in einem Tunnel, konzentrieren sich nur noch aufs
gesunde Essen, die Gedanken kreisen ausschließlich um die nächste Mahlzeit
und deren Bestandteile. "Sie kommen nicht, wenn man sie zum Abendessen
einlädt, und sie gehen nicht mehr aus", sagt Baeck. Alle anderen sind für
sie "Schlechtkostesser", sogar Freundschaften geraten dadurch in Gefahr.
Mangelerscheinungen und Magersucht kommen teilweise dazu.
Bratwurst und Pommes sind für Orthorektiker die Horrorvision schlechthin.
Eine Bekehrung hin zu lasterhaften Lebensmitteln wie Schokoeis und Wiener
Schnitzel gestaltet sich relativ schwierig. Denn: Der Orthorektiker lebt ja
gesund und braucht keine Therapie: "Was sagen Sie zu einer Familie, die
sich gesund ernährt, Sport treibt und im Bioladen einkauft, das Ganze aber
übertreibt?", fragt Baeck. Ab wann ist das Essverhalten abnormal? Ab wann
ist Gesundessen krank? Ab wann ein Zwang? "Die Phase des Umkippens ist
schwer zu erkennen", meint auch Woite. In Selbsthilfegruppen landen
Orthorektiker meist zufällig, da sie zusätzlich magersüchtig oder kurz
davor seien oder aber magersüchtige Kinder haben, erklärt Baeck. "Ich
ernähre mich gesund und achte auf meinen Körper. Was ist daran krank",
klagen die Essopfer. Und bleiben unter sich, anstatt sich therapieren zu
lassen. Hier sei der Freundeskreis gefragt. "Die Leute ansprechen und sie
fragen, was das Ganze soll", rät Woite. Je nach Typ mit der
Holzhammermethode oder einfühlsam. "Ich würde den Leuten klarmachen, was
sie verlieren, und nach individuellem Ersatz für den Zwang suchen", sagt
sie weiter.
Zwanghafte Einstellungen zum Thema Ernährung müssten aufgeweicht werden,
fordert Dr. Christiana Gerbracht vom Deutschen Institut für
Ernährungsforschung in Potsdam. Das Leistungsprinzip ersetze auch beim
Essen mehr und mehr das Genussprinzip. Essen ist aber mehr: Essen heißt
Vergnügen und Genuss, Essen heißt Kommunikation und Sichkennenlernen, Essen
heißt Pause machen, faul sein und den Kalorienzähler ausschalten.Viele
Menschen würden aufs Essen komplett verzichten, wenn es eine Ersatzpille
für die Nahrungsaufnahme gäbe, schätzt Woite mit Blick auf Amerika. "Da
schwappt bestimmt noch einiges zu uns rüber."
20 Jun 2007
## AUTOREN
Marie Hönl
## TAGS
Klischee
Streitfrage
Lebensmittelindustrie
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