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# taz.de -- Filmfestspiele Venedig: Die Dylan-Maschine
> "Help me Eros" verwebt Aale und Sex und "I'm not there" widmet sich Bob
> Dylan. Sechs Schauspieler, darunter Cate Blanchett, dürfen mal "er" sein.
Bild: Brille, Haare, Kippe - fertig ist die Dylan-Ikone.
In der Nacht geht ein Gewitter nieder. An Schlaf ist in der dichten Folge
von Donner und Blitz nicht zu denken. Am Morgen fällt noch immer dichter
Regen. Tiefe Pfützen haben sich auf den Straßen und den Bürgersteigen
gebildet. An normalen Tagen radle ich in der Früh auf einem Deich am Meer
entlang ins Kino, während sich Eidechsen und erste Badegäste auf den
Steinen sonnen. Jetzt schaue ich aus einem beschlagenen Busfenster auf
Straßen, Bäume und Häuser, als wäre die Welt ein Aquarium. Wenig später
peitscht der Wind gegen die Holzwände der Sala Palalido, rund um den
Palazzo del Casinò bringt er Stellwände und Plakate zum Umstürzen. Es wird
Herbst in Venedig.
Das daraus resultierende Gefühl leichter Unbehaustheit verstärkt sich in
Lee Kang-Shengs Wettbewerbsfilm "Bang Bang Wo Aishen" ("Help me Eros"). Der
Taiwaner Lee Kang-Sheng ist eher als Schauspieler denn als Regisseur
bekannt, da er in den Filmen Tsai Ming-Liangs auf die Hauptrolle abonniert
ist. Sein erster eigener Film, "Bu jian" ("The Missing"), entstand vor vier
Jahren und gewann beim Filmfestival in Rotterdam einen Tiger Award.
Wie Tsai Ming-Liang arbeitet Lee Kang-Sheng mit Figuren, die jeden Halt
verloren haben. "Bang Bang Wo Aishen" kreist um Ah Jie (von Lee selbst
gespielt), der durch eine Börsenkrise sein Vermögen eingebüßt hat, und um
Shin (Yin Shin), die in einem Stand vor Ah Jies Haus Betelnüsse und
Zigaretten verkauft. Die Bilder fächern sich auf. Meist umfasst ihre
Komposition zwei oder mehr Ebenen, etwa durch einen Spiegel, der die erste
Bildebene aus einem anderem Blickwinkel einfängt und damit die
Zentralperspektive der Kamera (Liao Pen-Jung) aufbricht. Manchmal rücken
zwei oder drei Räume ins Bild, duch Schwellen oder Durchgänge miteinander
verbunden, manchmal wird ein Teil des Bildes von einem TV-Screen
beherrscht.
Am Anfang etwa liegt Ah Jie reglos auf einem schlauchähnlichen Möbelstück,
während im Fernsehen eine Kochshow läuft. Ein Karpfen zappelt in einem
Waschbecken. Obwohl er noch lebt, wird er geschuppt und filettiert. Noch
als er auf dem Teller angerichtet und mit Sauce übergossen wird, schnappt
er nach Luft. "Was er jetzt wohl denkt?", fragt der Koch seinen
Assistenten. "Er wird um Hilfe rufen", antwortet der. Viel später steigt
die Frau des Kochs in eine Badewanne voller Aale, spreizt die Beine und
hat, wenn sich das so sagen lässt, Sex mit den Fischen.
Fremde, geheimnisvolle Welt, fremdes geheimnisvolles Kino. Todd Haynes hat
sich in seinem Wettbewerbsfilm "Im not there" der Vita Bob Dylans
zugewandt. Anstatt ein popeliges Biopic zu drehen, wie es etwa James
Mangold mit "Walk the Line" und Johnny Cash tat, hat sich Haynes Arthur
Rimbauds Satz "Ich ist ein Anderer" zu Herzen genommen. Bob Dylan wird von
sechs Schauspielern mal distanziert, mal mit naturalistischer Verve
gespielt (unter ihnen, ziemlich klasse, Cate Blanchett). Er trägt sechs
verschiedene Namen (unter ihnen Arthur Rimbaud), nur nicht den eigenen. Der
Film lässt sich auf ein großes Risiko ein. Er erprobt mit jeder Dylan-Figur
einen neuen Stil, ohne dass das Puzzle ein kohärentes Ganzes ergäbe. "Im
not there" kopiert die konventionelle Musikdokumentation mit ihren Talking
Heads genauso wie den Warhol-Look der 60er-Jahre, zitiert den Film "Dont
Look Back" von D. A. Pennebaker, der die Tour Dylans durch Großbritannien
im Jahr 1965 dokumentiert, und springt von dort in ein wunderliches
Westernsetting, in dem Richard Gere den Outlaw Billy the Kid in Dylan
hineinfließen lässt.
Leitmotivisch variiert der Film folgende Fragen: Wie viel Renegatentum ist
im Musikbusiness möglich? Wo schlägt es in Ausverkauf und Selbstverrat um?
Oder ist diese Dichotomie - Protest versus Anpassung, Minderheit versus
Mainstream, akustische Gitarre versus elektrische Verstärkung - nicht von
Anfang an falsch, ein unbrauchbares Denkwerkzeug? Die Proliferation der
Stile bewirkt dabei, dass es so etwas wie einen originären Standpunkt, eine
Zentralperspektive nicht gibt. Die Bilder sind da, sie sind aber nicht mit
dem Film identisch. Beziehungsweise: Der Film ist mit sich selbst nicht
identisch. Aber wer will schon den ganzen Tag lang er selber sein?
4 Sep 2007
## AUTOREN
Cristina Nord
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