# taz.de -- Verschollener Stummfilm: Josef von Sternbergs Erbe | |
> Von "The Case of Lena Smith", Josef von Sternbergs berühmtem Stummfilm, | |
> existieren nur noch wenige Minuten. Eine Publikation geht ihrer Spur | |
> nach. | |
Bild: Zu Zeiten des Tonfilms: Josef von Sternerg (li.) mit Marlene Dietrich und… | |
Eine junge Frau steht vor der Fensterfront eines Wiener Kaffeehauses. | |
Drinnen sitzt eine Gruppe von Offizieren. Als sie zögerlich vor der | |
Eingangstür stehen bleibt, erweckt sie deren Aufmerksamkeit. Sie geht | |
weiter; einer der Männer greift seine Mütze und folgt ihr in sicherem | |
Abstand. Ein Zwischentitel verrät seinen Unmut über die Begegnung. "Willst | |
du mich vor meinen Kameraden in Verlegenheit stürzen? Wir können in der | |
Öffentlichkeit nicht zusammen gesehen werden." Das Mädchen, Lena, sagt dem | |
Mann, dass die Behörden ihr das Sorgerecht für ihr gemeinsames Kind | |
entzogen haben und den Jungen nur gegen die Zahlung von 1.000 Kronen | |
zurückgeben werden. Ungerührt entgegnet der Offizier, dass er so viel Geld | |
nicht habe. Als sie droht, ihre Ehe öffentlich zu machen, erklärt er, dass | |
sie nichts gewinne, wenn sie einen Skandal provoziere. Höflich grüßend | |
wendet er sich ab und lässt Lena auf der Straße stehen. Abblende. | |
Diese Schlüsselszene aus Josef von Sternbergs berühmten Stummfilm "The Case | |
of Lena Smith" markiert den tragischen Wendepunkt in der Geschichte des | |
Wiener Hausmädchens Lena Smith. Seit über fünfzig Jahren wurde sie von | |
niemandem gesehen. Ihre einzige Überlieferung stammt aus der Feder des | |
Filmkritikers Takada Masaru, dessen Szenentranskription 1929 in der | |
japanischen Filmzeitschrift Eiga Orai veröffentlicht wurde. Vermutlich | |
stellt diese Transkription heute das beste Zeugnis davon dar, wie von | |
Sternbergs Film bei seiner Premiere einmal ausgesehen haben mag. Die letzte | |
Filmkopie wurde in den Fünfzigerjahren von der Produktionsfirma Paramount | |
Pictures zerstört. | |
Eine kleine Sensation | |
Anfang der Fünfziger stieg die amerikanische Filmindustrie vom | |
hochempfindlichen Nitrozellulosematerial auf das chemisch vermeintlich | |
stabilere Zellulosetriacetat um, nachdem sich die Lagerung der Nitrofilme | |
als unkalkulierbares Risiko herausgestellt hatte. Im Zuge dieser Säuberung | |
wurden unzählige Kameranegative und Filmkopien, die sich noch auf Nitrofilm | |
befanden, für immer vernichtet. Es war die zweite große Säuberungswelle | |
nach dem Umstieg der Filmindustrie auf Ton Ende der Zwanzigerjahre. Damals | |
war quasi über Nacht die gesamte Stummfilmära mit einem Fingerschnipsen | |
entwertet worden. Historiker beziffern den Anteil der verlorenen Filme aus | |
der Stummfilmära heute auf erschütternde 85 bis 90 Prozent. Es hatte die | |
Studiobosse ein müdes Lächeln gekostete, die kostbaren Negative von | |
inzwischen klassischen Stummfilmtiteln den Bulldozern zu überantworten. | |
Josef von Sternbergs "The Case of Lena Smith" ist der Willkür der Studios | |
gleich zwei Mal zum Opfer gefallen. Als er im Januar 1929 als einer der | |
letzten großen Stummfilme in die amerikanische Kinos kam, hatte der Tonfilm | |
bereits seinen Siegeszug angetreten. Von Sternberg wurde im Gegensatz zu | |
vielen seiner Kollegen von den Kritikern wenigstens noch besprochen. Das | |
Publikum aber war, wie auch der Kinobetrieb, längst auf Tonfilm | |
eingestellt. Als im folgenden Jahr von Sternbergs erster Tonfilm | |
"Thunderbolt" anlief, überaus erfolgreich noch dazu, war "The Case of Lena | |
Smith" vergessen. Die organisierte Vernichtungsaktion der Hollywoodstudios | |
in den Fünfzigerjahren, die von einigen Zeitzeugen als wahres Massaker | |
beschrieben wurde (in Filmjournalen tauchen immer wieder Fotos von | |
Vorschlaghämmer schwingenden Studioangestellten auf), gab dem Andenken von | |
von Sternbergs letztem Stummfilm den Rest. Heute gilt "The Case of Lena | |
Smith" als einer der bedeutendsten verlorenen Filme der Filmgeschichte. | |
Es kam einer kleinen Sensation gleich, als der japanische Filmhistoriker | |
Komatsu Hiroshi 2003 auf ein vierminütiges Fragment von "The Case of Lena | |
Smith" stieß: in einem Altwarenladen in der Mandschurei. Wie die Filmrolle, | |
mit englischen Zwischentiteln, hierher gelangte, bleibt bis heute ein | |
Rätsel. Sicher ist, dass sie vorerst das einzige physische Überbleibsel von | |
von Sternbergs Film ist. Zugleich enthält das Fragment eine der | |
signifikantesten Szenen des Films. Es zeigt Lena und deren Freundinnen Pepi | |
und Poldi beim Schlendern über den Wiener Prater, vorbei an Spielbuden und | |
Schaustellern, und beim Flirt mit zwei jungen Offizieren. Von Sternberg hat | |
die aufgekratzte Jahrmarktsstimmung mit viel Chuzpe eingefangen; | |
Doppelbelichtungen und relativ kurze Schnitte vermitteln ein schönes Bild | |
vom hektischen Amüsement im Wien des späten 19. Jahrhunderts: eine | |
nostalgische Rückschau auf lokale Traditionen mit den gestalterischen | |
Mitteln der Moderne. | |
Dass ausgerechnet diese Szene die Jahre unbeschadet überstanden hat, ist | |
vielleicht ein Wink des Schicksals. Für von Sternberg, der Ende der | |
Zwanzigerjahre längst in Amerika sesshaft war, bedeutete "The Case of Lena | |
Smith" eine Rückkehr in seine alte Heimat, die er Jahre später in seinen | |
Memoiren noch einmal äußerst lebhaft beschreiben sollte. Das | |
Jahrmarktsfragment scheint fast so etwas wie das Herzstück des Films zu | |
sein, in dem, völlig isoliert vom Rest, eine autobiografisch angehauchte | |
Sehnsucht zum Ausdruck kommt, die der Kosmopolit von Sternberg bis zu | |
seinem Tod mit dem Ort seiner Jugend verband. | |
Kraus und Schnitzler | |
Die Wiener Synema-Gesellschaft und das Österreichische Filmmuseum haben | |
Josef von Sternbergs verlorenem Klassiker "The Case of Lena Smith" nun mit | |
einer Buchveröffentlichung ein kleines Denkmal gesetzt. Es dürfte das erste | |
Buch sein, das sich gänzlich einem Film widmet, der nachfolgenden | |
Generationen nicht erhalten geblieben ist. Mitherausgeber Alexander | |
Horwath, Direktor des Österreichischen Filmmuseums, beschreibt das Ziel der | |
Publikation folgendermaßen: Zunächst unternimmt "Josef von Sternberg - The | |
Case of Lena Smith" den Versuch, basierend auf einer Vielzahl von Schrift- | |
und Bilddokumenten, von Sternbergs Film möglichst akkurat zu | |
rekonstruieren. Diese historische Studie sollte in einem ästhetisch | |
ansprechenden Rahmen geschehen, was nichts anderes heißt, als dass dabei am | |
Ende, wie Horwath es unverwechselbar wienerisch-lapidar ausdrückt, ein | |
"schönes Buch" herauskommen sollte. Beides ist geglückt. | |
Horwath und seine Mitstreiter konnten dabei auf einen umfassenden Fundus | |
von zeitgenössischen Kritiken, Drehbuchsynopsen und Zensurkarten, | |
überlieferten Zwischentiteln, Standbildern, Produktionsnotizen und | |
-rechnungen sowie ebenjene Szenentranskriptionen zurückgreifen, die Takada | |
Masaru 1929 anfertigte. | |
Sie ziehen selbst Texte aus der zeitgenössischen Literatur heran (unter | |
anderem vom unverwüstlichen Karl Kraus und Arthur Schnitzler, daneben von | |
Sternbergs eigene Erinnerungen sowie Felix Saltens Milieuschilderung | |
"Wurstelprater"). Die eigentliche Leistung ihres Buches besteht jedoch | |
darin, einen Präzedenzfall für die Rekonstruktion verlorener Filme | |
geschaffen zu haben. Seit Jahren beschäftigt Archivare und Historiker das | |
Problem, wie sie Filme in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückbringen | |
können, von denen keinerlei bewegte Bilder, vielleicht nicht einmal mehr | |
Standbilder existieren. Was bleibt überhaupt vom filmischen Erlebnis ohne | |
die zeitliche Erfahrung, die das Kino doch ausmacht? | |
Eine Herkulesaufgabe | |
1999 versuchte sich der amerikanische Stummfilmexperte Rick Schmidlin an | |
der Herkulesaufgabe, die vierstündige Version von Erich von Stroheims | |
Klassiker "Greed", die von der MGM noch vor Veröffentlichung im Jahr 1924 | |
brutal verstümmelt worden war, mithilfe der knapp zweieinhalbstündigen | |
überlieferten Fassung und 589 Filmbilder in der ursprünglichen Länge zu | |
rekonstruieren. Das Ergebnis ist eine gelungene Annäherung an das Werk | |
Stroheims, die allein mit der äußerst erfindungsreich eingesetzten | |
Kinestasistechnik (dem Abfilmen von Standbildern) eine Ahnung davon | |
vermittelt, was für ein epochales Meisterwerk mit "Greed" verloren gegangen | |
ist. | |
"Josef von Sternberg - The Case of Lena Smith" muss sich damit begnügen, | |
ein hypertextuelles Patchwork zu liefern, in dem sich das geschriebene | |
Wort, Milieubeschreibungen, Skizzen und Fotos zu einem reichen und | |
anschaulichen Bild verdichten. Die Deutsche Kinemathek, die derzeit in | |
Zusammenarbeit mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, dem Centre | |
National de la Cinémathographie, dem tschechischen Filmarchiv und dem | |
Filmarchiv Austria eine Dokumentation der 33 wichtigsten verlorenen Filmen | |
aus Deutschland erstellt, sei empfohlen, sich Ansatz und Struktur des | |
Von-Sternberg-Buchs zum Vorbild zu nehmen. | |
Gleichzeitig wirft das Buch auch ein neues Licht auf das wiederaufgefundene | |
"Lena Smith"-Fragment - so wie überhaupt auf den Umgang mit filmischen | |
Fragmenten, die immer noch zu den Stiefkindern der Archive gehören. Ein | |
Stück Film, das lediglich als narrative Ruine besteht, hat für die meisten | |
Menschen keinen bleibenden Wert. Dem Publikum ist die Schönheit eines | |
Filmfragments aus sich selbst heraus - im Gegensatz zu archäologischen | |
Fundstücken - schwer vermittelbar. Der italienische Restaurator Cesare | |
Brandi schrieb in den Sechzigerjahren, dass jedes Fragment ästhetische und | |
gestalterische Anlagen des Gesamtwerks enthält und somit auch als | |
eigenständiges Werk einen künstlerischen Wert habe. Die Jahrmarktsszene aus | |
"The Case of Lena Smith" unterstreicht Brandis These eindrucksvoll. | |
Alexander Horwath, Michael Omasta (Hg.): "Josef von Sternberg - The Case of | |
Lena Smith". Synema, Wien 2007, 304 Seiten, 20 Euro | |
26 Oct 2007 | |
## AUTOREN | |
Andreas Busche | |
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