# taz.de -- documenta: Kaffeefahrt zur Kunst | |
> Eine organisierte Busfahrt von Berlin nach Kassel erzählt einiges über | |
> die Leichtigkeit der Kunst und die Schwierigkeit, sie angemessen zu | |
> konsumieren. | |
Bild: Hunger? Das ist nicht bloß ein Kuchen. Das ist Kunst! | |
Ein Freitagnachmittag. Berlin-Kreuzberg. Menschen sammeln sich. Manche | |
kennen sich, Unbekannte nicken sich unsicher zu. Erkennen sich an | |
Reisetaschen und Rollkoffern. Nur leichtes Gepäck. Es geht zur Kunst. Ein | |
Wochenende in Kassel mit einem basisdemokratisch organisierten Kunst- und | |
Künstlerverein. Wir haben gebucht, die documenta als Rundumsorglospaket. | |
Mit dabei: Frauen mit leuchtend rot geschminkten Mündern. Frauen mit | |
ausladenden Hüten, großflächigen Ohrringen, exaltierten Brillen und | |
Gummibärchen-Brosche. Frauen, behängt mit grellbunten Tüchern und | |
Handtaschen mit Ethno-Motiven. Frauen in mausgrauem Leinen und lila Bluse, | |
die den Bus zum Kirchentag verpasst zu haben scheinen. Vor allem Frauen. | |
Die Männer tragen graue Dreadlocks oder das Haar kurz rasiert. Die meisten | |
sind Brillenträger. Einige stehen auf Sandalen. Andere scheinen | |
festzusitzen in altmodischen Jacketts. Die Männer sind in der Minderzahl. | |
Jeder Platz ist besetzt im Reisebus. Berlin ist kaum verlassen, sitzt der | |
Bus fest im Feierabendverkehr. Die Geschäftsführerin des Kunstvereins | |
verkürzt die Zeit mit Erklärungen. Ablauf, Eintrittskarten, Führungen, | |
Übernachtungen in der Jugendherberge Kassel (Bettbezüge werden gestellt, | |
Handtücher sind selbst mitzubringen, das Frühstück ist im Preis | |
inbegriffen). | |
Es geht nur schleppend voran. Die Geschäftsführerin blickt über ihre | |
halbrunde Lesebrille hinweg in die Tiefe des Busses und spricht darüber, | |
was die Teilnehmer erwartet. Über Kunst. Über Roger M. Buergels Idee, | |
einige der Ausstellungswände nicht wie üblich in weiß, sondern grün oder | |
gar lachsfarben streichen zu lassen. Über die gescheiterten | |
Mohnpflanzungen: "Die Mohnfelder sind alles andere als eine Assoziation | |
eines Mohnfeldes". Über das Reisfeld, das vom Hang zu rutschen droht: "Eine | |
traurige und schlichte Situation, die aber umzäunt ist". Es geht trotzdem | |
weiter. Die anderen drei Mitarbeiterinnen des Kunstvereins köpfen eine | |
erste Flasche Prosecco. Der Verkehr klärt sich, auf der Autobahn rückt die | |
documenta immer näher. | |
Erste Pause. Vor der Autobahnraststätte sammeln sich die Raucher. Eine | |
Mittvierzigerin fragt: "Machst Du Kunst?" Die andere Mittvierzigerin | |
antwortet: "Auch." | |
Zurück im Bus versetzt das gleichmäßige Ruckeln die Kunstinteressierten in | |
einen Dämmerzustand. Einige lösen Kreuzworträtsel, kaum jemand spricht. | |
Zwei spanischstämmige Mitreisende freuen sich, sich wieder mal die Sprache | |
ihrer Mütter unterhalten zu können. Andere versuchen zu schlafen, niemand | |
schnarcht. Die Mitarbeiterinnen sind auf Bier umgestiegen. | |
Knacken in der Lautsprecheranlage. "Wir erreichen jetzt gleich die | |
Raststätte Harz." Der Busfahrer meldet sich zu Wort. "Nicht mal ein Jahr | |
alt. Links und rechts das Harzgebirge." In der Raststätte, kündigt der | |
Busfahrer an, wartet auf uns eine der modernsten Münztoiletten Europas. | |
Französische Reisegruppen würden extra halten, um sie zu fotografieren. Wir | |
halten. Wir steigen aus. Wir gehen aufs Klo. Dort führt der Busfahrer seine | |
begeisterten Ausführungen fort. Er trägt ein lachsfarbenes Hemd. | |
Ankunft in Kassel. Die Herbergszimmer werden verteilt. Vier Menschen, zwei | |
Stockbetten auf gefühlten acht Quadratmetern. Beim Bettenbeziehen entsteht | |
ein ungelenkes Spontanballett. Vielleicht ist es auch eine soziale Plastik. | |
Die Bettbezüge sind lachsrosa. Die Nacht ist kurz. | |
Samstagmorgen. Eine einzelne Mohnblume wartet vor dem Fridericianum. Die | |
Assoziation eines Mohnfeldes will sich tatsächlich nicht einstellen. Die | |
Reiseleitung hat nicht zuviel versprochen. Die Kunst kann kommen. | |
Wolfgang Thierse ist schon da. Ohne Bodyguards, aber ein wenig zu hektisch | |
hastet er an der Kunst vorbei. Sein weißes Hemd trägt er schlipslos, das | |
Jackett locker über die Schulter gelegt. Seine Haare sind so wirr, dass man | |
glauben könnte, er schläft auch in der Jugendherberge. Die anderen Besucher | |
erkennen ihn nicht oder tun so, als würden sie ihn nicht erkennen. Lieber | |
fotografieren sie mit ihren Digitalkameras zuerst das Kunstwerk, dann noch | |
das Schild zum Kunstwerk. | |
Sieben Stunden später schmerzen die Füße. Zu sehen gab es ein Trampolin mit | |
Tänzerinnen, ein Boot aus Benzinkanistern und kunstvoll zusammen gestürzte | |
chinesische Türen. Zu sehen gab es Gemälde, Fotos, Collagen, Skulpturen, | |
Installationen, Videos, Zeichnungen. Viel Kunst. Sehr viel Kunst. Und | |
natürlich eine ausgestopfte Giraffe. Das Bild von Gerhard Richter war nicht | |
auffindbar. | |
Ein Viertel des Reisebusses versammelt sich zur Führung. Die Frauen, die | |
gestern noch ausladende Hüte trugen, haben heute die Haare hochgesteckt. | |
Die so genannte Vermittlerin vermittelt uns die Philosophie des | |
Kuratorenpaars. Es geht um Räume: Bewegungsräume, Möglichkeitsräume, | |
Erfahrungsräume, Denkräume, Interpretationsräume, Hallräume, Spielräume. | |
Dann zeigt die Vermittlerin auf ein Kunstwerk und sagt: "Das find ich ganz | |
witzig". Niemand lacht. Anderes findet sie "ganz spannend". | |
Es werden Fragen gestellt. Fragen werden beantwortet. Dann nicken einige | |
zustimmend. Geht es um politische Zusammenhänge, um Flüchtlinge oder die | |
Festung Europa, dann wird das zustimmende Nicken durch eine gekräuselte | |
Stirn ergänzt. Eine Mitreisende findet, es werden "Wahrnehmungserfahrungen | |
erzeugt". Eine andere sagt: "Ich bin ja auch Künstlerin, und viele | |
Kollegen, denen muss man die Frage stellen, ob sie verständlich sind". Ein | |
Mitreisender dagegen findet vieles "zu platt". | |
Zum Abschluss der Führung schmerzen die Füße noch schlimmer. Die Gruppe | |
diskutiert, ob es sich noch um Kunst handelt, wenn Ai Weiwei aus | |
logistischen und bürokratischen Gründen nicht 1001 Chinesen auf einmal nach | |
Kassel bringt, sondern nur in überschaubaren Dosen von jeweils 200. Man ist | |
unterschiedlicher Meinung. Einig ist man sich weitgehend darin, dass es | |
eine prima Idee von Ai Weiwei war, 1001 chinesische Stühle nach Kassel zu | |
bringen und zum Sitzen freizugeben. Vor dem Aue-Pavillon kramt ein | |
Obdachloser leere Bionade-Flaschen aus den Mülleimern. | |
Kunst macht hungrig. Das weiß man auch in der anatolischen Imbissgaststätte | |
"Anadolu". Oben wird Döner und Köfte zu konkurrenzlosen Preisen serviert. | |
Im Untergeschoss hat ein unbekannter Künstler die Toiletten gestaltet. | |
Einige wenige naive Pinselstriche haben den Blick aus dem Souterrain- | |
Fenster über dem Pissbecken, der früher aus einer frustrierenden Brandmauer | |
bestand, in eine sonnendurchflutete Landschaft verwandelt. Kunst am Bau. | |
Sonntagmorgen, auf der Straßenbahnfahrt zum Schloss Wilhelmshöhe ist Zeit, | |
essentielle Fragen zu diskutieren. Was ist eigentlich die Mehrzahl von | |
documenta: documente, documenten, documentae? | |
Die Reisfelder vor dem Schloss sind keine Reisfelder, aber dafür gegen das | |
Abrutschen gesichert durch ein weiß-rotes Flatterband. Es nieselt. Der Park | |
riecht gut. Kinderwägen knirschen auf Kies. Im Schloss sind documenta- | |
Objekte versteckt zwischen den schweren Ölschinken der Dauerausstellung. | |
Alle suchen. Für einen Moment vergisst man die schmerzenden Füße. | |
Sonntagnachmittag, Rückfahrt. Die Stimmung im Bus ist entspannt. Die | |
Kunstvereins-Mitarbeiterinnen köpfen ein erstes Krombacher. Sie sind nicht | |
die einzigen. Wieder werden Kreuzworträtsel gelöst. Wörter fliegen durch | |
den Bus: "Katachrese", "spontaneistisches Design", "Vermittlungserfolg". | |
Jemand blättert noch mal im Katalog: "Was ist intelligibel?". Jemand | |
anderes sagt: "Meine ästhetische Neugier ist nicht so richtig befriedigt | |
worden". | |
Ein typischer Dialog: "Diese Künstlerin, wie hieß die noch?" - "War die aus | |
Nigeria oder aus Mali?" - "Das stand in der documenta-Halle hinter der | |
Dings." - "Wo war das?" - "Da hing ein Kabel aus der Wand." - "Die Hängung | |
war für mich eh nicht verständlich." | |
Dann bricht die Demokratie aus. Die Reisegruppe ist gespalten, ob | |
Kreuzberg, Charlottenburg oder der Ostbahnhof angefahren werden sollen. Nur | |
zwei Ziele sind möglich. Auch die Reihenfolge ist umstritten. Jemand bringt | |
auch noch den Alexanderplatz in die Diskussion ein. Abstimmungsleiterinnen | |
ernennen sich selbst, Abstimmungsberechtigungen und Abstimmungsregularien | |
werden diskutiert. Jemand droht, "eine Terrorgruppe" zu gründen im Falle | |
eines für ihn ungünstigen Abstimmungsergebnisses. Es ist nicht ganz klar, | |
ob er nur die kürzlich aufgelöste Kreuzberger Punkband gleichen Namens | |
wiederaufleben lassen möchte. | |
Langsam verliert die Diskussion die verbliebene Restironie. "Ich habe mein | |
Auto in Kreuzberg", argumentiert einer. Dann wird per Handzeichen | |
abgestimmt. Die Auszählung ergibt ein knappes Ergebnis, wird aber nie | |
offiziell verkündet. Die kommissarisch selbsternannte Abstimmungsleiterin | |
stellt daraufhin ihr Amt zur Verfügung. Niemand geht auf das Angebot ein. | |
Berlin ist erreicht. Der Bus hält in Charlottenburg, Kreuzberg und am | |
Ostbahnhof. Die Terrorgruppe wird niemals gegründet. | |
In der S-Bahn wirbt die BLB, Berlin Linien Bus. Für 39 Euro nach London | |
oder Göteborg. Für 29 nach Paris oder Amsterdam. Nur 19 Euro nach Dortmund, | |
Kopenhagen, Nürnberg und Kassel. Billiger sind nur noch Magdeburg , | |
Braunschweig und Hannover für 9,- Euro. | |
26 Jul 2007 | |
## AUTOREN | |
Thomas Winkler | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Jacobs-Museum mit neuem Konzept: Das ganze Aroma | |
Der Ex-documenta-Leiter Roger M. Buergel will das einst biedere | |
Kaffee-Museum in Zürich zu einem globalisierungskritischen Vorzeigeinstitut | |
umgestalten. | |
documenta: Hundert Tage Kunst | |
Was hat eine ausgestopfte Giraffe mit dem Nahostkonflikt gemein? Die | |
documenta provoziert Fragen - wir geben Antworten. Ein Ratgeber für alle, | |
die nach Kassel reisen wollen. | |
Kommentar: Wie politisch ist die Kunst? | |
Die documenta-Kuratoren Buergel und Noack glauben nicht an Kunst als | |
Katalysator des Politischen. Dennoch zeigt die Ausstellung viel über die | |
Gesellschaft. | |
documenta: Die Kunst der Ausstellung | |
Am Samstag beginnt das Spektakel documenta. Trotz ausgestopfter Giraffe und | |
Blumenzucht wirkt die Ausstellung irgendwie museal. |