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# taz.de -- Brief Nachtwei an Käßmann: "Danke, dass Sie Anstoß erregt haben"
> Wir dokumentieren den Brief von Winfried Nachtwei an die Ratsvorsitzende
> der EKD in Deutschland, Margot Käßmann, im Wortlaut.
Bild: Margot Käßmann bei ihrer Neujahrspredigt. Einige Aussagen aus dieser Pr…
Sehr geehrte Frau Bischöfin Käßmann,
vor Jahren begegneten wir uns persönlich bei einer deutsch-russischen
Zivildienst-Tagung in Moskau, zuletzt 2007 bei der Feier zum 50-jährigen
Bestehen der Zentralstelle KDV. Als jemand, der seit Ende 2001 als
Abgeordneter des Bundestages und Mitglied des Verteidigungsausschusses das
deutsche Afghanistan-Engagement und den Bundeswehreinsatz dabei
mitverantwortet und intensiv begleitet hat, drängt es mich, Ihnen zu Ihren
Afghanistan betreffenden Aussagen in der Neujahrspredigt in Dresden zu
schreiben.
Zuallererst möchte ich Ihnen für Ihre Predigt insgesamt von Herzen danken:
Sie sind ganz nah an der Lebenswirklichkeit, an den Menschen mit ihren
Widersprüchen; Sie weichen dem Erschreckenden nicht aus, nennen es beim
Namen und helfen zugleich, sich nicht im Erschrecken zu verlieren, machen
Mut und Hoffnung. Mir ist als jungem Mann vor Jahrzehnten der explizite
Glaube "abhandengekommen". Der vormals sehr gläubige, suchende junge Mann
hatte die unmittelbaren Vertreter seiner katholischen Kirche als
priesterliche Sprechautomaten erlebt, ohne Ohr, geschweige Antworten auf
das, was mich umtrieb - z. B. den Vietnamkrieg damals. Sie haben mich mit
Ihrer Predigt erreicht und sehr bewegt. Das müsste auch für viele andere
gelten, wenn Sie Ihre ganze Predigt zur Kenntnis nehmen würden.
Dass Sie in Ihrer Predigt auch das Erschrecken um Afghanistan zur Sprache
gebracht haben, war ausgesprochen notwendig. Offene Worte sind hier
Demokratenpflicht: angesichts der äußerst beunruhigenden Entwicklung der
letzten Jahre, des beschönigenden wie halbherzigen Umgangs verantwortlicher
Politik damit, der existenziellen Not vieler eingesetzter Soldaten und
ihrer Angehörigen, angesichts der Gespaltenheit unserer Gesellschaft.
Jahrelang wurde - zu Recht - über das "freundliche Desinteresse" der
bundesdeutschen Gesellschaft gegenüber den Auslandseinsätzen der Bundeswehr
geklagt. Viel besser ist also, es wird Klartext gesprochen und die
Auseinandersetzung geführt, als dass übliche Konsensblasen produziert
werden. Danke also, dass Sie Anstoß erregt haben.
Viele Reaktionen auf die Afghanistan-Passage Ihrer Predigt waren überzogen.
Für manche Ihrer Kritiker scheint es auch eine Gelegenheit zu sein,
abzulenken von eigenem politischen Versagen und eigener Ratlosigkeit,
abzulenken von der hochsteigenden Angst vor einem möglichen großen
Desaster. Es ist falsch und dumm, Sie in die Ecke der Linken zu stellen;
denn diese hat sich nach meiner Erfahrung nie für praktische
Friedensförderung in Afghanistan engagiert; sie vertritt mit ihrer
Forderung nach Sofortabzug eine Position von "Nach uns die Sintflut".
Ihren Grundansatz "Vorrang für zivil" teile ich nicht nur. Ich habe mich
auch immer um seine politisch-praktische Umsetzung bemüht. Zugleich will
ich nicht verhehlen, dass Ihre Worte zu Afghanistan teilweise meinen
Widerspruch hervorrufen. Bei aller Schwierigkeit, ein so komplexes und
strittiges Thema mit ca. zehn Sätzen anzusprechen: Mir ist es zu pauschal,
eine dichotomische Vereinfachung einer höchst widerspüchlichen
Konfliktwirklichkeit:
"All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass
Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch Zivilisten getötet
werden."
Im Kontext der andauernden Diskussion um den Luftangriff von Kunduz am 4.
September klingt das so, als sei mit diesem kriegerischen Akt eine bisher
verhüllte und beschönigte Realität des Afghanistaneinsatzes zutage
getreten. In Wirklichkeit wurden in Afghanistan über Jahre verschiedene
Strategien - politisch ungeklärt - nebeneinander praktiziert: die militante
Strategie des sprichwörtlichen "war on terror", wofür lange die Operation
Enduring Freedom stand; der UN-mandatierte Stabilisierungsansatz von Isaf
zur Sicherheitsunterstützung, bei der Ausübung von Gewalt bis 2006
(Bundeswehr bis 2009) ausgesprochen zurückhaltend geschah.
Aus weltanschaulicher KDV-Sicht sind Soldaten gleich Soldaten, alles
potenzielle Todesbringer. In der Wirklichkeit besteht aber ein
fundamentaler Unterschied zwischen Soldaten, die z. B. im Rahmen der
Wehrmacht, des Vietnam- oder Tschetschenienkriegs zum Einsatz kamen, und
solchen, die nach den Regeln der UN-Charta zum Schutz vor illegaler Gewalt,
zur internationalen Rechtsdurchsetzung, zur Gewalteindämmung und
Friedenssicherung eingesetzt werden. Wenn Bundeswehrsoldaten als
Staatsbürger in Uniform nicht in einen Topf geworfen werden wollen mit den
ausdrücklichen "Kriegern" mancher anderer Streitkräfte, von der
(Ur-)Großvätergeneration ganz zu schweigen, dann ist das vollauf
berechtigt.
Seit 2008/09 gibt es auch für die Bundeswehr in Afghanistan ein
Nebeneinander von gewaltarmem Stabilisierungseinsatz z. B. in der Provinz
Badakhshan und einer Guerillakriegssituation in Kunduz. So unbestreitbar in
einzelnen Distrikten und Provinzen eine (Klein-)Kriegssituation herrscht,
so falsch ist es, den Gesamteinsatz der Bundeswehr als Kriegseinsatz zu
bezeichnen. Das würde nicht nur dem Mandat widersprechen. Das hätte auch
enorme Auswirkungen auf die Operationsführung, die Einsatzregeln. Folge
wären eine Entgrenzung der Gewaltanwendung und eine Radikalisierung des
bewaffneten Konflikts.
"Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan."
Völlig richtig. Nur hat das seit 2001 auch niemand aus der deutschen
verantwortlichen Politik behauptet. Und Bundeswehroffiziere sind
diejenigen, die am deutlichsten die Vorstellung zurückweisen, mit Waffen
Frieden schaffen zu können. Die Frage ist nur, wie in einem Umfeld vieler
Gewaltakteure (mit reichlich Kämpfern, Waffenarsenalen und Konfliktstoff)
Schutz vor illegaler Gewalt gewährt und ob ohne Waffen Staatlichkeit und
Gewaltmonopol aufgebaut werden können. Auffällig ist übrigens, wie wenig
hierzulande die Erfahrungen von UN-Friedensmissionen eine Rolle spielen,
die in vielen Post-Konflikt-Ländern Minimalschutz gewährleisten. Kamen in
irgendeiner Weihnachts- und Neujahrspredigt die humanitären Großskandale
von Ostkongo und Darfur irgendwo zur Sprache?
"Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen,
Konflikte zu bewältigen."
Darauf dränge auch ich immer und immer wieder bei meinem Einsatz für zivile
Krisenprävention und Friedensförderung. Und unbestreitbar besteht ein
krasses Missverhältnis zwischen Aufwendungen für militärische
Sicherheitspolitik und denen für zivile Konfliktbearbeitung und
Peacebuilding. Allerdings können solche Worte auch schnell zu einer
appellativen Leerformel werden.
Denn nötig sind für Friedensförderung vor allem Kompetenz, Fachleute,
Fähigkeiten, Investitionen - und zuallererst Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit
für das, was es an hoffnungsvollen und wirksamen Bemühungen, neuen
Instrumenten und Akteuren der Friedensförderung gibt. An dieser
Aufmerksamkeit mangelt es extrem. Beispiel Afghanistan: Bei fast jedem
meiner inzwischen 14 Besuche dort erlebte ich bewundernswerte Projekte,
Initiativen, Menschen, auch partielle Fortschritte in einem sich
verdüsternden Umfeld. Deutsche EntwicklungshelferInnen wie Polizisten
beklagen immer wieder, dass ihre Arbeit hierzulande kaum bis gar nicht
wahrgenommen werde, völlig zugedeckt von der vorherrschenden
Militärfixiertheit auf allen (!) Seiten des politischen Spektrums.
Insofern widerspreche ich auch Ihrer Feststellung "Nichts ist gut in
Afghanistan": Als wären all die anderen Aufbau- und Friedensanstrengungen
in Afghanistan nicht der Rede wert. Unbestreitbar werden sie überschattet
und zunehmend infrage gestellt durch die Konfliktverschärfung seit 2006,
durch den in verschiedenen Landesteilen wuchernden Krieg. Aber diese
Aufbaubemühungen sind die einzigen Chancen, dort überhaupt auch den Frieden
gewinnen zu können. Wer diese Chancen nicht wahrnimmt und anpackt, hat
sowieso schon verloren! (Hier sehe ich übrigens ein großes Versagen breiter
Teile der deutschen Friedensbewegung, wo eine unterschiedslose Totalkritik
der Isaf-Militärs einhergeht mit einer notorischen Nichtbeachtung der
konkreten Friedenskräfte und -potenziale. Das produziert Erschrecken ohne
jede Hoffnung. Friedenspolitische Wirkungslosigkeit ist damit
vorprogrammiert.) Um Aufmerksamkeit für Entwicklungen und Ereignisse
jenseits des Bad-news-Mechanismus zu fördern, stelle ich seit Sommer 2007
"Better News statt Bad News aus Afghanistan" zusammen, parallel zu meinen
Bad-news-Veröffentlichungen zur Unsicherheitslage. Die jüngsten Ausgaben
füge ich Ihnen bei.
Ihre tiefe Beunruhigung über die Entwicklung in Afghanistan teile ich
ebenso wie Ihre Grundbotschaft für mehr Fantasie (Einsatz, Ressourcen) zur
Friedensförderung.
Mit meiner Wortmeldung wollte ich dazu beitragen, dass die dringend
notwendige breite Debatte um den Krieg in Afghanistan, um Wege der
wirklichen Kriegsbeendigung nicht in einem Schlagabtausch von Gesinnungen
und Bekenntnissen stecken bleibt, sondern mit mehr Sorgfalt geführt und
dadurch produktiver wird.
Bei nahezu allen Trauerfeiern für in Afghanistan umgekommene und gefallene
Bundeswehrsoldaten und Polizisten war ich dabei. Hier fühlte ich immer
wieder besonders deutlich, wie sehr die Politik in der Pflicht ist, den
eigenen Soldaten - und Polizisten, Diplomaten, Entwicklungshelfern - nur
solche Einsätze zuzumuten, die nicht nur legitim, sondern auch friedens-
und sicherheitspolitisch dringlich, sinnvoll, aussichtsreich und leistbar
sind.
Das erfordert höchste Sorgfalt im Hinsehen, Sprechen, Handeln - nicht nur
bei den entsandten Soldaten, sondern vor allem auch bei der Politik, aber
auch in der Gesellschaft. Die Politik war hier bisher kein Vorbild.
Unabhängig von unserer politischen Einschätzung des Afghanistaneinsatzes
haben die von Bundesregierung und Bundestag dorthin entsandten Soldaten,
Entwicklungshelfer, Polizisten, Diplomaten die Aufmerksamkeit, die
Anteilnahme und Unterstützung aller Bürgerinnen und Bürger verdient. Wir
dürfen sie nicht ignorieren und alleinlassen.
Mit besten Wünschen für ein friedlicheres 2010 grüßt Sie herzlich
gez. Winfried Nachtwei
Münster, im Januar 2010
14 Jan 2010
## AUTOREN
Winfried Nachtwei
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