| # taz.de -- Geschichtsjahr 2009: "Vergangenheit ist ein Reservoir fürs Erinner… | |
| > 2009 wird das Mega-Erinnerungsjahr: 20 Jahre Mauerfall, 60 Jahre | |
| > Grundgesetz und 70 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs. Interessant wird | |
| > vor allem die Frage, wem die Erinnerung an 1989 gehört, meint der | |
| > Historiker Martin Sabrow. | |
| Bild: Nach dem Mauerfall: Feiern am Brandenburger Tor | |
| taz: Herr Sabrow, auf was freuen Sie sich 2009 am meisten? | |
| Martin Sabrow: Eine Fußball-WM gibt es ja nicht. | |
| Nur die Leichtathletik-WM. | |
| Die interessiert mich nicht so sehr. Dann also auf die TSG Hoffenheim und | |
| der Aufstieg von Holstein Kiel in die dritte Bundesliga. | |
| Und als Historiker? | |
| Als Historiker freue ich mich darauf, dass uns 2009 die Chance gibt, die | |
| Leistungskraft der Zeitgeschichtsforschung darzustellen. Zwar sind Jubiläen | |
| und Jahrestage für Historiker ein Problem, weil sie nicht aus der Logik der | |
| fachwissenschaftlichen Entwicklung erwachsen, sondern eventartig einzelne | |
| Ereignisse herausgreifen … | |
| … und damit ihre eigenen Konjunkturen schaffen. | |
| Aber wir Historiker können uns diese Konjunkturen auch zunutze machen. Wie | |
| schon die Preußenausstellung 1981 zeigte, können öffentliche | |
| Geschichtsinszenierungen für große Umschwünge in der Geschichtskultur | |
| selbst stehen. Und sie sind natürlich für Historiker ein eigenes | |
| Forschungsfeld, in dem sich die Formungskräfte der Geschichtskultur | |
| dingfest machen lassen. Ich erwarte mir im Hinblick auf 2009 in beiderlei | |
| Hinsicht viel: einmal ein stärkeres Bewusstsein für die Vielschichtigkeit | |
| der SED-Diktatur und ihres Untergangs. Und auf der anderen Seite, dass wir | |
| besser verstehen lernen, wie sich Geschichtskulturen in unserer Zeit | |
| verändern. | |
| Wenn Sie vom Eventjahr 2009 reden, wie sieht da die Reihenfolge aus? An | |
| erster Stelle 20 Jahre Mauerfall, dann 60 Jahre Grundgesetz und schließlich | |
| 70 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs? | |
| Wollen wir nicht noch ein bisschen weitergehen? Es mag gut sein, dass beim | |
| Fortgang der Wirtschaftskrise der 80. Jahrestag des Schwarzen Oktobers 1929 | |
| eine unvermutet starke Rolle spielen wird, weil Vergangenheit eben immer | |
| ein Reservoir ist, aus dem heraus jede Zeit Geschichte immer neu | |
| konstruiert und Antworten auf aktuelle Fragen erhofft. | |
| Was haben Sie sonst im Angebot? | |
| Unter anderen Bedingungen hätte es auch sein können, dass dem Jahr 1919 | |
| eine besondere Rolle zukommen würde. 1919 war für eine ganze | |
| Erinnerungsgeneration das Jahr, das die Idee eines "dritten Weges" zwischen | |
| Kapitalismus und Kommunismus in sich beschloss. Wenn das in unserem Blick | |
| heute nicht mehr aufscheint, hat das auch damit zu tun, dass die | |
| Revolutionsromantik der 68er und Post-68er das letzte Aufflackern einer | |
| historischen Heldenkultur bedeutete. Einer historischen Heldenkultur, die | |
| der Gewalt von Revolutionen als vermeintlichen Lokomotiven der | |
| Weltgeschichte huldigte. Das Geschichtsbewusstsein unserer Gegenwart | |
| hingegen arbeitet sich ab am Leid der Unterdrückten und gibt der Klage der | |
| Entrechteten mehr Gehör als dem Appell der Beglücker. Auch deshalb wird | |
| sicherlich der 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs 1939 eine wichtige | |
| Bedeutung haben. | |
| Auch wegen des großen Interesses aus dem Ausland am Zweiten Weltkrieg? | |
| Das spielt auch eine Rolle, natürlich. Aber dominant wird natürlich nicht | |
| 1919 sein und nicht 1939, sondern die gewaltfreie Niederstürzung des | |
| zweiten großen Diktatursystems des 20. Jahrhunderts. | |
| Gedenkjahre bergen immer auch Kontroversen in sich. Was 1989 betrifft, gab | |
| es eine solche bereits im Vorfeld, und Sie selbst waren als Vorsitzender | |
| der Expertenkommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mittendrin. | |
| Während Kulturstaatssekretär Bernd Neumann eine stärkere Beachtung der | |
| Diktatur forderte, plädierten Sie für mehr Aufmerksamkeit gegenüber dem | |
| Alltag in der DDR. Ist das Stoff für einen neuen Historikerstreit? | |
| Der Streit ist schon Geschichte, und außerdem war er nur eine medial | |
| aufgeheizte Minikontroverse … | |
| … in der man Ihnen vorgeworfen hat, die DDR weichzuspülen. | |
| Da spielten auch die Medien eine Rolle und der Wunsch, konträre Positionen | |
| zu isolieren: Stasi gegen Kinderkrippen. Wenn Sie sich das jetzt | |
| beschlossene Gedenkstättenkonzept des Staatsministers anschauen, dann sind | |
| nahezu alle Elemente enthalten, die wir als Expertenkommission eingebracht | |
| haben, einschließlich der unentbehrlichen Alltagsdimension, zum Beispiel in | |
| dem im Gedenktstättenkonzept prominent erwähnten Dokumentationszentrum | |
| Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt. | |
| Welche Kontroversen erwarten Sie für 2009? | |
| Die werden sich nicht um das Verhältnis von Diktatur und Alltag drehen, | |
| sondern sicherlich viel mehr um die Frage, wem 1989 denn gehört. | |
| Wer erhebt alles Anspruch? | |
| Wir können drei Umbruchsgedächtnisse unterscheiden, die miteinander um | |
| Deutungshoheit konkurrieren. Einmal ist da das Revolutionsgedächtnis, | |
| getragen vor allem von der Opposition gegen das SED-Regime, von der | |
| Bürgerbewegung und denjenigen, die 1989 als eine friedliche Revolution | |
| begreifen. Daneben gibt es aber ein zumindest in Ostdeutschland vermutlich | |
| weit tiefer verankertes soziales Arrangementgedächtnis. Es zeigt sich schon | |
| semantisch, indem man vom Herbst 1989 nicht als Revolution spricht, sondern | |
| als Wende. Das Arrangementgedächtnis versucht das eigene Leben mit den sich | |
| verändernden Rahmenbedingungen in der Erinnerung zu verbinden. Da ist der | |
| eigentliche Umbruch oft nicht der 9. November, auch wenn er natürlich von | |
| fast allen als eine explosive Befreiung erlebt wurde, sondern der spätere | |
| Verlust des Arbeitsplatzes. | |
| Und das dritte Gedächtnis? | |
| Das wird keine so große Rolle spielen, zumindest nicht öffentlich. In | |
| Suböffentlichkeiten vielleicht schon. Das ist das Anschlussgedächtnis | |
| derer, die sagen: "Was heißt hier Revolution? Es handelt sich eher um einen | |
| Anschluss!" Diese drei Gedächtnisse werden sich aneinander abarbeiten, und | |
| es erscheint mir wichtig, dieser Auseinandersetzung Raum zu geben und nicht | |
| das eine Gedächtnis mit dem anderen zu erschlagen - sei es durch das | |
| Verstummen mit zusammengebissenen Lippen, sei es durch triumphale Gesten | |
| der öffentlichen Erinnerungsherrschaft. | |
| Der Berliner Senat zeigt aus gegebenem Anlass eine Ausstellung am | |
| Alexanderplatz, am 9. November selbst wird es ein Event geben, dessen | |
| Mittelpunkt das Umfallen tausender Dominosteine ist. Wo hört | |
| Erinnerungskultur auf, wo fängt Tourismusmarketing an? | |
| Touristen sind ein ganz wesentlicher Bestandteil der Erinnerungskultur. | |
| Auch die Touristen, die auf die Wartburg fahren, um nach dem Luther-Fleck | |
| zu schauen, folgen einer touristischen Erinnerungskultur. Erinnerungskultur | |
| ist die beherrschende Form der Vergangenheitsvergegenwärtigung unserer | |
| heutigen Zeit, die dem Gedächtnis dieselbe affektive Bedeutung beimisst wie | |
| die vorausgegangenen Generationen der Idee des Fortschritts und dem Bild | |
| einer strahlenden Zukunft. Geschichte wird für die Identitätsbildung von | |
| Städten, von Nationen, von Bürgern, von Milieus immer wichtiger. | |
| Mit der zunehmenden Bedeutung von Geschichte verändert sich auch deren | |
| Vermittlung. Was verändert das Histotainment am Berufsbild des Historikers? | |
| Bis in die Sechziger- und frühen Siebzigerjahre wurden Geschichtsstudenten | |
| entweder Hochschullehrer oder Geschichtslehrer. Später wurden sie oft auch | |
| Taxifahrer und zeugten so von einer Krise der Historikerausbildung. Es | |
| zeigte sich aber auch, dass Historiker viel breitere Berufsbilder | |
| entwickelten als andere geisteswissenschaftliche Disziplinen. Sie eroberten | |
| sich Berufsfelder in Unternehmensarchiven, sie beteiligten sich an dem, was | |
| heute Geschichtskultur heißt. Sie sind heute in vielen Professionen tätig, | |
| in denen mit Geschichte gearbeitet und gehandelt, aber oft nicht auf | |
| Geschichte reflektiert wird. Ich glaube deshalb, dass wir auch neue | |
| Studiengänge für Historiker brauchen, die den klareren Anwendungsbezug mit | |
| der Reflexion auf die Entwicklungskräfte der Geschichtskultur verbinden. | |
| Wie den Studiengang Public History, den das ZZF zusammen mit dem | |
| Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin anbietet? | |
| Das ist in der Süddeutschen Zeitung vor kurzem als kurzsichtiges | |
| Powerpoint-Studium kritisiert worden. Tatsächlich aber geht es darum, | |
| anwenderbezogen Fertigkeiten praktisch zu vermitteln und theoretisch zu | |
| reflektieren. Der Studiengang will den metareflexiven Beitrag zur Geltung | |
| bringen, den die Fachwissenschaft über das hinaus einbringen kann, was | |
| jeder leisten kann, wenn er sich mit Geschichte beschäftigt. | |
| Die Kulturstiftung des Bundes beteiligt sich 2009 auch am Erinnern an den | |
| Herbst 1989. Sie veranstaltet, unter anderem mit Ihrem Institut, ein | |
| Geschichtsfest. Kann man sagen, dass sich da eine neue Dichotomie | |
| abzeichnet: auf der einen Seite die Geschichtspolitik von oben, auf der | |
| anderen eine neue Geschichtskultur von unten? | |
| Das ist ein interessantes Bild. Allerdings sehe ich diese Dichotomisierung | |
| eher nicht. Ich kann im Gegenteil ein gewisses Unbehagen an dem nicht | |
| unterdrücken, was wir heute "Vergangenheitsaufarbeitung" nennen. Und zwar | |
| nicht, weil sich die Aufarbeitung etwa gegen die gedenkpolitischen Maximen | |
| des Staates oder der Öffentlichkeit stemmen würde. Ganz im Gegenteil: | |
| Unbehagen verspüre ich, weil wir alle auf eine verblüffende Weise im | |
| Konsens agieren. Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft sind sich seit | |
| dem heftigen Streit um die Wehrmachtsausstellung Mitte der Neunzigerjahre | |
| fast unheimlich einig geworden über die tragenden Linien der historischen | |
| Identitätsbildung. Ich frage mich, ob dies nicht am Ende einen schnell hart | |
| werdenden Panzer des historischen Bewusstseins geben kann, der dann von | |
| anderer Seite aufgesprengt wird - von außen oder von unten. | |
| Zum Beispiel im Wahljahr 2009, wenn die NPD in weitere Parlamente ziehen | |
| würde. | |
| Die differenzierende historische Auseinandersetzung erreicht Rechtsradikale | |
| nicht. Die Vertiefung historischer Kenntnisse hat nicht zu einer | |
| Austrocknung rechtsradikaler Positionen geführt. Umgekehrt sehe ich auch | |
| nicht, dass geschichtsrevisionistische Ansätze von rechts stärker in das | |
| kulturelle Gedächtnis einsickern. | |
| Auch keine Umdeutung der Deutschen von einem Täter- zum Opfervolk? | |
| Nein, das würde ich eher anders herum erklären. Der gesellschaftliche | |
| Opferkonsens ist mittlerweile so breit und so identitätsbildend geworden, | |
| dass er heute auch Bevölkerungsgruppen in ihrem erfahrenen Leid zur Geltung | |
| kommen lassen kann, die man früher alle auf der Täterseite gebucht hätte. | |
| Die zeitweilige Ausgrenzung etwa des Vertriebenenschicksals aus der | |
| Erinnerungskultur hatte damit zu tun, dass der Zeit ihrer Tabuisierung eine | |
| Zeit der Aufrechnung vorangegangen war. Die hat in nationalen | |
| Aufrechnungskategorien argumentiert und so versucht, eine Gleichrangigkeit | |
| der Schuld herzustellen. Mittlerweile sind wir von der moralischen | |
| Singularität des Holocaust so stark durchdrungen, dass unsere souveräner | |
| und sensibler gewordene Geschichtskultur es sich leisten kann, auch mit dem | |
| Leiden von Opfern umzugehen, in denen sich Tätergesichter spiegeln können. | |
| Welche Rolle kann bei der Aufarbeitung, im Gegensatz zur | |
| Geschichtswissenschaft, die Literatur spielen? Uwe Tellkamps Roman "Der | |
| Turm" ist ein vielstimmiges Bild der untergehenden DDR, wie es von | |
| Historikern selten gezeichnet wird. | |
| Ihre Frage berührt ein ganz wichtiges Feld der Forschung, das noch gar | |
| nicht erschlossen ist - nämlich die Frage nach dem Kommunismus als | |
| Erzählung. Wir wird kommunistische Herrschaft, wie wird das Leben in den | |
| Staaten Mittel- und Osteuropas im Nachhinein in der erzählten | |
| Lebensgeschichte repräsentiert? Wie stark wird es zum Beispiel genetisch | |
| erzählt, vom Anfang, von den Wurzeln? Wie stark wird es teleologisch | |
| erzählt, vom Ende her? Wie verarbeiten Biografien historische Umbrüche? Aus | |
| der Beantwortung solcher Fragen werden wir noch viel lernen über die | |
| Mechanismen zeitgeschichtlicher Diktaturverarbeitung. | |
| 2 Jan 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Uwe Rada | |
| ## TAGS | |
| Geschichte | |
| Literatur | |
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