# taz.de -- NS-Verbrecher Alois Brunner: Dem Phantom auf der Spur | |
> Günther Feld hat einen Job, der viele Fragen und wenige Antworten mit | |
> sich bringt. Der Oberstaatsanwalt sucht nach Alois Brunner, der für den | |
> Tod von hunderttausenden Juden verantwortlich ist. | |
Bild: Lebt er noch? Alois Brunner in Syrien. | |
Das Furchtbarste, was ihm Überlebende geschildert haben? Es ist die | |
Erzählung einer ungarischen Jüdin, die der Oberstaatsanwalt Günther Feld | |
nicht mehr aus seinem Kopf bekommt. Die Frau hatte im Konzentrationslager | |
Birkenau eine Affäre mit einem Wiener SS-Mann. Sie überlebte und wanderte | |
nach Israel aus. Als in den Siebzigerjahren gegen den Wärter ein Verfahren | |
eröffnet wurde, sagte sie vor Gericht gegen ihn aus. Günther Feld vernahm | |
ihn, und auf die Affäre angesprochen, holte er ein Bild seiner früheren | |
Geliebten hervor, auf dem sie Häftlingskleidung trug. Diese hatte er | |
liebevoll mit bunter Farbe übermalt - mit einem blumigen Kleid. Der Mann | |
wurde freigesprochen. "Solche Geschichten vergisst man nie", sagt Feld mit | |
rheinischem Singsang in der Stimme. "Davon träumt man. Und es sind keine | |
schönen Träume." | |
Wie auch? Es geht um Leichenberge und Menschenrauch. | |
Er hat einen dieser Jobs, die zahlreiche Fragen und wenige Antworten, viele | |
Akten und Windungen mit sich bringen. Der Oberstaatsanwalt sucht seit fünf | |
Jahren ein Phantom: Alois Brunner, einen Mann vom Rande der Gesellschaft, | |
der sich während der Nazizeit in seine Position als Mörder hineindiente. | |
Feld altert mit dem Phantom. Er spukt in seinem Leben herum. Alois Brunner | |
wandert durch seinen Berufsalltag wie ein Virus: verschwindet, taucht | |
wieder auf, geht scheinbar verloren. | |
Im kleinen Büro von Günther Feld hängen quietschbunte Gemälde, von seiner | |
Tochter gemalt. Sie zeigen Fantasiegebäude mit Zwiebeltürmen. Wer sich mit | |
solch epischen Verbrechen beschäftigt, so glaubt man, der hat seinen Humor | |
verloren. Aber Günther Feld witzelt sogar, während er über Gewaltaten | |
redet. Er ist ein heiterer Mensch, Feld ist in der Lage, selbst | |
furchtbarsten Themen ein wenig das Grauen zu nehmen. Mit seinem kurzen Haar | |
und dem Schnauzer wirkt er ein wenig wie ein gemütlicher Jurist aus | |
vergangenen Zeiten. Aber eines wird bei Treffen mit dem 64-Jährigen sofort | |
klar: Der Mann liebt seine Arbeit. Atmet kaum durch vor lauter Rederei. | |
Immer wieder klingelt das Telefon, er gibt zwischendurch ein | |
Fernsehinterview, spricht mit Kollegen. Er ist nicht nur Oberstaatsanwalt, | |
sondern auch Pressesprecher seiner Behörde und Leiter der NRW-Zentralstelle | |
zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Köln. Der Rheinländer hat sich eine | |
dieser Aufgaben vorgenommen, die monströse, menschliche Abgründe offenbart | |
- wer so etwas annimmt, der lebt dafür. | |
Aktenzeichen 130 Js 2/83, Strafsache Brunner, gesucht wegen Mordes: Sieben | |
Bände, in rosa Pappdeckeln eingebettet, liegen seit 25 Jahren so | |
unscheinbar in den Regalen der Kölner Staatsanwaltschaft. Auf den Zetteln | |
stehen unvorstellbare Schilderungen unglaublicher Taten eines unfassbaren | |
Mörders, verantwortlich für den Tod von hunderttausenden Menschen. | |
Seit 1984 ist die Staatsanwaltschaft in Köln für die Brunner angelasteten | |
Verbrechen in Frankreich zuständig. Der Vorwurf: Brunner war von 1943 bis | |
1944 in Paris als Leiter des Judenreferats zuständig für 19 Transporte mit | |
mehr als 22.000 Juden, von denen etwa 16.000 in Auschwitz vergast wurden. | |
In einem Gefängnis saß Brunner nie, er wurde nie gefasst. Und für den | |
Kölner Staatsanwalt gibt es sogar so etwas wie eine Strategie: nämlich | |
keine. Man kann nicht sagen, dass es einen Fortschritt gebe. Man kann | |
eigentlich sagen, es herrscht Stillstand. | |
Ob Feld noch die Hoffnung habe, dass Brunner eines Tages vor ein deutsches | |
Gericht kommt? "Ehrlich gesagt: zu 99 Prozent nein". Warum er dann | |
weitermacht? "Wegen des einen Prozents. Der Mann müsste auch bestraft | |
werden, wenn er 200 wäre." Einen wie ihn nennen die Boulevardmedien | |
"Nazijäger". "Ne, davon halte ich überhaupt nix, dass klingt kriegerisch. | |
Wir arbeiten hier mit Mitteln des Strafprozesses", so Feld. "Da passt der | |
Begriff Jäger nicht." | |
Es gibt Geschichten, die verlieren ihre Spannung, je öfter sie erzählt | |
werden. Diese wird immer unglaublicher. Der 1912 geborene Bauernsohn | |
Brunner trat mit 19 Jahren der österreichischen NSDAP und im Dezember 1932 | |
der SA bei. Er war keine intellektuelle Leuchte, erkannte aber schnell, das | |
seine Karriere an einer Institution - der Partei - hing. Damals lernte er | |
Adolf Eichmann kennen, der ihn 1939 zu sich in die "Zentralstelle für | |
jüdische Auswanderung" nach Wien holte. Innerhalb von drei Jahren ließ | |
Brunner 180.000 Menschen deportieren und ins Gas schicken. Später führte er | |
verschiedene Gestapo-Sonderkommandos zur Deportation von Juden in ganz | |
Europa an. Da die Zahl der Menschen in den Transporten immer kleiner wurde, | |
schickte Brunner auch immer mehr "Zweifelsfälle" ins Gas - damit die | |
Statistik gut ausschaut. Als seine Vernichtungsmaschinerie zusammenbrach, | |
tauchte er in den Nachkriegswirren unter und flüchtete nach Ägypten, später | |
nach Syrien. Dort machte er Karriere als Händler und Makler. Später als | |
Sicherheitsberater der Regierung in Damaskus. | |
Günter Feld, geboren 1945 in Gummersbach, Sohn eines Verwaltungsbeamten und | |
einer Hausfrau, hat den Hitlerstaat nicht miterlebt. Er selbst ist Zeuge | |
einer Epoche, in der die Bundesrepublik daran scheiterte, die Nazizeit | |
juristisch aufzuarbeiten. Das Thema habe ihn gefunden, blickt Feld zurück | |
und klingt dabei nicht wie ein Eiferer, eher wie einer, der sich vor langer | |
Zeit entschieden hat, auf welcher Seite er stehen will. | |
Als Kind wollte er Fußballer werden, dann, mit 16 Jahren, sah er in der | |
Schule einen Dokumentarfilm über Konzentrationslager. Die Bilder von | |
Leichenbergen, die mit Bulldozern zusammengeschoben wurden, haben ihn | |
geprägt. Während seines Studiums bekam er mit, wie ehemalige Nazis wieder | |
in der Politik mitmischten, Rassenfanatiker leitende Positionen besetzten. | |
Im Sommer 1979 hat er sich dann als Staatsanwalt für die Abteilung | |
NS-Verbrechen gemeldet. | |
Fragt man den zweifachen Vater nach der Motivation für seine Arbeit, | |
antwortet er: "Bis heute kann ich nicht fassen, was die Nazis gemacht | |
haben." So arbeitet er gegen die deutsche Schlussstrichmentalität. Wirkte | |
unter anderem bei den Prozessen um die Lager in Riga, Auschwitz und | |
Natzweiler mit. | |
Es ist ein Wechselspiel zwischen Hoffnung und Ernüchterung - wobei Letztere | |
überwiegt. Natürlich sei seine Arbeit auch frustrierend, sagt Feld in | |
seinem fröhlichen rheinischem Dialekt und schiebt seufzend hinterher: "Aus | |
diesem Grund haben ihm die Israelis wohl auch mal Post zukommen lassen." Da | |
huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Bei zwei möglicherweise vom Mossad | |
verübten Briefbombenanschlägen verlor Alois Brunner 1961 ein Auge und 1980 | |
vier Finger der linken Hand. | |
Lange Zeit interessierte sich in Deutschland niemand für Brunner. 1985 | |
spürten ihn Reporter der Bunten auf, denen er auch ein Interview gab. Einem | |
anderen Journalisten sagte Brunner am Telefon, dass er nichts bereue und | |
wieder genauso handeln würde. "Grüßen Sie mir mein schönes Wien, das ich | |
für Sie judenrein gemacht habe," verabschiedete er sich 1986 von einem | |
österreichischem Journalisten. | |
Wie ist es möglich ist, dass ein Verbrecher vom Kaliber Brunners im Nahen | |
Osten aufgespürt wird, Interviews gibt und sich unbehelligt seines Lebens | |
erfreuen kann, ohne dass die deutschen Behörden sich ernsthaft um seine | |
Auslieferung bemühen? Dass die syrische Regierung seine Existenz | |
dementiert, obwohl er dort immer wieder gesichtet wurde? "Es ist eine | |
brisante Mischung aus Schlamperei, Vertuschung, Desinteresse und | |
Fahrlässigkeit, die Brunner vor jeder Verfolgung schützt, und es ist ein | |
infames Spiel auf Zeit, in der Hoffnung, dass der Massenmörder endlich das | |
Zeitliche segnen möchte," schreiben die Journalisten Georg Hafner und | |
Esther Schapira in ihrem Buch "Die Akte Alois Brunner". Ihr Fazit: "Außer | |
den Opfern scheint es niemand wirklich eilig zu haben." Seit 1982 bemühte | |
sich das Ehepaar Serge und Beate Klarsfeld um die Auffindung Brunners. | |
Serges Vater wurde während der Nazizeit von Brunners Sonderkommando | |
verschleppt und später vergast. Die beiden reisten mehrfach nach Syrien, | |
versuchten Politiker zu mobilisieren, unterstützten den israelischen | |
Geheimdienst und bewegten das Europaparlament zu Sanktionen gegen Syrien. | |
Genützt hat es am Ende alles nichts. Beate Klarsfeld glaubt - wie Feld - | |
nicht mehr wirklich daran, dass er noch lebt. | |
Herr Feld, haben die deutschen Behörden genug getan, um Brunner vor Gericht | |
zu bekommen? "Mehr als die Syrer bitten, ihn uns zu schicken, können wir | |
nicht", antwortet er. Immer wieder schrecken Nachrichten die | |
Staatsanwaltschaft auf, er sei gesichtet worden. Meldungen gab es viele, | |
Brauchbares kaum. Es gab Hinweise, die parallel eingingen. Eine Person | |
meldete, Brunner würde in Südamerika leben, die andere wollte ihn in | |
Skandinavien entdeckt haben. Für Brunners Ergreifung ist eine Belohnung | |
von250.000 Euro ausgesetzt. | |
Herr Feld, was Neues vom Phantom Brunner? "Nein", antwortet er. Der | |
Oberstaatsanwalt hat keine neuen Hinweise, keine neuen Spuren, keine | |
Leiche. Er hat keine Antwort, nur ein Ziel - und das ist stärker als das | |
Nichtweiterwissen. In jedem Polizeicomputer Europas ist Brunners Name | |
gespeichert. Sollte er irgendwo im EU-Raum auftauchen, würde er wegen eines | |
Haftbefehls sofort festgenommen werden. Dann müsste er am Ende seines | |
Lebens doch noch vor einen Richter. | |
Wenn er überhaupt noch lebt. | |
14 Jan 2010 | |
## AUTOREN | |
Cigdem Akyol | |
Cigdem Akyol | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Schwerpunkt Syrien | |
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