# taz.de -- Kommentar Privatsphäre: Bürger, zieh die Notbremse | |
> Die Gesellschaft verzichtet zunehmend auf Privatsphäre. Haben Parolen wie | |
> „Datenschutz ist Täterschutz“ dafür gesorgt, dass keiner aufmuckt? | |
Die Gesellschaft verzichtet zunehmend auf Privatsphäre. Die Menschen | |
hinterlassen freiwillig und unfreiwillig eine Menge digitaler Spuren, zum | |
Beispiel im Internet und beim Einkaufen. Studierende tragen nicht nur ihren | |
vollständigen Namen, sondern auch Geburtsdatum, Hobbys, Vorlieben und | |
Geschmack selbstständig auf ihrer Profilseite bei StudiVZ ein und legen | |
ihren realen Freundes- und Bekanntenkreis für alle Nutzer offen. Bei | |
MySpace veröffentlichen sie, zwar weniger standardisiert als bei StudiVZ, | |
dafür aber umso privater, Eigenschaften von sich und Beschreibungen über | |
sich. Auf den Pinnwänden unterhalten sich die User mit ihren Freunden | |
öffentlich - jeder kann mitlesen. So kommt der SPIEGEL-Artikel „Ende der | |
Privatheit“ zu dem Schluss: „Die einen wollen in den toten Winkel | |
verschwinden. Die anderen wollen möglichst gut rüberkommen.“ | |
Selbstdarstellung im Internet | |
Das Internet ist zu einer Werbefläche geworden, die die Jugend nutzen will. | |
Blogger schreiben in ihren Weblogs über ihre privaten Erlebnisse meist noch | |
tagesaktuell: vom Chef, der sie ärgert, von Problemen und Sorgen. Und genau | |
deswegen werden sie gerne gelesen. Und was passiert, wenn es der Boss | |
liest? Blogger veröffentlichen sogar, wann sie wohin verreisen – ohne dass | |
sie einen Einbruch bei sich zu Hause befürchten. | |
Einige werden an dieser Stelle einwenden: Das betrifft nur die jüngere | |
Generation. Aber auch jenseits der jugendlichen Netzkultur gehen die | |
Menschen unvorsichtig mit ihren Daten um. Kundenkarten und Rabattsysteme | |
locken immer mehr Menschen an, ihre Daten und ihre Einkäufe preiszugeben. | |
Ohne darüber nachzudenken, welche Konsequenzen es hat, bezahlen die Kunden | |
heute mit der EC-Karte oder der Kreditkarte in den Geschäften. Dabei wird | |
jeder Einkauf, jedes Geschäft aktenkundig. Bargeld dagegen ist anonym. | |
Kein Aufmucken | |
Gegen die Volkszählung in den 1980er Jahre liefen die Menschen Sturm. Im | |
September wurde die Volkszählung für 2011 beschlossen. Sie heißt heute | |
weniger eindeutig „registergestützter Zensus“ – aber die Mehrheit der | |
Bürger interessiert es nicht mehr. Sie müssen dafür auch nicht mehr selbst | |
Fragebögen ausfüllen wie damals, sondern es sollen Daten aus verschiedenen | |
Datenbeständen wie dem Melderegister zusammengeführt werden. Dass selbst | |
Politiker keinen Widerstand aus der Bevölkerung mehr erwarten, ist kein | |
gutes Zeichen. Haben die Parolen der Innenpolitik wie „Datenschutz ist | |
Täterschutz“ dafür gesorgt, dass keiner aufmuckt? Niemand will mehr als | |
Datenschützer geoutet werden. Dabei geht es den Datenschützern eben nicht | |
in erster Linie um den Schutz der Daten, sondern der Persönlichkeit und der | |
Intimität der Bürger: eine ehrenvolle Aufgabe. | |
Nachruf für die Privatsphäre | |
Gustav Seibt hat in der Süddeutschen Zeitung jedenfalls für die | |
Privatsphäre schon einen [1][Nachruf] zu Lebzeiten geschrieben. Für ihn war | |
es der neuzeitliche liberale Bürger, der sich die Privatsphäre erkämpft | |
hatte - zum ersten Mal in der Geschichte gab es überhaupt das Recht auf | |
Privatsphäre. Doch wie leicht geht so eine hart erkämpfte Form der Freiheit | |
verloren? | |
Jetzt bloß nicht den Kopf in den Sand stecken. Ganz so hoffnungslos ist die | |
Lage nicht: die bekennenden Datenschützer mobilisieren sich. Am 22. | |
September 2007 in Berlin kamen über 10.000 Menschen zur Demonstration | |
„Freiheit statt Angst“. So viele waren seit fast 20 Jahren nicht mehr auf | |
die Straße gegangen, um sich gegen die Überwachung auszusprechen. Die | |
Demonstrationen in den Vorjahren waren deutlich schlechter besucht. Warum | |
sind es mehr geworden? In diesem Jahr sind zahlreiche Grundpfeiler der | |
Privatsphäre in Gefahr geraten: Das Briefgeheimnis wurde im Rahmen des | |
G8-Gipfels gebrochen. Die Online-Durchsuchung bringt den Schutz der eigenen | |
Wohnung in Gefahr und ist ein Angriff auf die Würde des Menschen. Der | |
Computer ist heute das ausgelagerte Gedächtnis der Menschen oder, wie der | |
frühere Innenminister Gehart Baum es nannte, sogar das „ausgelagerte | |
Gehirn“. Der Computer ist Tagebuch, Terminkalender, Briefschatulle, | |
Sammelpunkt für Sehnsüchte und Träume. Die wenigsten Menschen wissen, wie | |
viel von ihren Tätigkeiten am Computer automatisch protokolliert wird und | |
wie einfach sich Profile daraus erstellen lassen. Die technischen | |
Möglichkeiten sind nur Experten bekannt. Für die Vorratsdatenspeicherung | |
soll jegliche Kommunikation gespeichert werden. Das hat auch ganz andere | |
Gruppen zur Demonstration aufbrechen lassen: Journalisten, Anwälte, | |
Seelsorger und ihre Interessenvertreter. | |
Die Würde und der Lauschangriff | |
Der „Große Lauschangriff“ ist jetzt noch größer geworden. Vor fast zehn | |
Jahren sollte damit die „organisierte Kriminalität“ bekämpft werden. Heute | |
heißt die Bedrohung „Islamistischer Terrorismus“. Schon damals wurde das | |
Grundgesetz geändert und das Platzieren von Abhörtechnik in der Wohnung | |
erlaubt. Richter reduzierten den Lauschangriff 2004 nur auf Fälle | |
schwerster Kriminalität. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts | |
entschied, dass private und intime Äußerungen nicht abgehört werden. Der | |
„Kernbereich der privaten Lebensführung“ sollte unangetastet bleiben. | |
Anderenfalls wäre es ein Verstoß gegen den ersten Artikel des | |
Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es wurde auch | |
ausgeschlossen, dass mit der bloßen Hoffnung auf Erkenntnisse abgehört | |
wird. | |
Falls ein abgehörtes Gespräch den „Kernbereich der privaten Lebensführung�… | |
betrifft, muss die Polizei die Aufnahme abbrechen. Wie ein solcher | |
Unterschied bei der Online-Durchsuchung festgestellt werden könnte, ist | |
mehr als fraglich, denn es werden lediglich Daten erfasst. Und mal ganz | |
ehrlich: Wer glaubt schon, dass tatsächlich die Tonbänder ausgeschaltet | |
werden? Das Material ist zwar juristisch nicht verwertbar, aber gesammelt | |
wird doch mit Sicherheit. Vorgeschlagen wird nun, dass zum Beispiel ein | |
Richter die Daten nach der Online-Durchsuchung kontrolliert, sortiert und | |
gegebenenfalls löscht. Ein enormer Zeitaufwand bei ganzen Festplatten, die | |
heute schon eine ganze Bibliothek beinhalten könnten. | |
Falls das Gesetz durchkommt, müssten auch Speicherbedingungen und | |
Speicherfristen festgelegt werden. Und was ist mit der Informationspflicht | |
der Betroffenen? Spiros Simitis, hessischer Datenschützer und zuletzt auch | |
Vorsitzender des Nationalen Ethikrats, forderte in der SZ: „Es muss eine | |
doppelte richterliche Kontrolle geben: bevor die Polizei in den Computer | |
reingeht, braucht sie die richterliche Ermächtigung; und wenn die Polizei | |
reingegangen ist, braucht man den Richter, um die gesperrten Dateien | |
auszusondern.“ | |
Richterliche Kontrolle | |
Selbst mit einer eingebauten Kontrolle der Kontrolleure: Der Schaden, der | |
durch die Online-Durchsuchung entstehen könnte, wäre weitaus größer als ihr | |
Nutzen. Denn bislang konnten Anschläge auch ohne ein solches Verfahren | |
abgewendet werden - mit herkömmlichen Methoden. Die Online-Durchsuchung | |
wird die Freiheit der Menschen erheblich einschränken, die Kreativität wird | |
leiden. | |
Einsatz für die Freiheit | |
Deswegen ist es umso wichtiger, sich für die Freiheit und Privatheit | |
einzusetzen. Hier sind die Bürger höchstpersönlich gefragt. Sie sollten | |
sich über die Sachlage informieren. Gegen die Vorratsdatenspeicherung kann | |
man sich noch aussprechen - zum Beispiel bei den Bundestagsabgeordneten. | |
Dazu können Aktionen wie die Sammelklage der Datenschützer Unterstützung | |
gebrauchen. | |
Grundsätzlich braucht es mehr Umsicht bei der Preisgabe von Daten, um den | |
Datenhandel einzudämmen. Oft ist es nur ein Kreuzchen, das man bei | |
Anmeldungen im Internet aushaken muss, damit die Daten nicht weiterverkauft | |
werden. Meist wird auch nach Angaben gefragt, die für die Anmeldung | |
überflüssig und deshalb freiwillig sind. Es reicht völlig aus, die | |
Pflichtangaben auszufüllen. Wer eine Kundenkarte annehmen möchte, sollte | |
sich die Geschäftsbedingungen genau durchlesen und sich ordentlich | |
informieren, was genau darauf gespeichert wird und wer Zugriff auf diese | |
Daten erhält. | |
Desinteresse oder aus Knauserigkeit | |
Das passive und leichtfertige Verhalten der Menschen im Bezug auf | |
Datenschutz und Überwachung ist gefährlich. Schade ist auch, dass es oft | |
aus Bequemlichkeit, aus Überforderung, aus Desinteresse oder aus | |
Knauserigkeit geschieht. Vielleicht ist der Abstand zu den Diktaturen, die | |
die Freiheitsrechte der Menschen massiv eingeschnitten haben, schon zu groß | |
geworden - ihre Methoden wollte man nie wieder haben. Der Bürger ist hier | |
aber ein Teil des Problems und kann seine Verantwortung nicht allein auf | |
die Politik abwälzen. | |
Es ist sicherlich nicht nützlich in eine hysterische Panik vor dem | |
Überwachungsstaat zu verfallen. Datenschutz und der Schutz der Privatheit | |
sind aber ein Dauerkampf, der kontinuierlich ausgefochten werden muss - | |
auch wenn es anstrengend ist. Der kritische Blick muss aktiv sein. | |
Das richtige Maß | |
Für die Politik wird es in der nächsten Zeit wichtig sein, das richtige Maß | |
zu finden, damit die Freiheit nicht weiter durchlöchert wird. Nicht alles, | |
was technisch machbar ist, darf auch erlaubt sein. | |
11 Feb 2008 | |
## LINKS | |
[1] http://www.sueddeutsche.de/computer/artikel/350/132111/ | |
## AUTOREN | |
Kathrin Giese | |
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