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# taz.de -- Aktenfund zu DDR-Flüchtlingen: "Den Verräter liquidieren"
> Eine Spezialeinheit der Stasi sollte die Flucht von DDR-Grenzern unter
> allen Umständen verhindern. Auch mit der Waffe und ohne Warnung, wie eine
> Dienstanweisung zeigt
Bild: "Aufsehenerregender und bedeutsamer Fund": Jörg Stoye, Leiter der Magdeb…
BERLIN taz Der Inhalt der sechseitigen Dienstanweisung vom 1. Oktober 1973
lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. "Zögern Sie nicht mit der
Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit
Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zunutze
gemacht haben." Die "Verräter", das waren DDR-Grenzsoldaten, die
verdächtigt wurden, in den Westen fliehen zu wollen. Und der Befehl galt
einer von 1968 bis 1985 bestehenden Spezialeinheit des Ministeriums für
Staatssicherheit (MfS), deren Aufgabe die Verhinderung eben solcher
Fluchten war.
Die Dienstanweisung fand sich jetzt in den Akten eines Unterfeldwebels, der
von 1971 bis 1974 in den Grenztruppen der DDR eingesetzt war. Dem Fund
vorausgegangen waren Recherchen der Magdeburger Volksstimme, die bei der
Stasiunterlagenbehörde in Magdeburg ein Forschungsprojekt zum Thema
Einfluss der Staatssicherheit auf den Bezirk Magdeburg eingereicht hatte.
Fahnenfluchten müssten rechtzeitig erkannt und vereitelt werden, heißt es
in dem Befehl. Bei Notwendigkeit sei die Schusswaffe "konsequent"
anzuwenden, "um den Verräter zu stellen bzw. zu liquidieren".
Wie der Sprecher der Stasiaktenbehörde, Andreas Schulze, gestern in Berlin
bestätigte, handelte es sich bei dem Unterfeldwebel um einen Angehörigen
einer Sondereinheit, die unter dem Namen "Einsatzkompanie der HA I"
firmierte. HA I steht für Hauptabteilung eins, und deren Aufgabe war die
Überwachung und "Absicherung" der Nationalen Volksarmee und der
Grenztruppen der DDR. Einzelkämpfer dieser Einheit wurden eingesetzt, wenn
das MfS über Hinweise verfügte, dass sich Grenzsoldaten in den Westen
absetzen könnten. Diese Hinweise konnten über Stasispitzel oder über die
Post- und Telefonüberwachung zustande gekommen sein. In einem solchen
Verdachtsfall wurde ein Mitglied der Spezialtruppe unter einer Legende in
die entsprechende Einheit der Grenztruppe eingeschleust. In diesem Kontext,
so Behördensprecher Schulze, sei dem Stasimann dann die Dienstvorschrift
überreicht worden, die er mit "Befehl erhalten, Befehl verstanden" zu
quittieren hatte.
Aus Sicht des MfS mag durchaus Handlungsbedarf bestanden haben. So sollen
zwischen 1971 und 1974 den Recherchen der Zeitung zufolge 144 Soldaten in
den Westen geflohen sein. Insgesamt habe es mehr als 2.800 "Verräter und
Grenzverletzer" gegeben.
Behördensprecher Andreas Schulze legt bei aller Bedeutung der jetzt
gefunden Anweisung aber Wert darauf, dass die Papiere nicht mit dem
allgemeinen Schießbefehl an die DDR-Grenzsoldaten verwechselt werde.
"Bisher fanden wir in Dienstanweisungen zwar Passagen, die den
Schusswaffengebrauch als letztes Mittel einräumten", sagte Schulze. Aber
zuvor hätten die Grenztruppen laut Befehl immer erst mehrfach und eindeutig
vorwarnen müssen. "Sie mussten die Flüchtlinge zum Beispiel zum Anhalten
auffordern und Warnschüsse in die Luft abgeben." Davon stehe in dem jetzt
entdeckten Schießbefehl nichts. Auch richtete sich diese Anweisung nicht
allgemein gegen fluchtwillige Bürger, sondern ausschließlich gegen
Angehörige der Grenztruppen.
Die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, erklärte
nach Bekanntwerden der Anweisung, "das Dokument ist deswegen so wichtig,
weil der Schießbefehl von den damals politisch Verantwortlichen nach wie
vor bestritten wird".
Der streitbare Historiker und Leiter der Gedenkstätte für Stasi-Opfer in
Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, fordert nun die Staatsanwälte auf,
die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu prüfen. Knabe: "Der
aufgefundene Befehl ist eine Lizenz zum Töten" und könne als Anstiftung zum
Mord oder Totschlag gewertet werden.
Die Staatsanwaltschaft Magdeburg hält Ermittlungen grundsätzlich für
denkbar. Sie will aber zunächst die Zuständigkeit prüfen. "Ermittelt werden
müsste dort, wo der Befehl erlassen wurde", sagte Oberstaatsanwältin Silva
Niemann der Nachrichtenagentur dpa. "Grundsätzlich verjährt Mord nicht,
sodass das Dokument Ermittlungen nach sich ziehen kann."
12 Aug 2007
## AUTOREN
Wolfgang Gast
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