# taz.de -- Unruhen in Tibet: Entsetzen in der Götterstadt | |
> Weder die Mönche noch die Militärpolizei: Der Gewaltausbruch in Lhasa ist | |
> wohl dem Frust einer neuen Generation junger Tibeter geschuldet. Ein | |
> Bericht aus Tibets Hauptstadt | |
Bild: Noch ist die Zahl der Toten und Verletzten in Lhasa nicht wirklich bekann. | |
LHASA taz Zehn Jahre, länger haben die Chinesen nicht gebraucht, um aus | |
Lhasa die erste Großstadt in der langen Geschichte Tibets zu machen. Doch | |
an nur einem Tag ist der neureiche Glanz von der alten Götterstadt wieder | |
abgefallen. Jetzt liegen fast sämtliche der zahlreichen neuen chinesischen | |
Geschäfte der Stadt in Trümmern. Man wird ihnen den Glanz schnell wieder | |
auftragen. Bis dahin aber hat Lhasa eine kleine Chance, sich seines neuen | |
tibetisch-chinesischen Wesens bewusst zu werden. Denn es gibt jetzt ein | |
allen Bürgern der Stadt gemeinsames Entsetzen über die Gewaltexplosion am | |
vergangenen Freitag. Alle ahnen, dass der Gewaltausbruch in erste Linie | |
weder den demonstrierenden tibetischen Mönchen noch der eilig | |
herbeigerufenen chinesischen Militärpolizei geschuldet ist, sondern dem | |
Frust einer neuen Generation junger Tibeter. | |
"Die tibetischen Jugendlichen hatten zu viel Langeweile", sagt eine | |
chinesische Majongkneipenbesitzerin, deren versteckte Gaststube nur durch | |
Zufall unversehrt blieb. Sie mahnt, die Sorgen der rebellierenden | |
tibetischen Jugendlichen um gleiche Jobs und gleiche Bildung ernst zu | |
nehmen. "Die chinesischen Geschäftsleute zu verjagen, ist keine Lösung. | |
Ohne sie können wir wirtschaftlich nicht bestehen", sagt ein | |
dreiunddreißigjähriger tibetischer Bauarbeiter zu zwei jungen Tibetern, die | |
an den Protesten teilnahmen. Gleichwohl hat der Mann alles Verständnis für | |
die Revolte der Jugend. | |
Das sind die vernünftigen Stimmen, die in Lhasa durchaus zu vernehmen sind. | |
Doch sie haben es naturgemäß schwer, sich unter dem Eindruck des Schreckens | |
Gehör zu verschaffen. | |
Lhasa ist jetzt eine besetzte Stadt. Das Militär ist überall, es hat die | |
Metropole der Mönche in eine Garnisonsstadt verwandelt. Mag die Führung in | |
Peking auch betonen, dass in Lhasa dieser Tage nicht die reguläre | |
Volksarmee, sondern nur die bewaffnete Militärpolizei zum Einsatz kommt - | |
es macht keinen Unterschied. So wie diese Militärpolizei hier | |
aufmarschiert, gleicht sie einer vollausgerüsteten Armee. Mit | |
kilometerlangen Fahrzeugkolonnen, die tausende schwerbewaffneter Polizisten | |
transportieren, ist sie in die Stadt eingezogen. | |
Bis Montagabend standen ihre schweren, gepanzerten Kettenfahrzeuge zu | |
Dutzenden im allerheiligsten Bezirk der Stadt, auf dem großen Platz vor dem | |
Jokhang-Tempel. Der Tempel zählt zu den wichtigsten buddhistischen | |
Pilgerstätten Tibets. Hierher strömen an normalen Tagen die vielen | |
Gläubigen aus allen Teilen der Autonomen Region Tibet, wie China seine | |
Himalaja-Provinz nennt. Sie knien vor den Außenwänden des Tempels nieder, | |
verharren stundenlang im Gebet. Es sind alltägliche Szenen größter | |
religiöser Hingebung, welche die Polizeibesatzung jäh unterbindet. Am | |
Dienstag ist der Platz vor dem Tempel zwar wieder geräumt und von | |
Polizisten saubergefegt. Doch an den Zufahrten stehen immer noch die | |
Panzerfahrzeuge mit ihren bedrohlichen Geschützvorrichtungen. An ihnen sind | |
neue politische Parolen angebracht: "Separatismus ist Unglück, Stabilität | |
ist Glück". Über einer Gasse hängt das Spruchband: "Ethnien vereinigt euch! | |
Lasst uns gemeinsam gegen die kriminellen Taten des Dalai Lama kämpfen!" | |
Als der Reporter den Tempelvorplatz betritt, wird er von einem | |
Einsatzleiter zurückgerufen. Der Mann herrscht darauf seine Wachen an, | |
keine Ausländer mehr durchzulassen. Doch auch die Einheimischen werden auf | |
Schritt und Tritt kontrolliert. An jeder Straßenecke müssen die Passanten | |
ihre Ausweise vorzeigen. Auch die kleinsten Gassen werden an ihren | |
Ausgängen von Militärpolizisten bewacht. Man stolziert durch die | |
Deckenlager der Uniformierten auf den Bürgersteigen. Ein Militärpolizist | |
sagt, dass seine Truppe rund um die Uhr am Platz bleibt. | |
Viele Tibeter reagieren schockiert. Sie hocken schweigend zusammen in | |
kleinen Restaurants, trinken schwarzen Tee mit Yakmilch und schauen das | |
staatliche chinesische Fernsehen in tibetischer Sprache. Der Sender beginnt | |
jetzt mit der Fahndung nach gewalttätigen Demonstranten. Er zeigt | |
Videobilder, auf denen das Gesicht des mutmaßlichen Täters rot eingekreist | |
ist. Den tibetischen Zuhörern macht das Angst. Sie fürchten | |
Massenverhaftungen. In einem Lokal nahe dem Potalapalast erzählen die Gäste | |
von Verletzten in ihrer Nachbarschaft, die aus Angst vor Festnahmen nicht | |
zum Krankenhaus gehen. Aber über Ursachen und Perspektiven des Protests | |
wollen sie nicht reden. Sie zucken zusammen, als vor dem Lokal zwei | |
Polizisten in blauer Kleidung auftauchen. Die Polizisten reißen die weißen | |
buddhistischen Gebetsschals ab, die jedes tibetische Geschäft traditionell | |
zur Begrüßung der Kunden über Eingang und Fenstern aufhängt. Aus Angst | |
greift die Wirtin zum Küchenmesser, läuft nach draußen, entfernt die | |
letzten Reste des Schals von ihren Fenstern und zieht den metallenen | |
Rollladen herunter. "Warum habt ihr Angst?", ruft einer der Polizisten. | |
"Jetzt ist alles sicher. Wozu braucht ihr dann noch eure Gebetstücher?" | |
Es ist offenbar eine geplante Racheaktion der Behörden. In der Straße des | |
kleinen Lokals sind die chinesischen Läden alle verwüstet. Jetzt nimmt man | |
den tibetischen Läden im Gegenzug ihren buddhistischen Schmuck. Einen | |
ganzen Sack voll solcher Seidenschals schleppen die Polizisten ab. | |
Die Wirtin im traditionellen lila Kleid ist außer sich. Aber langsam | |
beruhigt sich die kleine Runde in ihrem Lokal und kommt nun doch ins | |
Gespräch. Von den großen Veränderungen Lhasas erzählt jener Bauarbeiter den | |
zwei jungen Männern, die bei ihm sitzen. "Die Stadt ist doch sinisiert | |
worden", sagt er nachdenklich. Früher hätte man viel mehr Tibetisch | |
gesprochen. Nun esse jeder gerne chinesisches Essen. Er selbst bevorzuge | |
inzwischen auch die Sichuan-Küche. Man möchte wissen, was die Jungen | |
darüber denken. Aber sie bleiben stumm, und der Bauarbeiter spricht für | |
sie. Er sagt, dass sie nur wenige Jahre auf dem Land zur Schule gegangen, | |
dann in die Stadt gekommen seien und nun keine Arbeit fänden. Auch weil sie | |
nicht gut genug chinesisch sprächen. Aber wie kann man ihnen das jetzt | |
vorhalten? In diesem Moment brausen sechs chinesische Armeelaster mit | |
frischen Truppen durch die kleine Straße vor dem Lokal stadteinwärts. | |
Die beiden Jungs in Jeans und Lederjacken waren am Freitag unter den | |
Aufständischen. Woher kommt ihre Gewaltbereitschaft? Denn bei aller | |
Unerträglichkeit und Unangemessenheit des chinesischen Militäraufgebots - | |
das Ausmaß der Verwüstungen in Lhasa ist kaum weniger erschreckend. Alles | |
ist kaputt und verbrannt: Supermärkte, Hotels, Banken. Kilometerlange | |
Straßenzüge voller kleiner Handwerks- und Lebensmittelläden haben sich in | |
ein einziges Trümmerfeld verwandelt. Auch vier Tage nach den Protesten | |
liegt ein beißender Brandgeruch über der Stadt. Nur mühsam kommen die | |
Aufräumarbeiten voran, um die sich jeder chinesische Ladenbesitzer selbst | |
kümmern muss. Versichert waren sie alle nicht. | |
Vor einem kleinen Drogerieladen liegt eine schwere, zentimeterdicke | |
Eisentür auf dem Bürgersteig, an der drei große Vorhängeschlösser | |
ungeöffnet baumeln. Der chinesische Ladenbesitzer kann nicht begreifen, mit | |
welcher Kraft die Tür geöffnet wurde. Noch viel weniger versteht er die | |
Motive der Revolte. "Den Tibetern geht es doch auch besser als früher. Ich | |
habe hier nur tibetische Kunden", wundert er sich. In seinem Laden steht | |
keine Shampooflasche mehr neben der anderen. Die Glasregale an den Wänden | |
sind zertrümmert, die ganze Verkaufsware liegt zertreten auf dem Fußboden. | |
Damit sei er wohl bankrott, sagt der Besitzer. Vor zwei Jahren habe er das | |
Geschäft aufgebaut, in einem Jahr wollte er genug verdient haben, um wieder | |
in seine Heimat zurückzukehren. | |
So wie er machen es viele Chinesen in Lhasa: Sie kommen hierher, um rund um | |
die Uhr zu arbeiten und so viel zu verdienen, dass sie sich ein besseres | |
Leben woanders einrichten können. Für immer bleiben will in Lhasa kaum ein | |
Chinese. Ist das der Grund, warum die Revolte der Tibeter die | |
Geschäftsleute so überraschte? Jedenfalls hört man bei ihnen mehr | |
Verzweiflung als Wut heraus. Schließlich müssen sie sich um die Bestrafung | |
der Täter nicht kümmern. Das erledigt die Polizei. Wohl aber müssen sie | |
ihre tibetischen Kunden zurückgewinnen. | |
Lhasa ist eben keine Industriestadt, sondern eine Handelsstadt. | |
Deshalb ist sie groß geworden, ist längst mehr als die Tempelstadt um | |
Jokhang und Potala. Bis hin zu den Rändern ihres breiten flachen Flusstals | |
hat sich Lhasa ausgedehnt, dort, wo sich das berühmte Drepungkloster an | |
einen steilen Berghang schmiegt. Die Mönche des Drepung- und Seraklosters | |
und des Jokhangtempels haben letzte Woche mit den Demonstrationen begonnen. | |
Aber sie waren nicht unter den Randalierern. Trotzdem bleiben sie von der | |
Militärpolizei in ihren Gottesstätten eingeschlossen. Sonst bevölkern die | |
Mönche in ihren auffallenden Gewändern die Straßen der Stadt, bestimmen | |
ihre öffentliche Atmosphäre. Jetzt sind sie spurlos verschwunden. Nur vor | |
der Bergauffahrt zum Drepungkloster stehen zwei Kuttenträger und verhandeln | |
mit der Straßenwache. | |
Za Ye, 44 Jahre, und Dang Zhi, 33 Jahre, sind mit der neuen tibetischen | |
Eisenbahn aus der Provinz Qinghai gekommen, um ihren Glaubensgenossen in | |
Lhasa im Protest beizustehen. Eigentlich verabscheuen sie die Eisenbahn, | |
weil sie ein Werk ihrer Gegner ist. Diesmal aber musste es schnell gehen. | |
Jetzt stehen sie am Ziel ihrer langen Reise, bepackt nur mit einer dünnen | |
Stoffumhängetasche und einem leichten Puma-Rucksack. Doch der Weg zum | |
Koster bleibt ihnen versperrt. Za und Dang hatten nichts anderes erwartet. | |
Sie klagen nicht und sagen: "Dieser Aufstand ist ein historisches Ereignis. | |
So etwas hatten wir seit langem erwartet." | |
Sie wissen noch nicht, wo sie die Nacht verbringen werden, aber sie lassen | |
sich gerne zum muslimischen Eintopfgericht mit viel Lammfleisch einladen. | |
Nur in ihrem Kloster wahren sie die buddhistische vegetarische Diät. In | |
ihrem Kloster gibt es achtzig Mönche, es liegt sehr abgelegen, noch nie war | |
dort ein Ausländer zu Gast. Sie sind sehr gut über die Ereignisse | |
informiert. "Wir dürfen nicht nach Indien, aber wir bekommen regelmäßig aus | |
Indien Besuch", sagen sie, ohne den Namen des Dalai Lamas oder der | |
tibetischen Exilregierung in Indien zu erwähnen. Sie bleiben vorsichtig und | |
machen doch ihren Auftrag glasklar: "Mönche initiieren und organisieren den | |
Protest. Das ist unsere Rolle", sagen sie. Obwohl sie ganz aus dem Abseits | |
der Berge kommen, sind sie die Einzigen, die der Reporter in Lhasa über die | |
Olympischen Spiele reden hört: "Ja", sagen sie, "unser Protest hängt mit | |
den Olympischen Spielen zusammen." | |
Man kann sich nicht vorstellen, dass die eingeschlossenen Mönche in den | |
Klöstern der Stadt anders reden. Die Klöster sind die alten politischen | |
Zentren des Lamaismus. Ihre Beziehungen zur Exilregierung versuchen die | |
kommunistischen Behörden seit Jahrzehnten mit den ausdauerndsten und | |
brutalsten Methoden zu kappen. Doch es gelingt ihnen nie. Die Mönche sind | |
genügsam. Vom neuen Reichtum der Stadt wollen sie nichts abhaben. Wenn sie | |
protestieren, dann geordnet und mit klaren politischen Forderungen wie in | |
der vergangenen Woche: "Unabhängigkeit Tibets! Rückkehr des Dalai Lamas!", | |
haben sie gerufen. Mit der spontanen Revolte der tibetischen Jugendlichen | |
hatte das wenig gemeinsam. Nie würden zwei so gediegene, | |
selbstkontrollierte Herren wie Za und Dang ihre weiten dunkelroten Roben | |
gegen Jeans und Lederjacke tauschen. | |
Dasselbe aber gilt auch umgekehrt für die aufbegehrenden Jugendlichen. Ihre | |
politischen Motive mögen unklar bleiben, ihr westlicher Chic aber ist ein | |
unumkehrbares Statement. | |
Das alles muss sich also irgendwie unter den goldenen Dächern des | |
Potalapalasts zusammenfinden: der hochpolitisierte Klosterstand, die | |
dynamische chinesische Geschäftswelt, das militaristische kommunistische | |
Kadertum und die neue Generation urbaner Tibeter. Kein Wunder, dass es am | |
Freitag richtig geknallt hat. | |
18 Mar 2008 | |
## AUTOREN | |
Georg Blume | |
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