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# taz.de -- Rückblick 1989: Die Planung des Mauerfalls
> Sie aßen Bockwurst und konferierten bis in die Nacht. Schon vor dem 9.
> November arbeiteten Westberliner Beamte daran, dass die Öffnung der
> Grenze nicht ins Chaos führt. Sogar die Ostkollegen bekamen Tipps.
Bild: Günter Schabowski im Jahr 1991.
Er braucht eine Weile, bis er den richtigen Zettel erwischt. Er kramt in
dem Papierstapel. Ein Mitarbeiter kommt und hilft Günter Schabowski suchen.
Schabowski kratzt sich am Kopf, setzt die Lesebrille auf und liest vor. Er
bemüht sich, das alles beiläufig aussehen zu lassen. Es dauert einen
Augenblick, bis die Korrespondenten im Pressezentrum kapieren, was das
Politbüromitglied der SED gerade gesagt hat: Die DDR gewährt ihren Bürgern
Reisefreiheit. Aber ab wann? "Sofort, unverzüglich" gelte das, verkündet
Schabowski, "meines Wissens".
Als wüsste er es selbst nicht so genau. Als wäre es nicht das Kalkül des
Politbüros, durch die Öffnung der Mauer das aufgebrachte Volk zu
besänftigen. Es ist der 9. November 1989. Der Tag, an dem die Mauer fällt.
Schabowski ist der Mann, der sie mit seinem Zettel umstürzt. Plötzlich und
unerwartet.
So sieht das im Nachhinein aus, im Jahr 2009, in den Geschichtsbüchern.
Günter Schabowski wirkt wie ein Aufseher im großen Gefängnis DDR, der
versehentlich den falschen Knopf gedrückt hat. Den, der alle Tore öffnet.
Jahrzehnte deutscher Teilung enden mit dem Verlesen eines Zettels. Es gibt
ein Bild von der Pressekonferenz. Mit gestreifter Krawatte sitzt Schabowski
neben seinem Aktenkoffer, vor ihm eine Reihe Mikrofone. Er ist auf diesem
Foto einer, der zurückschreckt, als würden die Aufnahmegeräte ihn in die
Enge treiben. Als hätte er das alles nicht mehr unter Kontrolle.
Danach kommen in den Geschichtsbüchern die Bilder mit den Sektflaschen,
Trabischlangen an Grenzübergängen, Menschen auf der Mauer, freiheitsselige
Gesichter. Das ist der 9. November im Gedächtnis der Deutschen: eine
historische Wendung, die in diesem Moment die Stadt, das Land und die Welt
überrascht. Es ist eine schöne Erinnerung. Aber eine mit Lücken. Die Mauer
fiel sanfter, als heute viele denken. Apparatschiks Ost und Bürokraten West
fingen die Wucht des Sturzes ab, eine ungewohnte Zusammenarbeit lange vor
der Vereinigung, und eine nützliche.
Man muss vom 9. November aus genau elf Tage zurückspulen, um zu den Bildern
zu gelangen, die im gemeinsamen Gedächtnis fehlen. Darauf ist wieder Günter
Schabowski zu sehen. Diesmal sitzt er im Rosensalon des Ostberliner
Palasthotels. 29. Oktober, das Mittagessen ist serviert. Unterm Fenster
fließt die Spree vorbei. Um den Tisch haben sich Walter Momper, der
Regierende Bürgermeister von Westberlin, einige Kirchenvertreter der DDR
und der Bürgermeister von Ostberlin versammelt. Schabowski ist neu in der
SED-Führung. Er erzählt den Westlern, was sich gerade ändert in der Partei
nach Honeckers Abgang. Dann sagt er den Satz, der wie eine Revolution
klingt: Wir werden eine Reiseregelung schaffen, die diesen Namen verdient.
Am Tisch hört auch Dieter Schröder die Ankündigung. Es werden Tausende in
den Westen drängen, denkt er sofort. Aber wie viele genau?
Im September 2009. Das feine, gepunktete Tuch hat er sich akkurat um den
Hals gebunden. Dieter Schröder nimmt im grünen Ledersessel der Lobby Platz.
Er übernachtet immer in diesem Hotel am Kudamm, wenn er zu Besuch in Berlin
ist. Schröder wohnt in der Nähe von Rostock, wo er nach der Wende für die
SPD Oberbürgermeister wurde. Seine Brille ist nur etwas weniger klobig als
damals beim Treffen mit Schabowski. Als er davon erzählt, flüstert er fast.
Seine Stimme kratzt. Die Worte reihen sich präzise aneinander, als
diktierte er sie einer Sekretärin. "Schabowski war der erste Mensch aus der
Führung der DDR, der normal sprach", sagt er. "Das war schon
bemerkenswert."
Schröder ist Jurist und Politologe, doppelt promoviert, vor allem aber ist
er ein Beamter. Leute wie Schabowski und Momper sind die Gesichter der
Wendetage. Leute wie Schröder sind die Hirne dahinter. In den Siebzigern
kümmert er sich in Berlin als Regierungsdirektor um
Vier-Mächte-Angelegenheiten. Am Ende der Achtziger wird er unter Walter
Momper Chef der Berliner Senatskanzlei. Er hat eine exakte Vorstellung von
den Dienstwegen zwischen den Bürokratien von BRD und DDR, zwischen Bonn und
Berlin, zwischen französischen, englischen, amerikanischen und russischen
Kommandanten. Er ist wie gemacht für den Job, der an jenem Sonntag nach dem
Mittagessen im Rosensalon auf ihn wartet: Der Mann, der Westberlin 1989 auf
den Mauerfall einstellt.
Dass Schabowski am 29. Oktober die Reisefreiheit ankündigt, kommt für
Schröder nicht unerwartet. Er ist gern vorbereitet und so weiß er auch
diesmal schon Bescheid. Dank seiner Verbindung zu einem Kirchenmann, zu
Manfred Stolpe.
Die letzten Tage der Deutschen Demokratischen Republik laufen. Schon seit
September fliehen Massen von DDR-Bürgern über Ungarn und die
Tschechoslowakei in Richtung Bundesrepublik. Anfang Oktober rufen auf
Leipzigs Straßen zum ersten Mal 8.000 Menschen nach Freiheit. Die
SED-Führung ist verunsichert. Sie stürzt den alten Erich Honecker. Egon
Krenz, der neue Generalsekretär, spricht von einer Wende. Einen Tag nach
Honeckers Sturz trifft sich Krenz mit den Mächtigen der evangelischen
Kirche der DDR in einem Jagdschloss am Werbellinsee, eine Stunde
nordöstlich von Berlin. Auch der Kirchenfunktionär Manfred Stolpe fährt am
Mittag des 19. Oktober zum Schloss Hubertusstock.
Stolpe, später Regierungschef von Brandenburg, bewegt sich zu dieser Zeit
als Konsistorialpräsident zwischen Kirche und Staat, zwischen Ost und West.
Ihm machen die Demonstrationen im Land Sorgen. Manche sind niedergeknüppelt
worden. Er fürchtet, dass die Gewalt eskaliert, dass geschossen wird. Die
Kirche hat klare Forderungen an die SED, eine davon: Reisefreiheit. Was
Krenz den Kirchenleuten nun in einem Zimmer des Schlosses bei einer Tasse
Filterkaffee sagt, klingt für Stolpe wie eine Antwort darauf. Andere
Meinungen sollen zugelassen werden, eine veränderte Wahlordnung sei
geplant, die Wirtschaft müsse effizienter werden. Das Wichtigste aber: Die
meisten Bürger werden reisen dürfen, ohne große Formalitäten, ohne
kompliziertes Verfahren. Bis Weihnachten soll es so weit sein.
Stolpe hat erwartet, sagt er heute, dass Krenz auf die Kirche zukommen
würde. Der Generalsekretär will Ruhe ins Land bringen, das wird ohne die
Hilfe der Pfarrer nicht gelingen. Aber was er dann sagt, überrascht den
Konsistorialpräsidenten doch. Reisefreiheit. Der Westberliner Senat muss
informiert werden, denkt er. Dieter Schröder muss das erfahren.
Am 25. Oktober 1989 um 8 Uhr betritt ein Bote von Stolpe Schröders Büro im
Rathaus Schöneberg. Stolpe ist das Scharnier zwischen den Beamtenapparaten
in Ost und West, ein Mittler. Er hält Schröder auf dem Laufenden. Auch
deswegen ist dem Spitzenbeamten klar, dass die Mauer dem Druck der
DDR-Bürger nicht länger standhalten kann. Spätestens seit der Massenflucht
über die Botschaften von Prag und Budapest wirkt sie für ihn wie ein
marodes Betondenkmal für ein untergehenden Systems. Aber was werden die
Sowjets sagen, die Alliierten? Wie wird die DDR-Führung reagieren?
Es ist eine Zeit der Ungewissheit. Schröder plant dagegen an. Sorgfältig
sammelt er Informationen, die aus den Verwaltungsmaschinerien von DDR, BRD
und Alliierten zu ihm fließen. Er versucht sich die Zukunft geordnet
vorzustellen.
Im Umfeld des Regierenden Bürgermeisters entwerfen sie insgeheim sogar ein
Szenario, das sie den "Sturm von hinten über die Mauer" nennen. Wenn 600
oder 700 Todesmutige gemeinsam auf die Grenzanlagen zurennen würden, gäbe
es eine schreckliche Schießerei. Irgendwann aber hätten die Soldaten keine
Munition mehr. So lange, bis Nachschub käme, wäre die Mauer an der Stelle
offen. Vielleicht für 20 oder 30 Minuten. Dadurch würde eine neue
Massenflucht möglich. Und dann?
Die Nachricht, die er an diesem 25. Oktober von Stolpe bekommt, lässt
solche Szenarien unwahrscheinlicher aussehen. Offenbar ist Krenz klug
genug, einzulenken und weitgehend freies Reisen zu erlauben. Schröder lässt
Stolpe fragen, ob sie die Mitteilung von der geplanten Regelung etwas
offizieller bekommen können. Er hätte die Zukunft gern noch klarer. In
derselben Woche diskutieren die Vertreter der Bundesländer in Düsseldorf
darüber, wer für die Unterbringung der DDR-Flüchtlinge zahlen soll. Berlin
ist voll. Der Senat hat Wohncontainer gemietet. Es gibt kaum noch Bauland,
überall stehen die improvisierten Behausungen. Die Verwaltung überlegt
sogar, auf Flächen zu bauen, die für Friedhöfe vorgesehen sind.
Als die Ministerpräsidenten in Düsseldorf verhandeln, vertritt Schröder den
Regierenden Bürgermeister. Er wird ans Telefon gerufen. Stolpe. Er würde
Momper gerne für Sonntag zum Mittagessen ins Palasthotel einladen, sagt er.
Er werde sich dafür einsetzen, dass auch Schabowski kommt. Schröder sagt
zu. Es wird wohl um die Reisefreiheit gehen.
Eigentlich müsste er die Alliierten über das Treffen informieren. Darauf
verzichtet er. Es scheint ihm an der Zeit, dass der Senat Verantwortung für
die Deutschlandpolitik übernimmt.
29. Oktober, Palasthotel. Schabowski kündigt beim Mittagessen im Rosensalon
tatsächlich Reisefreiheit an. Schröder ist mit seiner Berechnung schnell
fertig. Bis zu 500.000 Leute, schätzt er, könnten so aus der DDR nach
Westberlin strömen. Sollen die alle durch den Grenzübergang
Friedrichsstraße, den einzigen im Nahverkehrsnetz? Das würde stundenlanges
Warten bedeuten.
Alles kommt ihm reichlich dilettantisch vor. Wie kann eine Staatsführung
einfach so eine Regelung planen, ohne über die wichtigsten Folgen
nachzudenken? Schröder beugt sich in Schabowskis Richtung: "Haben Sie eine
Vorstellung davon, wie es an Ihrer Grenze aussieht? Wie sollen denn die
Leute da durchkommen?" Es müssen Grenzübergänge geöffnet werden, schlägt er
vor: Alexanderplatz, das würde die U-Bahn-Kapazitäten verdoppeln, dazu
Rosenthaler Platz und Potsdamer Platz. Darüber habe er noch gar nicht
nachgedacht, sagt Schabowski.
Dann kommt der Augenblick, in dem Schröder merkt, dass sich jetzt wirklich
etwas tut. Das jahrzehntelang Unvorstellbare ist greifbar.
"Könnten Sie mir das einmal aufschreiben", bittet Schabowski. Und besser
nicht auf dem offiziellen Weg schicken, sonst stünden wieder irgendwelche
Kommentare von Bedenkenträgern dran. Am besten über Stolpe.
Damit hat Schröder nicht gerechnet: Einer der einflussreichsten Männer der
DDR fordert ihn auf, wesentliche Informationen am Staatsapparat
vorbeizuschleusen. Weil er den eigenen Beamten misstraut. An der Spitze
dieses durchbürokratisierten Regimes gibt sich einer plötzlich völlig
unbürokratisch.
Das ist ernst, denkt Schröder.
In seinem Kopf ordnen sich die neuen Aufgaben schon den Abteilungen und
Unterabteilungen im Schöneberger Rathaus zu, den Senatoren und
Staatssekretären, Direktoren und Referatsleitern. Wirtschaft, Verkehr,
Inneres, Finanzen.
"Wenn du die Weihnachtseinkäufe ohne Gedränge erledigen willst", sagt er am
Abend zu Hause zu seiner Frau, "dann kümmer dich jetzt darum. Es könnte
bald voll werden." Was planbar ist, sollte man regeln. So sieht er das.
Auch privat.
Er hat eine Vorstellung, wie sich Westberlin auf den Ansturm der DDR-Bürger
vorbereiten muss. Er will, dass es touristisch läuft, nicht über die
Sozialverwaltung. Sie dürfen sich auf keinen Fall wie Bittsteller fühlen.
Für Tourismus ist Jörg Rommerskirchen zuständig, Staatssekretär beim
Wirtschaftssenator.
Juni 2009. Im Café stellt Rommerskirchen sein Aktentäschchen auf den Tisch.
Er trägt ein gelbes Hemd von Lacoste, helle Hosen und eine halbierte
Lesebrille. Auf seiner privaten Visitenkarte steht Staatssekretär A.D. Er
sieht sommerfrisch aus, freundlich, und irgendwie auch nach einem
Westberlin, das es seit knapp 20 Jahren nicht mehr gibt. Er wollte
eigentlich präpariert erscheinen. Er habe den ganzen Sonntag lang nach den
Protokollen der Arbeitsgruppe gesucht, sie aber leider nicht gefunden.
Es ist normalerweise überhaupt nicht seine Art, Dinge zu verlegen. Jetzt
muss er sich eben ohne Akten erinnern. Rommerskirchen rückt seine Brille
zurecht und erzählt.
Bevor ihn der SPD-Wirtschaftssenator 1989 als Staatssekretär nach Berlin
holte, hat Rommerskirchen in Hamburg das Amt für Hafen, Schifffahrt und
Verkehr geleitet. Der Hafen war für den Handel mit der DDR zentral. Er ist
damals oft nach Warnemünde, Rostock, Wismar gefahren, nach Leipzig zur
Messe, nach Dresden, und Ostberlin. "Ich war DDR-Kenner", sagt er.
Rommerskirchen ist wie Schröder vor allem eines: Beamter aus Überzeugung.
Sein Vater war Bundestagsabgeordneter für die CDU. Ihn selbst beeindruckt
Willy Brandts Ostpolitik vom "Wandel durch Annäherung" so sehr, dass er mit
der Familientradition bricht und in die SPD eintritt. Er beschließt früh,
kein Politiker zu werden. Er will die Dinge wirklich in die Hand nehmen.
Dafür, glaubt er, muss er in die Verwaltung. Politiker reden, Beamten
regeln.
Er wird Kabinettsprotokollant in Hessen. Nach Sitzungen liegen seine
Mitschriften am nächsten Morgen um neun Uhr auf den Schreibtischen - auch
wenn er tippen muss, bis es hell wird.
31. Oktober 1989. Die Regierung von Westberlin beschließt "die Einsetzung
einer Projektgruppe zur Vorbereitung auf einen verstärkten Besucher- und
Reiseverkehr aus Ost-Berlin und aus der DDR". Rommerskirchen soll sie
leiten. Für den Neuen eine Chance. Er lädt sofort zur ersten
Arbeitssitzung, gleich am nächsten Tag.
Die Gruppe tagt im Haus der Wirtschaftsverwaltung, direkt unterm Dach. Der
Staatssekretär treibt zur Eile an. Er will Ergebnisse. Weihnachten ist zwar
noch einige Wochen hin, aber wer weiß schon, was in der DDR passiert.
Verwaltungen brauchen Zeit, bis die Vorlagen die Kürzel aller zuständigen
Abteilungsleiter tragen. Er legt fest: Einstimmige Beschlüsse sind nicht
nötig, es reichen Mehrheitsentscheidungen. Sie diskutieren, worauf es
ankommt.
Die Berliner Verkehrsbetriebe müssen sich vorbereiten, damit die U-Bahnen
und S-Bahnen nicht überfüllt stecken bleiben. Die Ostler brauchen richtige
Karten, in ihrem Stadtplan ist Westberlin nur ein weißer Fleck, sie müssen
wissen, dass sie gratis mit der BVG fahren dürfen. Man muss sie warnen,
dass sie sich fürs Begrüßungsgeld keinen Quatsch andrehen lassen. Es werden
mehr Unterkünfte gebraucht. Auch die Westberliner müssen vorbereitet
werden. Die Stadt ist voller Flüchtlinge. Es darf zwischen Westlern und
Ostlern auf keinen Fall Ärger geben. Ein Papier des Presseamts sieht vor,
in der Bevölkerung ein "positives Bewusstsein" zu wecken. Momper müsste
einen Brief an alle Berliner schreiben. Die PR-Leute sollen eine
Zeitungsanzeige formulieren und Begrüßungsplakate entwerfen.
Die Schlüsselfrage ist aber: Wie viele Leute werden überhaupt kommen?
Schröder hat vorgeschlagen, mit einem Kirchentag zu rechnen, "100.000
plus", sagt er seinen Staatssekretären. Er glaubt eher an 500.000, aber
wenn er das sagt, halten die ihn für verrückt, fürchtet er. Der Senat
beschließt, den Journalisten gegenüber von 100.000 Besuchern zu sprechen
und sich tatsächlich auf 300.000 vorzubereiten. Rommerskirchen sagt: "Wir
haben den Senat nicht zu korrigieren, aber lasst uns besser 500.000
nehmen." Im Grunde sind sich die beiden Beamten Schröder und Rommerskirchen
einig. Wer mit dem Schlimmsten rechnet, ist auch im günstigsten Fall gut
vorbereitet. Sie sind vorsichtig.
Schröder lässt die Liste mit den zusätzlichen Grenzübergängen über Stolpe
zu Schabowski schicken. In seinem Büro läuft in diesen Tagen immer leise
das Radio. Es könnte jeden Moment etwas passieren. Der Senatskanzleichef
verfasst einen Brief an den Kanzler, den Momper am 6. November
unterzeichnet. Neue Übergänge müssten geöffnet werden, die BRD müsse
Kontakt mit der DDR aufnehmen, man müsse Eisenbahnzüge bereitstellen und
endlich dieses Begrüßungsgeld regeln.
Im Bonner Kanzleramt von Helmut Kohl scheint der Brief in irgendeiner
Posteingangsmappe stecken zu bleiben. Oder er wird geprüft. Intensiv.
Niemand reagiert.
Am 6. November veröffentlicht das Neue Deutschland auf zwei Seiten zum
ersten Mal das geplante Reisegesetz. Es liest sich nicht wie Reisefreiheit.
In dem Entwurf beschränkt eine Einschränkung die nächste.
Die Massen gehen dagegen auf die Straße. Die SED-Spitze sieht ein: Der
Entwurf muss überarbeitet werden, sonst bringt er keine Ruhe.
Die Westberliner Zeitungen haben in der Zwischenzeit berichtet, was der
Senat plant. "Alles überlegt: Wie erleichtern wir unseren Landsleuten den
Aufenthalt bei uns", fragt die B.Z. "Als ob die Mauer nur noch Geschichte
sei", titelt die taz. "Lasst bitte eure Trabis zu Hause", plärrt die
Bild-Zeitung. Wie viele Leute passen ins KaDeWe?
Außerhalb von Berlin nimmt kaum jemand Notiz.
Am 8. November trifft sich die Rommerskirchen-Gruppe zum zweiten Mal. Als
die Beamten festlegen wollen, wie viele Tonnen Papier für die
Informationsbroschüren bestellt werden müssen, steht der Vertreter des
Finanzsenators auf. Was der Wirtschaftsstaatssekretär da gerade anweise,
sei vom aktuellen Landeshaushalt nicht gedeckt. Rommerskirchen schaut zum
Protokollführer: "Das notieren Sie bitte sorgfältig und sie protokollieren
bitte auch, dass wir beschließen, genau dies zu tun."
Am Abend lässt der Chef 40 Bockwürste holen. Zur Stärkung. Sie tagen bis in
die Nacht. Die BVG hat mitgeteilt, dass sie mit dem Smogalarmplan den
ersten Ansturm abfangen könnte. Rommerskirchen hat den Eindruck, es geht
voran. Er macht Tempo.
"Es gab mal eine Zeit", sagt Schröder in der Hotellobby im September 2009,
"in der die Berliner Verwaltung blitzschnell gearbeitet hat."
Am 9. November steht in der Berliner Morgenpost, dass der Verkehrssenator
überlegt, den Kudamm zu schließen, wenn die DDR-Bürger kommen. Um 12 Uhr
trifft sich im Reichstag die Kommission "Arbeitsplätze für Berlin". Walter
Momper leitet sie. Jörg Rommerskirchen hat einen Pilotenkoffer voller
Arbeit mitgebracht und blättert sich am Rand durch einen Stapel Akten. Ein
Saaldiener kommt und bittet ihn ans Telefon. Sein Bekannter Peter
Brinkmann, ein Bild-Zeitungsredakteur, lässt ihm ausrichten: Die
Krenz-Leute sprechen über Reisefreiheit, das wird heute noch ganz ernst.
Rommerskirchen geht zu Momper und flüstert ihm von hinten ins Ohr: "Walter,
da passieren heute noch ernsthafte Dinge." Der Regierende dreht sich um:
"Verbürgst du dich für die Quelle?" Der Staatssekretär überlegt. "Ja", sagt
er. Momper wendet sich zum Verkehrssenator, der neben ihm sitzt: Er solle
die BVG informieren, dass sie sich zumindest auf einen
Wochenendnachtverkehr vorbereitet. Keiner weiß genau, was jetzt folgen
wird. Der Senatssprecher entwirft eine Zeitungsanzeige, die die Berliner
ermuntern soll, sich auf die DDR-Besucher zu freuen.
Während sie in Westberlin diskutieren, liest in Ostberlin Schabowski auf
seiner Pressekonferenz die Regelung vor, die "sofort, unverzüglich" in
Kraft trete. Ein Fotograf der Deutschen Presseagentur schießt das Bild, das
später die Erinnerung prägt.
Die Grenze ist offen
Schröder ruft den Senat zu einer Sondersitzung um 22 Uhr zusammen. Es ist
eine Ausnahmesituation, die strukturiert werden muss. Es gibt dafür
Institutionen.
Um 19.30 Uhr tritt Momper in der "Berliner Abendschau" auf. Er sagt, das
sei ein Tag der Freude: "Alle DDR-Bürger können zu uns kommen und uns
besuchen." An den Grenzübergängen bilden sich Trabischlangen.
Gegen zwei Uhr nachts steht Dieter Schröder an der Invalidenstraße, sieht
den Sekt fließen und beobachtet, wie ein britischer Militärpolizist, ein
Berliner Beamter und ein DDR-Grenzer gemeinsam den Autoverkehr regeln.
Berlin ist präpariert, vielleicht nicht sehr gut, aber mindestens
ausreichend. Am nächsten Tag wird Schabowski Schröder die genehmigte Liste
mit den neuen Grenzübergängen bringen lassen. Der Spitzenbeamte wird sie
für Walter Momper kopieren und der wird sie dem Außenminister
Hans-Dietrich-Genscher geben, damit er sie vor dem Schöneberger Rathaus
verlesen kann. Die Menschenmenge wird jubeln. In der Nacht zum 11. November
werden die Infoblätter gedruckt werden. Die U-Bahnen und S-Bahnen werden
fahren, völlig überfüllt, aber ohne Unterbrechungen. Selbst die Sache mit
dem Begrüßungsgeld wird funktionieren, ohne Bonner Hilfe. Sie haben das mit
den Banken geregelt.
Am ersten Wochenende werden zwei Millionen Menschen nach Berlin strömen.
Viermal 500.000. Alles können Beamte auch nicht berechnen.
Rommerskirchen lässt sich am Abend des 9. November von seinem Fahrer zur
Bornholmer Straße bringen. Als der BMW im Verkehr stecken bleibt, läuft er
zur Grenze. Rommerskirchen ist gerührt. Seine Frau stammt aus Thüringen.
Das hier fühlt sich wie Wiedervereinigung an. Er fährt trotzdem bald nach
Hause.
Der 10. November ist der Tag, an dem Willy Brandt am Brandenburger Tor
verkündet, dass jetzt zusammenwächst, was zusammengehört.
Um sechs Uhr morgens sitzt Jörg Rommerskirchen im Büro.
5 Oct 2009
## AUTOREN
Johannes Gernert
Johannes Gernert
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Mauerfall
Der 9. November
Günter Schabowski
DDR
Der 9. November
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