| # taz.de -- Rückblick 1989: Die Planung des Mauerfalls | |
| > Sie aßen Bockwurst und konferierten bis in die Nacht. Schon vor dem 9. | |
| > November arbeiteten Westberliner Beamte daran, dass die Öffnung der | |
| > Grenze nicht ins Chaos führt. Sogar die Ostkollegen bekamen Tipps. | |
| Bild: Günter Schabowski im Jahr 1991. | |
| Er braucht eine Weile, bis er den richtigen Zettel erwischt. Er kramt in | |
| dem Papierstapel. Ein Mitarbeiter kommt und hilft Günter Schabowski suchen. | |
| Schabowski kratzt sich am Kopf, setzt die Lesebrille auf und liest vor. Er | |
| bemüht sich, das alles beiläufig aussehen zu lassen. Es dauert einen | |
| Augenblick, bis die Korrespondenten im Pressezentrum kapieren, was das | |
| Politbüromitglied der SED gerade gesagt hat: Die DDR gewährt ihren Bürgern | |
| Reisefreiheit. Aber ab wann? "Sofort, unverzüglich" gelte das, verkündet | |
| Schabowski, "meines Wissens". | |
| Als wüsste er es selbst nicht so genau. Als wäre es nicht das Kalkül des | |
| Politbüros, durch die Öffnung der Mauer das aufgebrachte Volk zu | |
| besänftigen. Es ist der 9. November 1989. Der Tag, an dem die Mauer fällt. | |
| Schabowski ist der Mann, der sie mit seinem Zettel umstürzt. Plötzlich und | |
| unerwartet. | |
| So sieht das im Nachhinein aus, im Jahr 2009, in den Geschichtsbüchern. | |
| Günter Schabowski wirkt wie ein Aufseher im großen Gefängnis DDR, der | |
| versehentlich den falschen Knopf gedrückt hat. Den, der alle Tore öffnet. | |
| Jahrzehnte deutscher Teilung enden mit dem Verlesen eines Zettels. Es gibt | |
| ein Bild von der Pressekonferenz. Mit gestreifter Krawatte sitzt Schabowski | |
| neben seinem Aktenkoffer, vor ihm eine Reihe Mikrofone. Er ist auf diesem | |
| Foto einer, der zurückschreckt, als würden die Aufnahmegeräte ihn in die | |
| Enge treiben. Als hätte er das alles nicht mehr unter Kontrolle. | |
| Danach kommen in den Geschichtsbüchern die Bilder mit den Sektflaschen, | |
| Trabischlangen an Grenzübergängen, Menschen auf der Mauer, freiheitsselige | |
| Gesichter. Das ist der 9. November im Gedächtnis der Deutschen: eine | |
| historische Wendung, die in diesem Moment die Stadt, das Land und die Welt | |
| überrascht. Es ist eine schöne Erinnerung. Aber eine mit Lücken. Die Mauer | |
| fiel sanfter, als heute viele denken. Apparatschiks Ost und Bürokraten West | |
| fingen die Wucht des Sturzes ab, eine ungewohnte Zusammenarbeit lange vor | |
| der Vereinigung, und eine nützliche. | |
| Man muss vom 9. November aus genau elf Tage zurückspulen, um zu den Bildern | |
| zu gelangen, die im gemeinsamen Gedächtnis fehlen. Darauf ist wieder Günter | |
| Schabowski zu sehen. Diesmal sitzt er im Rosensalon des Ostberliner | |
| Palasthotels. 29. Oktober, das Mittagessen ist serviert. Unterm Fenster | |
| fließt die Spree vorbei. Um den Tisch haben sich Walter Momper, der | |
| Regierende Bürgermeister von Westberlin, einige Kirchenvertreter der DDR | |
| und der Bürgermeister von Ostberlin versammelt. Schabowski ist neu in der | |
| SED-Führung. Er erzählt den Westlern, was sich gerade ändert in der Partei | |
| nach Honeckers Abgang. Dann sagt er den Satz, der wie eine Revolution | |
| klingt: Wir werden eine Reiseregelung schaffen, die diesen Namen verdient. | |
| Am Tisch hört auch Dieter Schröder die Ankündigung. Es werden Tausende in | |
| den Westen drängen, denkt er sofort. Aber wie viele genau? | |
| Im September 2009. Das feine, gepunktete Tuch hat er sich akkurat um den | |
| Hals gebunden. Dieter Schröder nimmt im grünen Ledersessel der Lobby Platz. | |
| Er übernachtet immer in diesem Hotel am Kudamm, wenn er zu Besuch in Berlin | |
| ist. Schröder wohnt in der Nähe von Rostock, wo er nach der Wende für die | |
| SPD Oberbürgermeister wurde. Seine Brille ist nur etwas weniger klobig als | |
| damals beim Treffen mit Schabowski. Als er davon erzählt, flüstert er fast. | |
| Seine Stimme kratzt. Die Worte reihen sich präzise aneinander, als | |
| diktierte er sie einer Sekretärin. "Schabowski war der erste Mensch aus der | |
| Führung der DDR, der normal sprach", sagt er. "Das war schon | |
| bemerkenswert." | |
| Schröder ist Jurist und Politologe, doppelt promoviert, vor allem aber ist | |
| er ein Beamter. Leute wie Schabowski und Momper sind die Gesichter der | |
| Wendetage. Leute wie Schröder sind die Hirne dahinter. In den Siebzigern | |
| kümmert er sich in Berlin als Regierungsdirektor um | |
| Vier-Mächte-Angelegenheiten. Am Ende der Achtziger wird er unter Walter | |
| Momper Chef der Berliner Senatskanzlei. Er hat eine exakte Vorstellung von | |
| den Dienstwegen zwischen den Bürokratien von BRD und DDR, zwischen Bonn und | |
| Berlin, zwischen französischen, englischen, amerikanischen und russischen | |
| Kommandanten. Er ist wie gemacht für den Job, der an jenem Sonntag nach dem | |
| Mittagessen im Rosensalon auf ihn wartet: Der Mann, der Westberlin 1989 auf | |
| den Mauerfall einstellt. | |
| Dass Schabowski am 29. Oktober die Reisefreiheit ankündigt, kommt für | |
| Schröder nicht unerwartet. Er ist gern vorbereitet und so weiß er auch | |
| diesmal schon Bescheid. Dank seiner Verbindung zu einem Kirchenmann, zu | |
| Manfred Stolpe. | |
| Die letzten Tage der Deutschen Demokratischen Republik laufen. Schon seit | |
| September fliehen Massen von DDR-Bürgern über Ungarn und die | |
| Tschechoslowakei in Richtung Bundesrepublik. Anfang Oktober rufen auf | |
| Leipzigs Straßen zum ersten Mal 8.000 Menschen nach Freiheit. Die | |
| SED-Führung ist verunsichert. Sie stürzt den alten Erich Honecker. Egon | |
| Krenz, der neue Generalsekretär, spricht von einer Wende. Einen Tag nach | |
| Honeckers Sturz trifft sich Krenz mit den Mächtigen der evangelischen | |
| Kirche der DDR in einem Jagdschloss am Werbellinsee, eine Stunde | |
| nordöstlich von Berlin. Auch der Kirchenfunktionär Manfred Stolpe fährt am | |
| Mittag des 19. Oktober zum Schloss Hubertusstock. | |
| Stolpe, später Regierungschef von Brandenburg, bewegt sich zu dieser Zeit | |
| als Konsistorialpräsident zwischen Kirche und Staat, zwischen Ost und West. | |
| Ihm machen die Demonstrationen im Land Sorgen. Manche sind niedergeknüppelt | |
| worden. Er fürchtet, dass die Gewalt eskaliert, dass geschossen wird. Die | |
| Kirche hat klare Forderungen an die SED, eine davon: Reisefreiheit. Was | |
| Krenz den Kirchenleuten nun in einem Zimmer des Schlosses bei einer Tasse | |
| Filterkaffee sagt, klingt für Stolpe wie eine Antwort darauf. Andere | |
| Meinungen sollen zugelassen werden, eine veränderte Wahlordnung sei | |
| geplant, die Wirtschaft müsse effizienter werden. Das Wichtigste aber: Die | |
| meisten Bürger werden reisen dürfen, ohne große Formalitäten, ohne | |
| kompliziertes Verfahren. Bis Weihnachten soll es so weit sein. | |
| Stolpe hat erwartet, sagt er heute, dass Krenz auf die Kirche zukommen | |
| würde. Der Generalsekretär will Ruhe ins Land bringen, das wird ohne die | |
| Hilfe der Pfarrer nicht gelingen. Aber was er dann sagt, überrascht den | |
| Konsistorialpräsidenten doch. Reisefreiheit. Der Westberliner Senat muss | |
| informiert werden, denkt er. Dieter Schröder muss das erfahren. | |
| Am 25. Oktober 1989 um 8 Uhr betritt ein Bote von Stolpe Schröders Büro im | |
| Rathaus Schöneberg. Stolpe ist das Scharnier zwischen den Beamtenapparaten | |
| in Ost und West, ein Mittler. Er hält Schröder auf dem Laufenden. Auch | |
| deswegen ist dem Spitzenbeamten klar, dass die Mauer dem Druck der | |
| DDR-Bürger nicht länger standhalten kann. Spätestens seit der Massenflucht | |
| über die Botschaften von Prag und Budapest wirkt sie für ihn wie ein | |
| marodes Betondenkmal für ein untergehenden Systems. Aber was werden die | |
| Sowjets sagen, die Alliierten? Wie wird die DDR-Führung reagieren? | |
| Es ist eine Zeit der Ungewissheit. Schröder plant dagegen an. Sorgfältig | |
| sammelt er Informationen, die aus den Verwaltungsmaschinerien von DDR, BRD | |
| und Alliierten zu ihm fließen. Er versucht sich die Zukunft geordnet | |
| vorzustellen. | |
| Im Umfeld des Regierenden Bürgermeisters entwerfen sie insgeheim sogar ein | |
| Szenario, das sie den "Sturm von hinten über die Mauer" nennen. Wenn 600 | |
| oder 700 Todesmutige gemeinsam auf die Grenzanlagen zurennen würden, gäbe | |
| es eine schreckliche Schießerei. Irgendwann aber hätten die Soldaten keine | |
| Munition mehr. So lange, bis Nachschub käme, wäre die Mauer an der Stelle | |
| offen. Vielleicht für 20 oder 30 Minuten. Dadurch würde eine neue | |
| Massenflucht möglich. Und dann? | |
| Die Nachricht, die er an diesem 25. Oktober von Stolpe bekommt, lässt | |
| solche Szenarien unwahrscheinlicher aussehen. Offenbar ist Krenz klug | |
| genug, einzulenken und weitgehend freies Reisen zu erlauben. Schröder lässt | |
| Stolpe fragen, ob sie die Mitteilung von der geplanten Regelung etwas | |
| offizieller bekommen können. Er hätte die Zukunft gern noch klarer. In | |
| derselben Woche diskutieren die Vertreter der Bundesländer in Düsseldorf | |
| darüber, wer für die Unterbringung der DDR-Flüchtlinge zahlen soll. Berlin | |
| ist voll. Der Senat hat Wohncontainer gemietet. Es gibt kaum noch Bauland, | |
| überall stehen die improvisierten Behausungen. Die Verwaltung überlegt | |
| sogar, auf Flächen zu bauen, die für Friedhöfe vorgesehen sind. | |
| Als die Ministerpräsidenten in Düsseldorf verhandeln, vertritt Schröder den | |
| Regierenden Bürgermeister. Er wird ans Telefon gerufen. Stolpe. Er würde | |
| Momper gerne für Sonntag zum Mittagessen ins Palasthotel einladen, sagt er. | |
| Er werde sich dafür einsetzen, dass auch Schabowski kommt. Schröder sagt | |
| zu. Es wird wohl um die Reisefreiheit gehen. | |
| Eigentlich müsste er die Alliierten über das Treffen informieren. Darauf | |
| verzichtet er. Es scheint ihm an der Zeit, dass der Senat Verantwortung für | |
| die Deutschlandpolitik übernimmt. | |
| 29. Oktober, Palasthotel. Schabowski kündigt beim Mittagessen im Rosensalon | |
| tatsächlich Reisefreiheit an. Schröder ist mit seiner Berechnung schnell | |
| fertig. Bis zu 500.000 Leute, schätzt er, könnten so aus der DDR nach | |
| Westberlin strömen. Sollen die alle durch den Grenzübergang | |
| Friedrichsstraße, den einzigen im Nahverkehrsnetz? Das würde stundenlanges | |
| Warten bedeuten. | |
| Alles kommt ihm reichlich dilettantisch vor. Wie kann eine Staatsführung | |
| einfach so eine Regelung planen, ohne über die wichtigsten Folgen | |
| nachzudenken? Schröder beugt sich in Schabowskis Richtung: "Haben Sie eine | |
| Vorstellung davon, wie es an Ihrer Grenze aussieht? Wie sollen denn die | |
| Leute da durchkommen?" Es müssen Grenzübergänge geöffnet werden, schlägt er | |
| vor: Alexanderplatz, das würde die U-Bahn-Kapazitäten verdoppeln, dazu | |
| Rosenthaler Platz und Potsdamer Platz. Darüber habe er noch gar nicht | |
| nachgedacht, sagt Schabowski. | |
| Dann kommt der Augenblick, in dem Schröder merkt, dass sich jetzt wirklich | |
| etwas tut. Das jahrzehntelang Unvorstellbare ist greifbar. | |
| "Könnten Sie mir das einmal aufschreiben", bittet Schabowski. Und besser | |
| nicht auf dem offiziellen Weg schicken, sonst stünden wieder irgendwelche | |
| Kommentare von Bedenkenträgern dran. Am besten über Stolpe. | |
| Damit hat Schröder nicht gerechnet: Einer der einflussreichsten Männer der | |
| DDR fordert ihn auf, wesentliche Informationen am Staatsapparat | |
| vorbeizuschleusen. Weil er den eigenen Beamten misstraut. An der Spitze | |
| dieses durchbürokratisierten Regimes gibt sich einer plötzlich völlig | |
| unbürokratisch. | |
| Das ist ernst, denkt Schröder. | |
| In seinem Kopf ordnen sich die neuen Aufgaben schon den Abteilungen und | |
| Unterabteilungen im Schöneberger Rathaus zu, den Senatoren und | |
| Staatssekretären, Direktoren und Referatsleitern. Wirtschaft, Verkehr, | |
| Inneres, Finanzen. | |
| "Wenn du die Weihnachtseinkäufe ohne Gedränge erledigen willst", sagt er am | |
| Abend zu Hause zu seiner Frau, "dann kümmer dich jetzt darum. Es könnte | |
| bald voll werden." Was planbar ist, sollte man regeln. So sieht er das. | |
| Auch privat. | |
| Er hat eine Vorstellung, wie sich Westberlin auf den Ansturm der DDR-Bürger | |
| vorbereiten muss. Er will, dass es touristisch läuft, nicht über die | |
| Sozialverwaltung. Sie dürfen sich auf keinen Fall wie Bittsteller fühlen. | |
| Für Tourismus ist Jörg Rommerskirchen zuständig, Staatssekretär beim | |
| Wirtschaftssenator. | |
| Juni 2009. Im Café stellt Rommerskirchen sein Aktentäschchen auf den Tisch. | |
| Er trägt ein gelbes Hemd von Lacoste, helle Hosen und eine halbierte | |
| Lesebrille. Auf seiner privaten Visitenkarte steht Staatssekretär A.D. Er | |
| sieht sommerfrisch aus, freundlich, und irgendwie auch nach einem | |
| Westberlin, das es seit knapp 20 Jahren nicht mehr gibt. Er wollte | |
| eigentlich präpariert erscheinen. Er habe den ganzen Sonntag lang nach den | |
| Protokollen der Arbeitsgruppe gesucht, sie aber leider nicht gefunden. | |
| Es ist normalerweise überhaupt nicht seine Art, Dinge zu verlegen. Jetzt | |
| muss er sich eben ohne Akten erinnern. Rommerskirchen rückt seine Brille | |
| zurecht und erzählt. | |
| Bevor ihn der SPD-Wirtschaftssenator 1989 als Staatssekretär nach Berlin | |
| holte, hat Rommerskirchen in Hamburg das Amt für Hafen, Schifffahrt und | |
| Verkehr geleitet. Der Hafen war für den Handel mit der DDR zentral. Er ist | |
| damals oft nach Warnemünde, Rostock, Wismar gefahren, nach Leipzig zur | |
| Messe, nach Dresden, und Ostberlin. "Ich war DDR-Kenner", sagt er. | |
| Rommerskirchen ist wie Schröder vor allem eines: Beamter aus Überzeugung. | |
| Sein Vater war Bundestagsabgeordneter für die CDU. Ihn selbst beeindruckt | |
| Willy Brandts Ostpolitik vom "Wandel durch Annäherung" so sehr, dass er mit | |
| der Familientradition bricht und in die SPD eintritt. Er beschließt früh, | |
| kein Politiker zu werden. Er will die Dinge wirklich in die Hand nehmen. | |
| Dafür, glaubt er, muss er in die Verwaltung. Politiker reden, Beamten | |
| regeln. | |
| Er wird Kabinettsprotokollant in Hessen. Nach Sitzungen liegen seine | |
| Mitschriften am nächsten Morgen um neun Uhr auf den Schreibtischen - auch | |
| wenn er tippen muss, bis es hell wird. | |
| 31. Oktober 1989. Die Regierung von Westberlin beschließt "die Einsetzung | |
| einer Projektgruppe zur Vorbereitung auf einen verstärkten Besucher- und | |
| Reiseverkehr aus Ost-Berlin und aus der DDR". Rommerskirchen soll sie | |
| leiten. Für den Neuen eine Chance. Er lädt sofort zur ersten | |
| Arbeitssitzung, gleich am nächsten Tag. | |
| Die Gruppe tagt im Haus der Wirtschaftsverwaltung, direkt unterm Dach. Der | |
| Staatssekretär treibt zur Eile an. Er will Ergebnisse. Weihnachten ist zwar | |
| noch einige Wochen hin, aber wer weiß schon, was in der DDR passiert. | |
| Verwaltungen brauchen Zeit, bis die Vorlagen die Kürzel aller zuständigen | |
| Abteilungsleiter tragen. Er legt fest: Einstimmige Beschlüsse sind nicht | |
| nötig, es reichen Mehrheitsentscheidungen. Sie diskutieren, worauf es | |
| ankommt. | |
| Die Berliner Verkehrsbetriebe müssen sich vorbereiten, damit die U-Bahnen | |
| und S-Bahnen nicht überfüllt stecken bleiben. Die Ostler brauchen richtige | |
| Karten, in ihrem Stadtplan ist Westberlin nur ein weißer Fleck, sie müssen | |
| wissen, dass sie gratis mit der BVG fahren dürfen. Man muss sie warnen, | |
| dass sie sich fürs Begrüßungsgeld keinen Quatsch andrehen lassen. Es werden | |
| mehr Unterkünfte gebraucht. Auch die Westberliner müssen vorbereitet | |
| werden. Die Stadt ist voller Flüchtlinge. Es darf zwischen Westlern und | |
| Ostlern auf keinen Fall Ärger geben. Ein Papier des Presseamts sieht vor, | |
| in der Bevölkerung ein "positives Bewusstsein" zu wecken. Momper müsste | |
| einen Brief an alle Berliner schreiben. Die PR-Leute sollen eine | |
| Zeitungsanzeige formulieren und Begrüßungsplakate entwerfen. | |
| Die Schlüsselfrage ist aber: Wie viele Leute werden überhaupt kommen? | |
| Schröder hat vorgeschlagen, mit einem Kirchentag zu rechnen, "100.000 | |
| plus", sagt er seinen Staatssekretären. Er glaubt eher an 500.000, aber | |
| wenn er das sagt, halten die ihn für verrückt, fürchtet er. Der Senat | |
| beschließt, den Journalisten gegenüber von 100.000 Besuchern zu sprechen | |
| und sich tatsächlich auf 300.000 vorzubereiten. Rommerskirchen sagt: "Wir | |
| haben den Senat nicht zu korrigieren, aber lasst uns besser 500.000 | |
| nehmen." Im Grunde sind sich die beiden Beamten Schröder und Rommerskirchen | |
| einig. Wer mit dem Schlimmsten rechnet, ist auch im günstigsten Fall gut | |
| vorbereitet. Sie sind vorsichtig. | |
| Schröder lässt die Liste mit den zusätzlichen Grenzübergängen über Stolpe | |
| zu Schabowski schicken. In seinem Büro läuft in diesen Tagen immer leise | |
| das Radio. Es könnte jeden Moment etwas passieren. Der Senatskanzleichef | |
| verfasst einen Brief an den Kanzler, den Momper am 6. November | |
| unterzeichnet. Neue Übergänge müssten geöffnet werden, die BRD müsse | |
| Kontakt mit der DDR aufnehmen, man müsse Eisenbahnzüge bereitstellen und | |
| endlich dieses Begrüßungsgeld regeln. | |
| Im Bonner Kanzleramt von Helmut Kohl scheint der Brief in irgendeiner | |
| Posteingangsmappe stecken zu bleiben. Oder er wird geprüft. Intensiv. | |
| Niemand reagiert. | |
| Am 6. November veröffentlicht das Neue Deutschland auf zwei Seiten zum | |
| ersten Mal das geplante Reisegesetz. Es liest sich nicht wie Reisefreiheit. | |
| In dem Entwurf beschränkt eine Einschränkung die nächste. | |
| Die Massen gehen dagegen auf die Straße. Die SED-Spitze sieht ein: Der | |
| Entwurf muss überarbeitet werden, sonst bringt er keine Ruhe. | |
| Die Westberliner Zeitungen haben in der Zwischenzeit berichtet, was der | |
| Senat plant. "Alles überlegt: Wie erleichtern wir unseren Landsleuten den | |
| Aufenthalt bei uns", fragt die B.Z. "Als ob die Mauer nur noch Geschichte | |
| sei", titelt die taz. "Lasst bitte eure Trabis zu Hause", plärrt die | |
| Bild-Zeitung. Wie viele Leute passen ins KaDeWe? | |
| Außerhalb von Berlin nimmt kaum jemand Notiz. | |
| Am 8. November trifft sich die Rommerskirchen-Gruppe zum zweiten Mal. Als | |
| die Beamten festlegen wollen, wie viele Tonnen Papier für die | |
| Informationsbroschüren bestellt werden müssen, steht der Vertreter des | |
| Finanzsenators auf. Was der Wirtschaftsstaatssekretär da gerade anweise, | |
| sei vom aktuellen Landeshaushalt nicht gedeckt. Rommerskirchen schaut zum | |
| Protokollführer: "Das notieren Sie bitte sorgfältig und sie protokollieren | |
| bitte auch, dass wir beschließen, genau dies zu tun." | |
| Am Abend lässt der Chef 40 Bockwürste holen. Zur Stärkung. Sie tagen bis in | |
| die Nacht. Die BVG hat mitgeteilt, dass sie mit dem Smogalarmplan den | |
| ersten Ansturm abfangen könnte. Rommerskirchen hat den Eindruck, es geht | |
| voran. Er macht Tempo. | |
| "Es gab mal eine Zeit", sagt Schröder in der Hotellobby im September 2009, | |
| "in der die Berliner Verwaltung blitzschnell gearbeitet hat." | |
| Am 9. November steht in der Berliner Morgenpost, dass der Verkehrssenator | |
| überlegt, den Kudamm zu schließen, wenn die DDR-Bürger kommen. Um 12 Uhr | |
| trifft sich im Reichstag die Kommission "Arbeitsplätze für Berlin". Walter | |
| Momper leitet sie. Jörg Rommerskirchen hat einen Pilotenkoffer voller | |
| Arbeit mitgebracht und blättert sich am Rand durch einen Stapel Akten. Ein | |
| Saaldiener kommt und bittet ihn ans Telefon. Sein Bekannter Peter | |
| Brinkmann, ein Bild-Zeitungsredakteur, lässt ihm ausrichten: Die | |
| Krenz-Leute sprechen über Reisefreiheit, das wird heute noch ganz ernst. | |
| Rommerskirchen geht zu Momper und flüstert ihm von hinten ins Ohr: "Walter, | |
| da passieren heute noch ernsthafte Dinge." Der Regierende dreht sich um: | |
| "Verbürgst du dich für die Quelle?" Der Staatssekretär überlegt. "Ja", sagt | |
| er. Momper wendet sich zum Verkehrssenator, der neben ihm sitzt: Er solle | |
| die BVG informieren, dass sie sich zumindest auf einen | |
| Wochenendnachtverkehr vorbereitet. Keiner weiß genau, was jetzt folgen | |
| wird. Der Senatssprecher entwirft eine Zeitungsanzeige, die die Berliner | |
| ermuntern soll, sich auf die DDR-Besucher zu freuen. | |
| Während sie in Westberlin diskutieren, liest in Ostberlin Schabowski auf | |
| seiner Pressekonferenz die Regelung vor, die "sofort, unverzüglich" in | |
| Kraft trete. Ein Fotograf der Deutschen Presseagentur schießt das Bild, das | |
| später die Erinnerung prägt. | |
| Die Grenze ist offen | |
| Schröder ruft den Senat zu einer Sondersitzung um 22 Uhr zusammen. Es ist | |
| eine Ausnahmesituation, die strukturiert werden muss. Es gibt dafür | |
| Institutionen. | |
| Um 19.30 Uhr tritt Momper in der "Berliner Abendschau" auf. Er sagt, das | |
| sei ein Tag der Freude: "Alle DDR-Bürger können zu uns kommen und uns | |
| besuchen." An den Grenzübergängen bilden sich Trabischlangen. | |
| Gegen zwei Uhr nachts steht Dieter Schröder an der Invalidenstraße, sieht | |
| den Sekt fließen und beobachtet, wie ein britischer Militärpolizist, ein | |
| Berliner Beamter und ein DDR-Grenzer gemeinsam den Autoverkehr regeln. | |
| Berlin ist präpariert, vielleicht nicht sehr gut, aber mindestens | |
| ausreichend. Am nächsten Tag wird Schabowski Schröder die genehmigte Liste | |
| mit den neuen Grenzübergängen bringen lassen. Der Spitzenbeamte wird sie | |
| für Walter Momper kopieren und der wird sie dem Außenminister | |
| Hans-Dietrich-Genscher geben, damit er sie vor dem Schöneberger Rathaus | |
| verlesen kann. Die Menschenmenge wird jubeln. In der Nacht zum 11. November | |
| werden die Infoblätter gedruckt werden. Die U-Bahnen und S-Bahnen werden | |
| fahren, völlig überfüllt, aber ohne Unterbrechungen. Selbst die Sache mit | |
| dem Begrüßungsgeld wird funktionieren, ohne Bonner Hilfe. Sie haben das mit | |
| den Banken geregelt. | |
| Am ersten Wochenende werden zwei Millionen Menschen nach Berlin strömen. | |
| Viermal 500.000. Alles können Beamte auch nicht berechnen. | |
| Rommerskirchen lässt sich am Abend des 9. November von seinem Fahrer zur | |
| Bornholmer Straße bringen. Als der BMW im Verkehr stecken bleibt, läuft er | |
| zur Grenze. Rommerskirchen ist gerührt. Seine Frau stammt aus Thüringen. | |
| Das hier fühlt sich wie Wiedervereinigung an. Er fährt trotzdem bald nach | |
| Hause. | |
| Der 10. November ist der Tag, an dem Willy Brandt am Brandenburger Tor | |
| verkündet, dass jetzt zusammenwächst, was zusammengehört. | |
| Um sechs Uhr morgens sitzt Jörg Rommerskirchen im Büro. | |
| 5 Oct 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Johannes Gernert | |
| Johannes Gernert | |
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