# taz.de -- Pater Mertes über Missbrauch: "Die Opfer stehen im Mittelpunkt" | |
> Der Rektor des Berliner Jesuiten-Kollegs spricht über vertuschten | |
> Missbrauch, Homophobie und bekennende Schwule im Orden. Und hofft darauf, | |
> dass das System des Schweigens endlich beendet wird. | |
Bild: "Sind Homosexuelle eine gute Schöpfung Gottes?" | |
taz: Pater Mertes, wie sollte an Ihrer Schule über Sexualität gesprochen | |
werden? | |
Klaus Mertes: Offen und nicht-ideologisch. | |
Die Realität ist eine andere. Kondome und vorehelicher Geschlechtsverkehr | |
sind als Unterrichtsthemen tabu. | |
Der voreheliche Geschlechtsverkehr ist nach der katholischen Lehre eine | |
schwere Sünde. Das stimmt aber mit der Lebenspraxis vieler Jugendlicher | |
überhaupt nicht mehr überein. Selbst wenn es sich um eine auf Ehe hin | |
ausgerichtete Beziehung handelt, gibt es moraltheologisch keine Möglichkeit | |
zu unterscheiden. Das macht es einem Pater, der ansonsten ein loyales und | |
liebevolles Verhältnis zu seiner Kirche hat, so schwer, solche Themen im | |
Unterricht anzusprechen. Die meiste Sexualpädagogik findet deshalb in der | |
Kirche nicht-öffentlich statt. | |
Auch über Homosexualität wird nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. | |
Von der biblischen Grundlage her hat die katholische Lehre eine polare | |
heterosexuelle Anthropologie. In der ist Homosexualität als | |
Schöpfungstatsache nicht vorgesehen. Die Grundentscheidung, die die | |
katholische Kirche treffen muss: Ist sie in der Lage, sich vorzustellen, | |
dass Gott auch homosexuelle Menschen erschafft und sie mit ihrer | |
Homosexualität zur guten Schöpfung gehören? Dass sie ihre körperliche | |
Liebesgabe als Gabe Gottes entgegen nehmen und leben dürfen? | |
Wie sehen Sie das? | |
Ich möchte mich dazu zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht weiter öffentlich | |
äußern. Andere Fragen sind für mich noch drängender. | |
Mit Ihrer Aufdeckung der sexuellen Missbrauchsfälle am Berliner | |
Canisius-Kolleg haben Sie deutschlandweit eine Lawine losgetreten. Fühlen | |
Sie sich als Aufklärer? | |
Nein, überhaupt nicht. Ich handele für mein Gewissen. Ich sehe mich als | |
normalen Katholiken, der auf ein schweres Leiden reagieren musste. | |
Vielleicht hängt es auch mit meiner Geschichte zusammen. Ich musste einmal | |
einen Vertrauensmissbrauch erfahren und habe bei anderen miterlebt, wie es | |
ist, wenn man als schwarzes Schaf von der Familie verstoßen wird und als | |
Opfer allein und schutzlos in der Welt steht. | |
Warum haben Sie mit Ihrem Vorstoß dann so lange gewartet, Missbräuche in | |
Ihrem Orden zu thematisieren? | |
Erst sieht man den Heiligenschein, dann riecht was komisch. Man erfährt von | |
den ersten Gerüchten und fragt nach. Plötzlich verstummen einige, andere | |
werden aggressiv. Und man selbst wird gemieden: Der ist anstrengend, gibt | |
keine Ruhe, wird einem nachgesagt. Mir hat das keine Ruhe gelassen. | |
Missbrauch ist entsetzlich. Aber über die Täter bin ich persönlich nicht | |
zornig - ich kenne sie ja nicht persönlich. Was mich zornig macht, ist das | |
jahrzehnte lange Schweigen und Vertuschen des Systems, dem ich angehöre und | |
zu dem ich mich weiterhin bekenne. Für mich war auch das Leiden der | |
homosexuellen Mitbrüder in der Kirche eine ganz wichtige Erkenntnis. | |
Inwiefern? | |
Ich komme eigentlich von einer homophob geprägten Kultur und kannte alle | |
homophoben Gefühle als meine eigenen. Bis zu einem Punkt, wo ich dieses | |
Ausgrenzungsmoment ganz direkt gespürt habe und nicht mehr wollte. | |
Was haben Sie unternommen? | |
Ich lebte mit einem homosexuellen Mitbruder in einer Kommunität zusammen. | |
Es war die Zeit als die Kindesmissbräuche von katholischen Priestern in den | |
USA bekannt wurden. Er musste auf einer kirchlichen Versammlung immer | |
wieder den Satz hören: Werft die Schwulen aus dem Klerus raus, dann gibt es | |
auch keinen Missbrauch mehr. Mein Mitbruder ist aufgestanden und hat | |
öffentlich gesagt: Ich verbitte mir das. Ich bin schwul. Und ich | |
missbrauche niemanden. | |
Und dann? | |
Ich war damals der zuständige Obere. Auf mich wurde viel Druck ausgeübt. | |
Aber ich antwortete: Ich bin stolz auf meinen Mitbruder. Er muss das Recht | |
haben, sich gegen Diskriminierung zu wehren, in dem er sich als | |
Diskriminierter zu erkennen gibt. Ich wurde daraufhin von einer Gruppe | |
kritischer Theologen aufgefordert, eine Petition für Offenheit gegenüber | |
Homosexuellen in der Kirche zu unterschreiben. | |
Haben Sie unterschrieben? | |
Ich habe abgelehnt. Zunächst einmal muss es möglich sein, dass Homosexuelle | |
und andere Ausgegrenzte in der Kirche, die die ins Schweigen weggedrückt | |
sind, selbst sprechen. Nur dann ändert sich wirklich was. | |
Gilt das auch für die Pädophilen in der Kirche? | |
Auch dieses Problem könnte ganz anders angegangen werden, wenn die sich | |
artikulieren könnten. In Bezug auf die Missbrauchsfälle lehne ich es aber | |
ab, Aussagen über sexuelle Identitäten der Täter zu machen. Für mich ist | |
das Thema nicht die Pädophilie. Mir geht es darum, die Gewalt und den | |
Machtmissbrauch der Täter zu benennen, nachdem ich es von den Opfern gehört | |
habe. Die Opfer stehen im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit, nicht die | |
Täter. | |
Jeden Tag kommen neue Missbrauchsfälle ans Licht. Was bleibt, wenn der | |
Sturm vorbei ist? | |
Bei uns ist es noch lange nicht vorbei. Gerade hat sich ein Mitbruder | |
seiner Missbrauchsvergangenheit gestellt. Ich kenne ihn gut. Ich habe 30 | |
Jahre mit ihm in einem Orden gewohnt. Er ist mein Bruder. Ich stehe zu ihm. | |
Ich werde nicht mit dem Finger auf ihn zeigen. Der Orden ist meine Familie. | |
Aber ich muss meine Beziehung zu ihm neu klären. | |
Wie könnte das aussehen? | |
Ich weiß es nicht. Dazu bin ich viel zu aufgewühlt. Gestern abend haben wir | |
Ordensbrüder zusammengesssen. Einige haben geweint. In den letzten Tagen | |
ist so viel geschehen. Das gesamte System der Beziehungen ist völlig | |
verändert. Wir wissen noch gar nicht, wie. Wir sehen einander in die Augen | |
und fragen uns: Wer hat was gewusst? | |
Wie geht es jetzt weiter? | |
Ich habe keine Strategie. Hätte ich eine, würde ich viel weniger erreichen. | |
Als Jesuit lebe ich in der Planlosigkeit und lege alles in Gottes Hände. Es | |
wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. | |
Wollen Sie fatalistisch abwarten? | |
Nein, Fatalismus ist das Gegenteil von Glauben. | |
Welche Hoffnung haben Sie? | |
In der katholischen Kirche ist eine große Krise sichtbar geworden. Meine | |
Hoffnung ist, dass das derzeitige System erneuert wird. Voraussetzung dafür | |
ist: Wir müssen darüber sprechen, was uns Angst macht. Denn die Angst | |
hindert uns zu hören, was uns die Opfer sagen. | |
Haben Sie mal überlegt alles hinzuschmeißen? | |
Das ist mir völlig undenkbar. Ich bin katholisch bis auf die Knochen. Das | |
Evangelium ist mein geistiges Brot. Das werde ich mir von niemandem | |
ausreden lassen. | |
Sie haben das Gelübde abgelegt keusch zu sein. Bereitet Ihnen das keine | |
Probleme? | |
Selbstverständlich. Ich kenne keinen Menschen, dem Enthaltsamkeit nicht zu | |
schaffen macht. Aber um es klar zu sagen: Ich habe Enthaltsamkeit gelobt | |
und ich verstehe es auch so. Einem Doppelleben könnte ich innerlich niemals | |
zustimmen. Keuschheit bedeutet für mich nicht, dass ich die Zähne | |
zusammenkneifen muss, weil ich keinen Sex haben darf. Es geht um die | |
Bereitschaft, sich ganz und gar von etwas abzuwenden und sich ganz und gar | |
in den Dienst von etwas anderem zu stellen. | |
Sind Sie auch sonst ein Asket? | |
Überhaupt nicht. Ich musiziere im Orchester, ich bin ein großer Fußballer | |
gewesen. Ich liebe das Zusammensein mit Menschen und das Feiern. Auch bei | |
Jesus wurden dauernd Feste gefeiert, gegessen und getrunken. | |
Wie leben Sie? | |
Ich lebe zusammen mit zehn Glaubensbrüdern in einem Haus neben dem | |
Canisius-Kolleg. Zu unserem Kloster gehört eine Kapelle. Jeder hat sein | |
eigenes Zimmer, wir kochen und essen zusammen. Im Grunde genommen ist das | |
eine Art WG. | |
Gibt es Konflikte? | |
Natürlich. Wir haben verschiedene Herkünfte, unterschiedliche Stallgerüche. | |
Wir haben verschiedene politische Ansichten und streiten natürlich auch mal | |
darüber, wer den Abwasch macht. | |
Diskutieren Sie auch über Sexualität? | |
Selbstverständlich. In unserer Kommunität auf jeden Fall. | |
Wird die aktuelle Debatte über sexuellen Missbrauch die katholische Kirche | |
verändern? | |
Das weiß ich nicht. Ich bleibe in der Gegenwart. Ich lehne es ab, mir alle | |
möglichen Szenarien zurechtzulegen. Religiös bedeutet das: Ich warte auf | |
das, was Gott mir zeigen will als Perspektive für die Kirche. | |
7 Feb 2010 | |
## AUTOREN | |
Felix Lee | |
Plutonia Plarre | |
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