| # taz.de -- DDR-Mauerschüsse: Neue Weisung für alte Regel | |
| > Zum ersten Mal taucht ein Dokument auf, das detailliert belegt, wie | |
| > brutal die DDR-Führung an der Grenze vorging. Trotzdem handelt es sich | |
| > nicht um den lang gesuchten Schießbefehl | |
| Bild: Saß viereinhalb Jahre wegen der Mauertoten: Der letzte Verwalter des DDR… | |
| Was bedeutet die jetzt in Magdeburg gefundene Dienstanweisung, die einen | |
| Angehörigen der Stasi in der Uniform der Grenztruppen ermächtigte, | |
| flüchtende Kameraden - wenn nötig mitsamt ihrer Familie - zu erschießen? | |
| Was hat sich geändert an einer möglichen späten Strafverfolgung? Vieles, | |
| meint Hubertus Knabe, Leiter des Stasi-Gedächtnisortes Hohenschönhausen. | |
| Jetzt sei es möglich, erneut Verfahren wegen Mordes oder Totschlags an der | |
| Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten aufzunehmen. Eine voreilige | |
| Einschätzung, denn bei der Dienstanweisung handelt es sich gerade nicht um | |
| den lang gesuchten allgemeinen Schießbefehl. Aber auch wenn der gefunden | |
| würde, änderte dies nichts an dem komplizierten, umstrittenen Weg der | |
| Rechtsverfolgung gegenüber den Verantwortlichen für die Toten an der Mauer. | |
| Die Justiz der Bundesrepublik hat sich gerade mit den Tötungsdelikten an | |
| der Grenze außerordentlich schwer getan. Die Aburteilung der Täter durch | |
| Gerichte einer demokratisch erneuerten DDR schied mit der Vereinigung | |
| beider deutscher Staaten im Oktober 1990 aus. Auch wäre sicher zweifelhaft | |
| gewesen, ob solche "Revolutionstribunale" den rechtstaatlichen | |
| Erfordernissen genügt hätten. Die Gerichte der Bundesrepublik ließen sich | |
| bei den Mauerschützen-Prozessen zunächst davon leiten, dass im Prinzip das | |
| zum Zeitpunkt der Tat gültige DDR-Recht anzuwenden sei. 1982 hatte die | |
| DDR-Volkskammer ein Grenzgesetz verabschiedet. Es sah den | |
| Schusswaffengebrauch insbesondere für Flüchtende aus der DDR, also die | |
| "Grenzverletzer" in Richtung Westen vor. Außerdem existierten inoffizielle | |
| Anweisungen, wann und wie zu schießen sei. Während bei der Ausbildung der | |
| Soldaten der gesamte Komplex des Schusswaffengebrauchs an der Grenze | |
| absichtsvoll undeutlich blieb, war die "Vergatterung" bei den Grenzsoldaten | |
| konkret und eindeutig. Sie ließen sich in der Faustregel zusammenfassen: | |
| "Besser der Flüchtling ist tot, als dass die Flucht gelingt." | |
| Die Anwendung von DDR-Recht bei den bundesrepublikanischen Gerichten folgte | |
| dem Prinzip des Rückwirkungsverbots, also der Unzulässigkeit, einen Täter | |
| auf Grund von Gesetzen zu verurteilen, die zur Tatzeit für ihn nicht | |
| galten. Dieses Prinzip hat in der Bundesrepublik Verfassungsrang. Nach | |
| Auffassung des Bundesgerichtshofs und später des Bundesverfassungsgerichts | |
| unterlag das Rückwirkungsverbot allerdings einer Einschränkung. Es sollte | |
| nicht gelten, wenn der Widerspruch des positiven Gesetzes (also hier des | |
| Grenzgesetzes) zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreiche, dass | |
| das Gesetz als "unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen habe. Nach | |
| dem demokratisch gesinnten Weimarer Juristen Gustav Radbruch sprach man | |
| hier von der "Radbruch-Formel". Sie wurde angewandt, allerdings zeigten die | |
| fast durchwegs milden Urteile gegen die Mauerschützen, dass den Gerichten | |
| bei dieser Anwendung nicht ganz wohl war. | |
| Für ein weiteres Problem sorgte der Umstand, dass Prozesse gegen die | |
| unmittelbaren Schützen an der Mauer zu einem Zeitpunkt liefen, als noch | |
| kein einziges Mitglied der SED-Führungsgruppe angeklagt war. Was den | |
| Gemeinspruch "Die Kleinen hängt man " zu bestätigen schien. Dabei war es | |
| offensichtlich, dass eine Befehlskette vom Politbüro der SED zum Nationalen | |
| Verteidigungsrat der DDR, dem Chef der Grenztruppen, zu den Kommandeuren | |
| der Grenzregimenter führte, wo die entsprechenden Befehle umgesetzt wurden. | |
| In den späteren Prozessen gegen Mitglieder des Politbüros wurde diese | |
| Befehlskette überhaupt nicht bestritten. Vielmehr wurde das Grenzregime als | |
| unausweichliche Folge der Ost-West-Systemkonfrontation angesehen. | |
| Insbesondere Egon Krenz, der letzte Staatsratsvorsitzende, machte geltend, | |
| dass die Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze das gesamte östliche | |
| Militärbündnis, also den "Warschauer Vertrag" angingen und deshalb jede | |
| Veränderung der Zustimmung der Bündnispartner, insbesondere der Sowjetunion | |
| bedürfe. Eine Darstellung, der sich die Gerichte nicht anschlossen und der | |
| auch später von russischen Diplomaten widersprochen wurde. Sodass der | |
| zweite Teil des Gemeinspruchs " und die Großen lässt man laufen" sich doch | |
| nicht bewahrheitete und dem Rechtsfrieden ein Dienst erwiesen wurde. | |
| Da im Rahmen des Einigungsvertrages festgelegt wurde, dass Mord nicht | |
| verjährt, wären theoretisch erneute Ermittlungsverfahren möglich, die den | |
| mörderischen Einsatz eingeschleuster Agenten des MfS betreffen. Aber von | |
| einer möglichen Rechtspraxis her gesehen hat das jetzt aufgefundene | |
| Dokument nur geringe Bedeutung, denn solche Verfahren wären auch nach der | |
| Beweislage in den 90er-Jahren möglich gewesen. Anders sehen das natürlich | |
| die politischen Kräfte in der Bundesrepublik, die die Exmachthaber des | |
| Realsozialismus heute überall in führenden Positionen wähnen und für die | |
| der Prozess der Geschichtsrevision zugunsten der SED bereits im vollen | |
| Gange ist. Für sie wären solche erneuten Mauerschützen-Prozesse ein | |
| Instrument, sich gegen den vorgeblich übermächtigen Druck der | |
| "Normalisierung" und des "Vergessens" zur Wehr zu setzen. | |
| 12 Aug 2007 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Semler | |
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| Ausstellung | |
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