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# taz.de -- documenta: Hundert Tage Kunst
> Was hat eine ausgestopfte Giraffe mit dem Nahostkonflikt gemein? Die
> documenta provoziert Fragen - wir geben Antworten. Ein Ratgeber für alle,
> die nach Kassel reisen wollen.
Bild: Eins der 530 Kunstwerken der documenta 12, von Ines Doujac
1. Fahren Sie bald. Täuschen Sie sich nicht, die documenta ist schneller
wieder vorbei, als Sie denken. Ab heute läuft der Countdown. Sie haben noch
hundert Tage Zeit, um nach Kassel zu fahren. Ein Besuch lohnt schon allein
wegen der Parkanlagen und musterhafter Fünfzigerjahre-Architektur. Vom
Tempel auf der Schönen Aussicht, gleich neben der Neuen Galerie gelegen,
öffnet sich der Blick in die Aue.
Unten, gegenüber der Orangerie, befindet sich die temporäre Architektur des
Aue-Pavillons, der größte Ausstellungsort der documenta 12. Er sieht aus
wie ein riesiges Gewächshaus oder ein provisorisches Flüchtlingslager. Von
hier aus können Sie wieder zum Friedrichsplatz hinaufsteigen. Dort warten
documenta-Halle und Fridericianum. Vergessen Sie auch nicht, das Schloss
Wilhelmshöhe und das dort angelegte documenta-Reisfeld zu besuchen.
2. Kassel ist überhaupt eine Kunstreise wert. Auf dem Friedrichsplatz ist
derzeit noch kein leuchtendes Rot, nur zartes Grün zu sehen. Die Mohnfelder
der Künstlerin Sanja Ivekovic, die uns unter anderem an die Opiumproduktion
in Afghanistan erinnern könnten, blühen noch nicht - das Wetter ist schuld.
Die Kasseler Innenstadt war immer schon beliebtes Spielfeld für Land
Artists und Konzeptualisten. Wenn Sie ein bisschen Zeit haben sollten,
suchen Sie auf dem Bahnhofsvorplatz die Plakette, auf der Dieter Meier 1972
ankündigte, er werde am Nachmittag des 23. März 1994 eben hier wieder
anzutreffen sein. Oder auf dem Friedrichsplatz den vertikalen Erdkilometer
Kupfer, den Walter de Maria hier versenkte.
Nicht lange suchen müssen Sie das Karussell, das Andreas Siekmann für die
diesjährige documenta aufgestellt hat. Er hat es um das Standbild des
Landesherrn, Friedrich II., herumgebaut, dessen Geltungsbedürfnis wir das
Museum Fridericianum verdanken. Siekmanns Arbeit widmet sich der
"Exklusive". Es drehen sich händeschüttelnde Politiker, hochgerüstete
Polizisten und ausgebeutete Putzfrauen im Kreis. Hier wird unter anderem
der Taxifahrer aus Sachsen gedacht, die wegen des Transports illegaler
Einwanderer nach einer Denunziation verurteilt wurden.
3. Achten Sie auf Chinesen. Die sorgen für faszinierende Interaktionen, wie
in der Straßenbahn am vergangenen Mittwoch geschehen. Eine ältere Dame aus
Kassel fragt ihre asiatische Sitznachbarin: "Are you a Maoist?" Die
Angesprochene antwortet: "No, Im from Thailand." Der Chinese Ai Weiwei hat
für seine Arbeit "Fairytale" 1001 Chinesen zur documenta nach Kassel
eingeladen. Die meisten von ihnen sprechen keine Fremdsprache und waren
noch nie im Ausland.
Genau so viele Stühle hat Weiwei aus seiner Sammlung aufgestellt. Sie
stammen allesamt aus der Qing-Dynastie (1644-1911), und einige von ihnen
sind ironischerweise mit Swastikas verziert, da haben Chinesen und Deutsche
gleich was gemeinsam. (Vielleicht haben Sie Glück und werden Zeuge, wie die
Polizei die verfassungsfeindlichen Symbole abtransportiert.) Die Stühle
stehen größtenteils im Aue-Pavillon in Gruppen zusammen. Sie werden diese
Sitzgelegenheiten bald zu schätzen wissen.
4. Rockenschaubs müssen Sie nicht suchen. Es gibt Künstler, die
überproportional vertreten sind, etwa der NeoGeo-Pionier Gerwald
Rockenschaub. Wenn Sie das zehnte bunte Plastikteil sehen, gehen Sie
einfach weiter, es ist entweder von Rockenschaub oder von John McCracken.
Übersehen Sie aber Rockenschaubs beeindruckendes Plastikschulzimmer nicht!
5. Denken Sie dran, Ihnen soll viel ähnlich vorkommen. Die Kuratoren Roger
Buergel und Ruth Noack stellten sich anfangs die Frage nach der Modernität,
dem nackten Leben und der Bildung. Das hört sich komplizierter an, als es
in Wirklichkeit ist, und war zumindest keine schlechte Idee. Dann aber
formulierten Buergel und Noack das Konzept der "Migration der Formen", das
als gescheitert betrachtet werden darf, wie Sie sehen werden. Es läuft
nämlich schlicht darauf hinaus, formal ähnliche Arbeiten nebeneinander zu
stellen und darauf zu hoffen, dass sich Zusammenhänge herstellen, die es
nicht geben kann.
6. Fragen Sie sich: Bin ich Anarchist? Oder aus der Mittelschicht? Ihnen
kann geholfen werden. Buergel und Noack halten Kunst nicht für einen
Reparaturbetrieb für soziale und politische Defizite. Recht so. Sie soll
die Kategorien transzendieren, in denen wir Gesellschaft denken.
Ästhetische Autonomie hat für die beiden wiederum einen befreienden Effekt
gegenüber bestehenden Verhältnissen.
Daher ist diese documenta nur an der Oberfläche eine Ausstellung, in der
das Textil, der Faden und das organisch Runde eine wichtige Rolle spielen,
sie widmet sich der immer aktuellen Frage des Verhältnisses zwischen dem
autonomen Individuum und dem Kollektiv. Der Versuch, diesen Konflikt zu
lösen, macht der documenta aber Probleme, und die Ausstellung droht immer
wieder in ein wohliges Gesamtkunstwerk umzukippen. Es ist das alte Problem
des Anarchismus: Er funktioniert höchstens, wenn alle sich kennen.
Die documenta sei mit westlichen Mittelschichten konfrontiert, die
tendenziell reaktionärer und reaktiver werden oder eben aktivistischer und
neugieriger, hat Buergel außerdem ganz richtig analysiert. Man kann
hinzufügen: Das eine schließt das andere nicht aus, und auch die Kunst
bleibt davon nicht verschont. Siehe dazu: 9.
7. Sie finden das schön? Die Kritik sagt Nein. Ein konkretes Ergebnis der
Auseinandersetzung mit dem Modernismus werden Sie schnell bemerken. Der
White Cube, der ideale, neutrale Ort des Modernismus, wurde nämlich
eliminiert. Will heißen, die Wände des Fridericianums und der Neuen Galerie
leuchten in Rot, Grün und Blau. Im Fridericianum komplettieren außerdem
lange weiße Vorhänge das Bild. Wo man sie aufgehängt hat, obwohl sie gar
nicht gebraucht werden, wurden sie kurzerhand als verbrecherisches Ornament
zusammengerollt.
Das ist natürlich reine Provokation der Kritik. Boshafte Kritiker auch in
dieser Zeitung haben sich nicht lumpen lassen und das Wort vom "Schöner
Wohnen" in die Runde geworfen. So schlimm ist es auch wieder nicht. Hier
zeigt sich aber ein generelles Problem. Denn die Kuratoren verstehen sich
und die Ausstellung als Medium. Ironischerweise erscheinen sie aber grade
wegen solcher übergreifender Designentscheidungen als eigentliche
Großkünstler.
8. Lassen Sie sich nicht provozieren. Provoziert werden aber nicht nur die
Kritiker, auch Sie könnte es treffen: Wenn Sie Walser-Fan oder
passionierter Leser eines beliebten deutschen Nachrichtenmagazins sind,
wenn Sie sich nicht gerne an Rostock-Lichtenhagen und andere Orte der
jüngsten deutschen Geschichte erinnern lassen, sondern lieber den
"Untergang" im Zweiten sehen, dann halten Sie sich besser von Alice
Creischers Arbeit im Aue-Pavillon fern. Sie könnten unliebsame
Überraschungen erleben.
9. Sie haben Knut! Trotzdem keine Angst vor politischen Arbeiten. So manche
explizit politische Äußerung auf dieser documenta ist populistisch, sagt
Ihnen nichts, was Sie nicht schon wüssten, oder ist im schlimmsten Fall
sogar ausgesprochen dumm. Man könnte vom Exilchilenen Juan Davila erzählen,
der in Australien Konzentrationslager entdeckt und die Stars der
amerikanischen Flagge durch ein Hakenkreuz ersetzt hat.
Das eigentliche Musterbeispiel ist aber Giraffe Brownie, der Knut der
documenta 12. Brownie verendete am 19. August 2002 im Zoo von Qalqiliya,
dem einzigen im Westjordanland. Es war die Zeit der zweiten Intifada,
weswegen die israelische Armee in die Stadt einmarschierte und es zu
Gefechten kam. Brownie stürzte aus Panik, starb, wurde ausgestopft und vor
kurzem nach Kassel gebracht. Merke: Der Nahostkonflikt ist eine der
Katastrophen, mit denen man wunderbar in der Kunstwelt reüssieren kann,
ohne auch nur die leiseste Denkbewegung vollbracht zu haben. Ja, die
Giraffe ist tot.
10. Achten Sie auf diese Arbeiten. Sie können schöne, traurige, humorvolle,
intelligente und bewegende Arbeiten auf dieser documenta sehen. Zum
Beispiel Jo Spences Arbeit, die vom Kampf gegen den Krebs und der
Entmündigung des Kranken erzählt, Harun Farockis Fußballinstallation, Kerry
James Marshalls Gemälde, die Bilder von Annie Pootoogook, die Fotos von
Louise Lawler, die Bildersammlung Luis Jacobs, Harvey Keitel in James
Colemans Film, Saadane Afifs robotisches Gitarrenorchester oder Lukas
Duwenhöggers Vorschlag für ein Mahnmal für die verfolgten Homosexuellen im
Nationalsozialismus und danach.
14. Und jetzt noch der Geheimtipp. Roger Buergel und Ruth Noack haben eine
ganze Reihe poetischer und gewitzter Konzeptkunst aus Osteuropa
ausgegraben. Das ist das nächste große Ding. Also schauen Sie genau hin.
16 Jun 2007
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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