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# taz.de -- Wie die 68er den Pazifismus verlernten: Von der Empörung zur Gewal…
> Warum stellte die Linke das Gewaltmonopol des Staates so massiv in Frage?
> Zentrale Erfahrungen waren der Krieg in Vietnam und die Todesschüsse auf
> Benno Ohnesorg. Ein Essay
Bild: Der Autor als junger Mann, Berlin-Moabit 1968
Wer darf unter welchen Bedingungen innerstaatliche Gewalt ausüben?
Anscheinend ist diese Frage heutzutage auch im Milieu der Linken geklärt.
Es ist der Staat, der das "Monopol legitimer physischer Gewaltausübung"
besitzen soll. So definierte es der Soziologe Max Weber vor über 100
Jahren. Legitim ist staatliche Gewalt aber nach heutiger Auffassung dann,
wenn sie nicht willkürlich gehandhabt, wenn sie durch die Grundsätze des
Rechtsstaats, der Grundrechte und der Demokratie "eingehegt" wird.
Gemessen an diesem normativen Verständnis erscheint es schwer begreiflich,
warum die Generation der radikal linken 68er - einschließlich vieler ihrer
Sympathisanten aus dem intellektuellen Umfeld - eine gänzlich andere
Vorstellung von der Legitimität politischer Gewalt entwickelten. Warum sie
am Ende weder dem Rechtsstaat noch den Institutionen der parlamentarischen
Demokratie vertrauten und insbesondere nicht bereit waren, dem staatlichen
Gewaltmonopol einen Blankoscheck auszustellen. Und warum sie stattdessen
der unterdrückerischen Gewalt des Staates die Gegengewalt der Unterdrückten
entgegensetzen wollten.
Waren die radikalen Linken etwa psychisch defekt, wie manche Kritiker heute
meinen? Waren sie Gewaltfetischisten, die sich eine existenzielle
Entscheidungssituation herbeiträumten, sich vom Gebrauch von Knarre und
Sprengstoff eine rauschhafte Steigerung ihres Erlebens versprachen?
Werfen wir einen Blick zurück, auf eine Demonstration linker Studenten
Mitte der 1960er-Jahre. Wir sehen eine Versammlung kreuzbraver, meist dem
akademischen Mittelstand entstammender Jugendlicher, die - nach dem Vorbild
ihrer Kommilitonen in den USA - für Meinungsfreiheit auf dem Campus und
demokratische Reformen der Universität streiten. Wenig später strömen sie
zu friedlichen Demonstrationen in die Stadtzentren.
Sie protestieren gegen den Krieg in Vietnam. Sie organisieren unter
Missachtung der Straßenverkehrsordnung Sitzstreiks und Blockaden, also
Formen des zivilen Ungehorsams - ebenfalls Importprodukte aus den USA. Von
der Anfechtung des staatlichen Gewaltmonopols, gar von Gegengewalt keine
Spur.
Auf diese wohlgesittete Schar wird ein entschlossener Gewaltapparat
losgelassen. Als befinde man sich im Bürgerkrieg, rücken die
Hundertschaften der Polizei, ausgerüstet mit Knüppeln, Tränengas und
Wasserwerfern, gegen die Demonstranten vor. Flankiert wird diese Offensive
durch ein Trommelfeuer des medienbeherrschenden Springer-Konzerns, der die
Studenten als Tiere (langhaarige Affen) und rotlackierte Faschisten
tituliert.
Der Aufmarsch staatlicher Gewalt gegen die linken Rebellen stieß in der
deutschen Gesellschaft kaum auf Widerstand. Es regierte der Horror vor der
bolschewistischen Gefahr, in dem sich die noch wirksame Nazi-Indoktrination
und konkrete Bedrohungsängste trübe mischten. In dem Maße, in dem die
Studentenbewegung in Schule und Familie ihr antiautoritär-demokratisches
Potenzial entfaltete, wuchsen die Bedrohungsängste und verdichteten sich zu
einem klar umrissenen Feindbild.
In Westberlin spielte sich noch ein anderes Psychodrama ab. Die große
Mehrheit der Bevölkerung sah in der Kritik am Krieg in Vietnam eine
elementare Verletzung der Solidarität mit den USA, die doch Westberlin
während der Berliner Blockade "vor den Kommunisten gerettet" hatten. Auch
das heroische Selbstbild der Westberliner wurde durch die studentischen
Aktionen angekratzt. Hatte man etwa der drohenden roten Machtübernahme
getrotzt, um sich von den linken Studenten auf der Nase herumtanzen zu
lassen?
Bis zum 2. Juni 1967, als der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten -
keineswegs in Notwehr - erschossen wurde, hielten sich die studentischen
Aktionen einfallsreich in der Schwebe, in einem trickreichen
Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Danach änderte sich alles: Die
Staatsgewalt tötete und versuchte auch noch den Totschlag zu vertuschen.
Als die Linken durch eigene Ermittlungen die Wahrheit ans Licht brachten,
stand für sie fest: Der Rechtsstaat hatte versagt.
Der Tod des Studenten Ohnesorg wurde fortan nicht mehr als isolierte Untat
gesehen, sondern auf der Folie der politischen Auseinandersetzung um die
"Notstands"-Gesetze interpretiert. Diese Gesetze, 1968 verabschiedet,
schränkten die Geltung der Grundrechte im Notstandsfall ein, zu dem auch
der "innere Notstand" gehörte.
Die linken Rebellen standen vor einem bedrückenden Szenario: Der autoritäre
Polizei- und Sicherheitsstaat kann sich auch im Rahmen einer
parlamentarischen Demokratie etablieren und diese von innen aushöhlen. Was
tun? Die linken Studenten befürworteten mit Teilen der Gewerkschaftsbasis
den (gesetzlich verbotenen) politischen Generalstreik. Der Versuch
scheiterte.
Und dann war da noch der Krieg in Vietnam. Demokratischen Institutionen und
einer unabhängigen Presse zum Trotz beging die US-Armee fortlaufend
Kriegsverbrechen und löschte in den drei Staaten Indochinas ganze
Bevölkerungsgruppen aus. In den Augen der Linken führte das vietnamesische
Volk, repräsentiert durch die nationale Befreiungsfront (FNL) und
Nordvietnam, einen Befreiungskrieg. Deshalb rief man an den Universitäten
nicht nur zum Frieden in Vietnam auf, sondern sammelte auch Geld für
"Waffen für den Vietcong".
Die Gewaltanwendung durch die Vietnamesen und andere Befreiungsfronten galt
fraglos als gerecht. Die radikale Linke von 1968 unterstützte, im Gegensatz
zur Friedensbewegung der 1980er-Jahre, weitgehend die Vorstellung vom
gerechten Krieg, wenn er als Verteidigung gegenüber dem Imperialismus
auftrat und dabei Elemente der sozialen Befreiung und der Demokratie
hervorbrachte. Als historischen Bezugspunkt sah man die
Anti-Hitler-Koalition. Die Vorstellung einer prinzipiellen Gewaltfreiheit
war in dieser Zeit eine Minderheitsposition.
Die radikalen Linken waren aktions- und praxisgläubig und dazu buchgläubig.
Was sie erlebten, mussten sie theoretisch begreifen und einordnen. Aber der
Komplex der Gewaltanwendung sperrte sich gegen schlichte Kategorisierung:
Auf internationaler Ebene mochte die allgemeine Solidarität mit den gegen
den Imperialismus kämpfenden Völkern selbstverständlich sein. Aber wie
stand es mit der Gewaltanwendung durch die radikale Linke in den
kapitalistischen Metropolen?
Diese seit 1967 schwelende Debatte wurde mit strategisch-utilitaristischen
wie mit ethischen Kategorien geführt, die sich oft vermischten und
verschoben - auch in den Köpfen ihrer Protagonisten. Tilman Fichter, ein
Berliner SDS-Aktivist, formulierte es kürzlich so: "Beim Frühstück konnte
Rudi Dutschke noch überzeugter Pazifist sein, während er beim Mittagessen
revolutionäre Gewalt für notwendig hielt. Ehrlicherweise muss man sagen,
dass jeder von uns in diesen Debatten unterschiedliche Auffassungen
vertreten hat."
In strategisch-utilitaristischer Sicht erschien Gewaltanwendung unter den
Bedingungen entwickelter kapitalistischer Industriestaaten als ungeeignetes
Kampfmittel, solange der autoritäre Staat nicht seine eigene
bürgerlich-parlamentarische Verfassung über Bord warf und zum
systematischen Terror überging. Bis dahin sollten sich die Aktionen der
radikalen Linken in einem Rahmen bewegen, der Leben und Gesundheit auch der
gegen sie eingesetzten Polizei- und Sicherheitskräfte nicht bedroht.
Die von der antiautoritären Revolte propagierten Aktionsformen, die
Organisation in selbstbestimmten Aktions- und Basisgruppen, die massenhafte
Verweigerung gegenüber individualisierenden bürgerlichen Karrieren und die
Sabotagearbeit in den bürokratischen Apparaten machten in den Augen der
radikalen Linken den Rekurs auf Gewaltanwendung in einem Land wie der
Bundesrepublik auch nicht nötig.
Neben diesen strategischen Überlegungen gab es einen ethisch motivierten
Argumentationsstrang, der in der Losung "Gewalt gegen Sachen ja, Gewalt
gegen Personen nein" mitschwang. Man konnte diese Losung als prinzipielle
ethische Maxime verstehen. Gerade von einer Bewegung, die sich angesichts
der Verletzung ethischer Normen radikalisiert hatte, war eigentlich zu
erwarten, dass der Grundsatz "keine Gewalt gegen Personen" als
entscheidendes ursprüngliches Motiv außer Zweifel steht.
Das Problem war nur, dass diese differenzierte Definition von Gewalt bei
der Härte der Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht schwer durchzuhalten
war. Das zeigte sich schon bei den letztlich erfolglosen Blockadeaktionen
gegen den Springer-Konzern nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, wo Gewalt
gegen Sachen und Gewalt gegen Personen nicht mehr trennscharf zu
unterscheiden waren. Noch deutlicher wurde das Dilemma in der Berliner
"Schlacht am Tegeler Weg" Ende 1968, wo gegen das drohende Berufsverbot für
den APO-Anwalt Horst Mahler demonstriert wurde.
## Die 68er erlauben sich keine Denkpause
Die "Schlacht" hinterließ eine große Anzahl durch Steinwürfe verletzter
Polizisten. Sie wurde von den Demonstranten als legitime Gegenwehr
verstanden, als endlich gelungener Nachweis, dass die Polizei die
Protestierenden nicht wie eine Herde Schafe vor sich hertreiben konnte.
Freilich war damit ein Exempel von Gegengewalt gesetzt, das der prekären
Unterscheidung von Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen ihre
ethische Komponente entzog.
Zahlreiche Debatten in studentischen Vollversammlungen wie im Rahmen des
SDS in den Jahren 1967/68 zeugten von dem Bemühen, die Gewaltfrage
theoretisch wie praktisch "in den Griff" zu bekommen. Alle Aktionen, in
denen Gewalt mitspielte, sollten nach dem ursprünglichen Willen der linken
Radikalen dem Prinzip der Einheit von Aktion und (anschließender) Reflexion
unterliegen. Die Radikalen wollten so einem nicht mehr kontrollierbaren
Aktion-Reaktion-Schema der Gewaltanwendung entrinnen und verhindern, dass
Gewalt ihre kommunikationstötende stumme Potenz entfaltet.
Warum gelang das nicht mehr? Die linke Versammlungsöffentlichkeit, die
lange Zeit in der Studentenbewegung ein wirksames Instrument demokratischer
Debatte und Kontrolle gewesen war, zerfiel rasch. Es bildeten sich
Subkulturen, die sich keiner solchen Öffentlichkeit mehr
rechenschaftspflichtig wähnten. Ausschlaggebend aber war eine Mentalität in
allen Gruppen der APO, die sich dem Innehalten, dem gründlichen Nachdenken
über den eingeschlagenen Weg widersetzte.
Ende des Jahres 1968 rief eine Gruppe um den Theologen Helmut Gollwitzer
die gesamte außerparlamentarische Opposition dazu auf, alle Aktionen für
einen Moment ruhen zu lassen, eine "Denkpause" einzulegen. Doch genau das,
was die Radikalen damals am nötigsten hatten, mochte ihnen am wenigsten
schmecken. Es sollte immer weiter-, immer vorangehen. Das Eisen schmieden,
so lange es heiß ist: Die Revolution macht keine Pause. Wäre diese
Selbsttäuschung vermeidbar gewesen? Sicher. Aber das hätte eine entwickelte
politische Kultur der Linken in Deutschland vorausgesetzt.
Der radikale Ausweg aus dem Gewaltdilemma war ein dezisionistischer Akt -
die Gründung der Roten Armee Fraktion (RAF). Die von ihr propagierte Losung
des bewaffneten Kampfs in den Metropolen stieß auf die fast vollständige
Ablehnung der radikalen Linken. Das gilt für die Gruppen, die auf der Basis
des bürgerlichen Staates für den Sozialismus kämpfen wollten, wie für die
dogmatischen K-Gruppen, die die revolutionäre Gewalt an die Erhebung des
Proletariats banden. Sie lehnten die Anschläge der RAF als
konterrevolutionär ab, da zur Unzeit und von den falschen Leuten verübt -
also mit den alten utilitaristischen Argumenten .
Erst der Siegeszug der ökologischen Bewegung in der zweiten Hälfte der
1970er-Jahre pflügte dieses Gelände um. Einer der vier Grundpfeiler der
entstehenden Grünen-Partei war die Forderung nach prinzipieller
Gewaltfreiheit. In ihrer übergroßen Mehrheit unterschrieben die Aktivisten
der 1960er-Jahre dieses Postulat und zogen damit die Konsequenz aus dem
zwiespältigen Ergebnis, das die Anwendung revolutionärer Gewalt im 20.
Jahrhundert gezeitigt hat. Doch dieser fast geräuschlose Übergang
entlastete die Linksradikalen von einer allzu schmerzlichen Beschäftigung
mit ihren früheren Positionen.
Diese Bejahung des Prinzips der Gewaltlosigkeit bedeutete jedoch nicht die
vorbehaltlose Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols "ohne Wenn und
Aber", wie sie Otto Schily einforderte. Der Grund für diesen Vorbehalt war
rational. Denn mit der blanken Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols
drohte auch die Anerkennung seiner jeweils konkreten Erscheinungsformen.
Ganz zu schweigen vom Imperativ jeder linken Politik, staatliche
Gewaltanwendung durch neue Formen der Gewaltprävention und
Konfliktschlichtung einzugrenzen und schrittweise zurückzunehmen.
Von dieser kritischen Reserve der Linken ist heute, im Zeichen des "Kampfs
gegen den internationalen Terrorismus", nicht viel übrig geblieben. Der
Zivilisationsgewinn durch das prinzipielle Ja zur Gewaltfreiheit hat also
eine Schattenseite. Der präventive Sicherheitsstaat, der die Grenzen des
staatlichen Gewaltmonopols verwischt und damit die Demokratie gefährdet,
braucht kaum mehr mit gesellschaftlicher Gegenwehr zu rechnen.
© Le Monde diplomatique, Berlin
6 May 2008
## AUTOREN
Christian Semler
## TAGS
Studentenbewegung
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