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# taz.de -- Nach den Straßenkämpfen in Tibet: Der Dalai Lama ist tabu
> Chinas Regierung macht Propaganda gegen "bösartige separatistische
> Kräfte". Die Tibeter haben Angst und fühlen sich von Gott und der Welt
> verlassen. Taz-Reporter Georg Blume berichtet aus Lhasa.
Bild: Weniger Angst vor der chinesischen Polizei als die Tibeter: Demonstrant i…
LHASA taz Es ist der Tag nach der Revolte. Eine tibetische Familie steht im
Zentrum von Lhasa am Ufergeländer eines Gebirgsbaches. Sie hat einen
zehnjährigen Jungen mit kurzen Haaren. An normalen Tagen würde der Junge
wohl auf den berühmten Potalapalast deuten, dessen goldene Dächer nicht
weit von ihm im Himmel funkeln. Stattdessen richtet er aufgeregt den
Zeigefinger auf ein ausgebranntes Auto an der anderen Uferseite. "Ich habe
es brennen sehen, als ich gestern um fünf aus der Schule kam", erzählt er
hastig. Er habe noch viel mehr gesehen: wie vier chinesische Polizisten
einen Tibeter verprügelten. "Sie haben ihn verfolgt und immer wieder auf
ihn eingeschlagen", sagt der Junge.
Die Eltern lassen das Kind an ihrer Stelle reden. Sie starren auf die
breite Straße hinter dem anderen Ufer: Dort fanden am Vortag Straßenkämpfe
von einer Gewalt und Heftigkeit statt, wie sie die meisten Bürger von Lhasa
nie erlebt haben und sich überhaupt nicht mehr vorstellen konnten. Der
letzte Aufstand liegt 20 Jahre zurück. Damals war Lhasa eine bitterarme
Kleinstadt, heute ist es fast schon eine wohlhabende Großstadt.
Auch den Eltern des kleinen Jungen geht es nicht schlecht. Sie haben ein
kleines tibetisches Restaurant. Das verschonten die Demonstranten. Sie
beschmissen nur die chinesischen Läden mit Steinen, rissen den
Wellblechschutz vor Tüten und Fenstern ein, warfen ihre Möbel, Kühlschränke
und Fahrräder auf die Straße und zündeten sie an.
Die Familie kann die Überreste der Verwüstung sehen, die rauchende Asche,
die vielen Glasscherben und die dicken ausgerissenen Mauer- und Bordsteine.
Warum musste das passieren? "Weil uns die Chinesen dauernd ärgern", sagt
der Junge. Ob das der Dalai Lama schön fände? Das geht der Mutter zu weit,
jedes Wort über den Dalai Lama kann Schwierigkeiten bringen, gerade jetzt.
Sie zieht ihren Sohn am Kragen und bedeutet ihm zu schweigen. Der aber
bleibt unerschrocken: "Die anderen haben Angst, aber ich bin mutig", ruft
er laut.
Im Restaurant der Familie sitzen nur Tibeter. Die niedrigen, mit bunten
Blumenmotiven bemalten Tische stehen eng zusammen. Jeder versteht hier
jedes Wort. Im Fernseher läuft das offizielle chinesische Staatsfernsehen
in tibetischer Sprache. Dumpf dröhnen die Sprüche des Nachrichtensprechers,
von der "Dalai-Lama-Clique", die alles vorbereitet habe und an allem schuld
sei. Dazu die Bilder von randalierenden Jugendlichen, die mit Äxten auf
Ladentüren einhauen. Die älteren Gäste schlürfen Tee mit Yakmilch und
bleiben stumm.
Die Stimmung ändert sich, als zwei junge Männer in Turnschuhen und Anorak
Nudelsuppe und Bier bestellen. Gestern sei der Tag gewesen, an dem es die
Tibeter den Chinesen einmal gezeigt hätten, sagen sie. Sie wirken deshalb
nicht traurig. Die Chinesen hätten bei den friedlichen Demonstrationen der
Vortage drei Mönche umgebracht. "Sonst hätten wir nicht losgeschlagen",
sagen sie. Die Opfer seien alle Tibeter gewesen. "Wir haben ja nur Steine
und Messer, sie haben Gewehre und können uns einzeln erschießen", sagen
sie. Sie hätten eine Frau gesehen, die über die Straße gelaufen und
erschossen worden sei.
Den älteren Tibetern wird das Gerede zu gefährlich: Sie verlassen
fluchtartig das Lokal. Die jungen Männer aber erzählen von den Motiven
ihrer Revolte. Dass sie kaum eine Chance auf Schulbildung gehabt hätten,
jetzt keine Arbeit fänden und die Chinesen nun auf ihre Kosten reich
würden. Dass die Preise stiegen und eine Jeans jetzt 70 statt bisher 30
Yuan kosten würde (umgerechnet 7 statt 3 Euro). "Die Chinesen betrügen uns
um unser Geld", sagen sie. Und der Dalai Lama? "Keiner hilft uns. Nicht
einmal Gott." Trotzdem würden sie den Dalai Lama verehren. Sie wüssten
auch, dass er die Dinge friedlich lösen wolle. Sie wünschten sich, dass er
zurückkomme. "Wir haben ihn nie gesehen", sagen sie. Das klingt fast nach
einer Entschuldigung dafür, dass sie seiner gewaltfreien Lehre nicht
folgen.
In dem Schwanken zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit aber liegt das große
Problem der tibetischen Revolte. Auch drüben im indischen Exil mangelt es
dem Dalai Lama an Eindeutigkeit. Er findet entschuldigende Worte für die
Randale in Lhasa: Es läge an der Brutalität der chinesischen Herrschaft
über Tibet.
Genau diesen Widerspruch aber nutzt die chinesische Regierung: Hemmungslos
zieht ihre Propaganda jetzt über die "bösartigen separatistischen Kräfte"
her und versucht vor allem den Krieg der Bilder zu gewinnen: Axthiebe gegen
friedliche Sicherheitskräfte.
Das chinesische Staatsfernsehen war vor Ort, CNN nicht. Schon geraten die
friedlich demonstrierenden Mönche in Vergessenheit, welche die Revolte
auslösten. Die Tibeter im Exil sprechen von 80 tibetischen Toten, die
chinesische Regierung von 10 Toten, darunter auch Chinesen. In Lhasa gibt
jeder eine andere Einschätzung der Opferzahlen.
Tatsächlich ähnelt die schöne Tempelstadt jetzt einem von den Siegern
beherrschten Schlachtfeld. An jeder Straßenecke demonstriert die in
Großverbänden einberufene Militärpolizei ihre Stärke, überall liegen noch
die Trümmer der Ausschreitungen. Währenddessen scheint warm die Sonne über
der Stadt, denn mit der Revolte brach auch der Frühling aus. Und beide
locken am Tag nach den Unruhen das Volk auf die Straßen. Nebeneinander
stehen Tibeter und Chinesen in dichtgedrängten Scharen und schauen dem
Spektakel der Sicherheitskräfte zu. Wie die Militärpolizei mit schweren
Panzerfahrzeugen anrückt. Wie zweihundert grüne Lastwagen mit tausenden von
Militärpolizisten auffahren, die jeder ein Gewehr mit silbern blinkender
Bajonettspitze tragen. Die militärische Gewalt, die sich den Bürgern Lhasas
hier so direkt zeigt, aber bleibt ohne Abbild für die chinesische und
weltweite Öffentlichkeit.
Tibeter und Chinesen in Lhasa aber reagieren unterschiedlich. Die Tibeter
am Straßenrand sagen: "Das macht uns keine Angst." Die Chinesen sagen: "Die
Militärpolizei schützt uns." Versöhnlich wirkt nur, dass alle auf engem
Raum zusammenstehen und in den Stadtvierteln auch zusammenwohnen. Dort
findet man viele gemischte Familien. Sie sagen, dass vor allem die
ökonomische Segregation in den letzten Jahren zugenommen hätte. Chinesen
kämen mit Geld und besserer Ausbildung nach Lhasa. Sie würden ihren
tibetischen Angestellten oft niedrigere Löhne als den Chinesen zahlen, das
hätte bei dem Aufstand eine größere Rolle gespielt als der alte Religions-
und Kolonialkonflikt. Im Gründe hätte es in der letzten Woche zwei Revolten
gegeben: die der Mönche, die zeitlich im Zusammenhang mit den Olympischen
Spielen steht, und die der chancenlosen tibetischen Jugendlichen.
Nun scheint es, als würde erst mal die Revolte der Mönche weitergehen. Am
Sonntag demonstrierten einige tausend Mönche und andere Tibeter in der
benachbarten chinesischen Provinz Sichuan. Der Protest formierte sich nach
einer morgendlichen Gebetsstunde im Amdo-Kloster und verlief friedlich.
Am Samstag waren Mönche auch in der Stadt Xiahe in der Provinz Gansu auf
die Straße gegangen. Die Mönche forderten wie schon zuvor in Lhasa die
Unabhängigkeit Tibets und die Rückkehr des Dalai Lama. Ob ihnen nun wieder
die Jugendlichen folgen werden? Eine urbane tibetische Kultur wie in Lhasa
gibt es den anderen Provinzen kaum.
Welche tibetische Kultur aber meint der Dalai Lama, wenn er jetzt eine
Untersuchung fordert, ob in Tibet ein "kultureller Völkermord" stattfinde?
Geht es noch um die Klöster, die einst die Kulturrevolutionäre zerstörten?
Oder geht es auch um die moderne, mit dem Tourismus und dem chinesischen
Privatkapitalismus verwobene tibetische Lebenskultur in einer Stadt wie
Lhasa?
Die beiden jungen Männer haben am Tag der Revolte ein Erlebnis, von dem sie
später belustigt erzählen. Sie sitzen in einem chinesischen Restaurant in
Lhasa und essen Nudeln. Da kommt ein Demonstrant auf sie zu und gibt einem
von ihnen eine Ohrfeige. Er sagt, sie sollen tibetische Nudeln essen. Also
schließen sie sich den Demonstranten an. Aber man merkt den beiden schon
bei ihrer Erzählung an, dass sie im Grunde nichts gegen chinesisches Essen
haben. Dauernd ärgern lassen wollen sie sich von den Chinesen dennoch
nicht.
17 Mar 2008
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