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# taz.de -- Filmfestspiele Venedig: Verliebt in die Farben
> Couscous, eingelegte Pfefferschoten, Mangos und Pfannkuchen - Abdellatif
> Kechiche und Wes Anderson beobachten in ihren Filmen Familien beim Essen.
Bild: Adrien Brody isst in Wes Andersons "The Darjeeling Limited" Huhn
Ein großer Topf Couscous, Gemüse, gebratene Fischhälften, eingelegte
Pfefferschoten: das ist das Sonntagsgericht der Familie von Beiji Slimane.
Alle sind in der engen Hochhauswohnung versammelt, das halbe Dutzend
Kinder, die Frau, die Schwiegersöhne und -töchter, die Enkelkinder, die
Tanten und die Onkel. Alle lieben und loben den Couscous, alle reden auf
Französisch und durcheinander - zum Beispiel über Diätvorhaben, den Preis
von Windeln oder die Frage, wann überhaupt man noch Arabisch spricht (wenn
man miteinander schläft oder einen Wutausbruch hat). Die Kamera von Lubomir
Bakschew hängt an den Lippen der Figuren, sie folgt den Fingern, die nach
Gräten pulen oder Pfefferschoten zum Mund führen. Sie ist dabei agil, fast
fahrig, und wenn der Couscous am Gaumen pappt, schaut sie trotzdem für
Sekunden in die Mundhöhle.
Nur einer fehlt: Beiji Slimane selbst, der 61 Jahre alte, hagere,
ausgezehrte Mann (Habib Boufares), der im Begriff ist, seine Stelle auf
einer Schiffswerft zu verlieren. Er ist das stille Zentrum in Abdellatif
Kechiches neuem Film "La grain et le mulet" ("The Secret of the Grain"),
der in der südfranzösischen Hafenstadt Sète spielt. Slimane fehlt, weil er
schon lange nicht mehr zu Hause wohnt - er ist einer anderen Frau begegnet
und lebt nun bei ihr, in dem kleinen, recht schäbigen Hotel, das sie führt.
Ein Skandal, möglicherweise. Möglicherweise aber auch nur eine Erweiterung
der Großfamilie auf außergewöhnliche Art. Die Söhne Slimanes zögern nicht,
eine Schüssel mit Couscous ins Hotel zu bringen, und Rym, die Tochter von
Slimanes neuer Gefährtin (Hafsia Herzi), sagt zwischen gierigen Bissen: "So
einen guten Couscous habe ich lange nicht mehr gegessen."
"Le grain et le mulet", ein Beitrag zum Wettbewerb, nimmt sich lange Zeit
die Freiheit, der großen, komplizierten Familie Slimanes einfach nur
zuzuschauen - beim Essen, beim Streiten, beim Versöhnen, bei der Arbeit,
beim Reden und Schreien, und das hat dank der wendigen Kamera viel Charme.
Doch nach einer Weile scheint das Hin- und Zuschauen dem Regisseur, der mit
seinem vorangegangenen Film, "Lesquive" (2003), mehrere Césars gewann,
nicht mehr zu reichen. Ein richtiger Plot muss her, ein Restaurant soll
gegründet werden, und nun folgt man Slimane und Rym, wie sie die Kräfte der
Großfamilie mobilisieren, um das Unwahrscheinliche wahr werden zu lassen.
Intensive Szenen gibt es auch jetzt noch, nur sind diese Momente merklich
dem Plot untergeordnet, und der duftet ein wenig nach Milieustudie, milde
abgeschmeckt mit den Zutaten der Multikultikomödie.
Noch ein zweiter Film im Wettbewerb nähert sich einer komplizierten
Familie, indem er sie beim Essen beobachtet. "The Darjeeling Limited" von
Wes Anderson erzählt von drei Brüdern, die durch den indischen Bundesstaat
Rajasthan reisen, nachdem sie sich lange nicht gesehen haben. Francis
Whitman (Owen Wilson) hat die Reise als spiritual journey konzipiert, da er
nach einem Motorradunfall dem Tod nahe war. Sein geheimes Ziel ist es, die
Mutter (Anjelica Huston) zu besuchen, die sich in ein entlegenes,
christliches Kloster zurückgezogen hat. Im Speisewagen des Zuges befiehlt
Francis seinen Brüdern mehr, als dass er sie fragt: Huhn für Peter (Adrien
Brody), Lamm für Jack (Jason Schwartzman) und Suppe für alle. Den leisen
Protest - "Bestell doch bitte nur für dich selbst" - überhört er. Als die
Brüder nach vielen Umwegen bei der Mutter ankommen, ordert sie das
Frühstück schon am Vorabend. Mangoscheiben für Jack, Pfannkuchen für Peter,
Omelett für alle.
Wie "La grain et le mulet" ist "The Darjeeling Limited" eine Komödie,
überbordend in ihrer Verspieltheit, putzig in ihrer Detailversessenheit,
verliebt in die intensive Farbigkeit Indiens - und zugleich ist Andersons
Film maßlos traurig. Dies nicht nur deshalb, weil die Figuren in seinen
Filmen immer versehrt sind, ohne dass man genau wüsste, weshalb, und schon
gar nicht, wie ihnen zu helfen wäre. Mehr noch, weil die Wirklichkeit auf
den Film übergreift. Einmal sagt Francis Whitman, er sei mit seinem
Motorrad absichtsvoll von der Straße abgekommen. Seit Anfang letzter Woche
ist bekannt, dass Owen Wilson nicht nach Venedig reist, da er sich von
einem Selbstmordversuch erholt.
CRISTINA NORD
4 Sep 2007
## AUTOREN
Cristina Nord
Cristina Nord
## TAGS
Welthandel
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