# taz.de -- Schulmassaker in Winnenden: Amok im Idyll | |
> Nach der Bluttat von Tim K. befindet sich Winnenden im Ausnahmezustand. | |
> Die Bevölkerung ist verunsichert, die Schüler der Realschule sind völlig | |
> geschockt. | |
Bild: Ein völlig unauffälliger Sohn, der zum Killer wurde: Klingelschild der … | |
Sein Sohn winkt nicht, er kann ihn nicht sehen. Bernd H. ist Vater, ein | |
kantiger, blonder Schwabe in seinen 40ern, Versicherungsvertreter. Hilflos | |
steht er vor einer rot-weißen Polizeiabsperrung, hinter der gerade etwas | |
passiert ist, was hier niemand richtig verstehen kann. Amoklauf. Der | |
Attentäter soll noch in der Innenstadt von Winnenden sein Unwesen treiben, | |
und drüben im oberen Stock des Lessing-Gymnasiums, umringt von Polizisten, | |
sind Schüler zusammengedrängt, manche drücken ihre Gesichter gegen die | |
Scheiben, winken nervösen Beamten zu. | |
Nur der Sohn des Vaters ist nicht dabei. Auf dem Dach der benachbarten | |
Albertville-Realschule, eines schmucklosen, kastenartigen Zweckbaus, | |
patrouillieren bewaffnete Polizisten. "Es gibt zwei Tote außerhalb der | |
Schule, und das Gymnasium teilt sich einen Schulhof mit der | |
Albertville-Schule", sagt Bernd H. Seine hellen Augen sind rot unterlaufen. | |
Der Mann war selbst Schüler auf der Schule, die jetzt zum Synonym für einen | |
der schlimmsten Amokläufe in der Geschichte der Bundesrepublik werden wird. | |
Winnenden ist eine gemütliche Kleinstadt, zwei Dutzend Kilometer | |
nordöstlich von Stuttgart gelegen. In der wohlhabenden schwäbischen | |
Provinz. "Es ist wie in Amerika, ganz grausam, ganz schlimm ist das", sagt | |
Bernd H. Hinter der Absperrung hetzt ein Sondereinsatzkommando in seine | |
Einsatzwagen, man scheint den Attentäter gestellt zu haben. | |
Es fängt an zu hageln, Eltern und Freunde harren hinter den Absperrbändern | |
aus. Niemand weint, niemand bricht zusammen, die Menschen stehen einfach | |
nur da, sind fassungslos und sagen immer wieder, alles sei wie in Amerika, | |
hier in Winnenden. | |
Zuvor ist die Lage völlig verworren. Über der Stadt kreisen Hubschrauber, | |
Polizeifahrzeuge stehen quer auf den Straßen, ständig Sirenen, viele Bürger | |
verharren aus Furcht in ihren Häuser, andere schlendern umher und gaffen an | |
den Absperrungen. Der Amokläufer ist noch in der Stadt. Nur wo? | |
An einer Kreuzung in unmittelbarer Nähe der Schule sind schwer bewaffnete | |
Polizisten, extrem nervös, blicken ständig um sich, als ob der Attentäter | |
aus dem Hinterhalt das Feuer eröffnen könnte. Er soll einen schwarzen | |
Mantel anhaben und eine schwarze Tasche tragen, wie rein zufällig auch der | |
Autor dieses Textes. An der ersten Polizeisperre kommt es zur Verwechslung: | |
Ein Polizist zückt seine Waffe, brüllt: "Hände aus der Tasche!", Befehle | |
werden gebrüllt, in Sekundenschnelle ist das Gesicht auf den Beton | |
gedrückt, erst allmählich klärt sich das Missverständnis auf. Das Fatale: | |
Ob der Attentäter verfolgt wird und in welche Richtung er flieht, die | |
Beamten an der Straßensperre wissen es offenbar nicht. | |
Immer wieder kommen Eltern, die nicht wissen, was mit ihren Kindern | |
passiert ist, ob sie unter den Opfern sind, Gerüchte und Falschmeldungen | |
über Tote und Verletzte kursieren. Bernd H. kann seinen Sohn immer noch | |
nicht erreichen, er denkt an einen Freund, dem es schlimmer geht: Er hat | |
eine Tochter in der zehnten Klasse der Albertville-Realschule. In der | |
zehnten Klasse hat Tim K. sein Massaker begonnen. Niemand weiß, wen es | |
getroffen hat. | |
Auf dem Handy ist niemand erreichbar, "man bekommt nichts mit", sagt Bernd | |
H. seltsam ruhig, schüttelt den Kopf. Die Polizei richtet schließlich in | |
Hermann-Schwab-Halle einen Informationspunkt ein, direkt gegenüber der | |
Schule. Dort verschwindet Bernd H. zwischen Rotkreuzhelfern und anderen | |
Eltern, auf der Suche nach seinem Sohn. | |
Gegen 13 Uhr wird klar, dass der Amokläufer tot ist. Er heißt es, er sei | |
von der Polizei erschossen worden - später wird klar, es war Selbstmord. | |
In der Turnhalle der Schule sammelt sich Presse aus ganz Deutschland, | |
Ministerpräsident Günther Oettinger ist kaum zu verstehen, er spricht | |
langsam, stockt immer wieder. Journalisten gehen einem in diesem Moment | |
äußert seltsamen Job nach. Sie werfen immer wieder Fragen in den Raum, | |
wollen die Anzahl der Toten bestätigt haben, wie viele Lehrer, wie viele | |
Schüler, wer ist verletzt, was für Waffen, ist einer der Schwerverletzten | |
gestorben? Wie sah das Finale aus? Hat die Polizei den Amokläufer | |
erschossen? Wer ist er überhaupt? | |
"Er war ein völlig unauffälliger Schüler. Er ist nie in irgendeiner Form | |
auffällig gewesen", sagt der Kultusminister. Völlig unauffällig, wie der | |
Ort, aus dem er stammt: Wenige hundert Meter hinter einem Ortsschild | |
"Weiler z. Stein", ein Dorf, gemütlich, keine soziale Problemzone in einer | |
Großstadt, gemütlicher Mittelstand. Die Dorfgaststätte braut ihr eigenes | |
Bier, mehr Bemerkenswertes gibt es zwischen diesen sanften, grünen Hügeln | |
nicht. Vor dem Haus von Tim K. steht Polizei, "zum Schutz der Familie", | |
sagt ein Beamter, denn die kann ja nichts für das, was der Sohn getan hat. | |
"Gut Leben" heißt der Gemischtwarenladen vor der Tür, es gibt | |
Zeitschriften, Lotto und Quelle. | |
Eine Nachbarin zeigt auf das neu anmutende Einfamilienhaus, in Tim K. | |
lebte. Weiß getüncht, rotes Dach, die Jalousien heruntergelassen. Was die | |
Nachbarin sagt, es ist fast zu erahnen: Man habe den Jungen auch mal | |
gesehen, auf dem Dorffest, die Familie gekannt. Eine ganz normale, | |
unauffällige Familie, über die es nichts Besonderes zu sagen gibt, ergänzt | |
sie. | |
12 Mar 2009 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arzt | |
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