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# taz.de -- Tourstart Tocotronic: Spuren eines Kampfes
> Tocotronic bringen echte Bringer auf ihrem Tourstart in Bremen. Dirk von
> Lowtzow singt im zerrissenen Hemd. Neben aktuellen Werken spielen
> Tocotronic auch viele ältere Songs.
Bild: Die "Lanze für den Widerstand".
Dies Konzert im Bremer Schlachthof ist erst der Start der Tournee, und Dirk
von Lowtzows weißes Hemd ist schon zerrissen. Man spekuliert, was passiert
sein könnte. Eine modische Volte ist es nicht, dafür ist das Hamburger
Quartett nach dem Ablegen von Trainingsjacken-Slackerlook und politischer
Sloganhaftigkeit sowie der Hinwendung zu neoromantischen Zwischen(t)räumen
viel zu seriös geworden.
Also doch Spuren des Kampfes und der Fehde? Von elementaren menschlichen
Auseinandersetzungen jedenfalls handeln die ersten Songs in der fast
ausverkauften Kesselhalle, in der gleichfalls unter den Besuchern kaum noch
Trainingsjacken gesichtet wurden. Erdrückende Liebe, Terror, Folter sind
die Themen, allesamt verhandelt auf dem neuen Album "Schall und Wahn". Ein
programmatisches Album, benannt nach einem Roman von William Faulkner, auf
dem es auch über das Musikmachen geht und das den Abschluss der so
genannten Berliner Trilogie bildet mit den Vorgängeralben "Pure Vernunft
darf niemals siegen" und "Kapitulation".
Das zerrissene Hemd verleiht Dirk von Lowtzow etwas Raubeiniges, wozu seine
dunkle Grabesstimme passt, mit der er "Eure Liebe tötet mich" ins Publikum
raunt. Ein stimmlich krasser Gegensatz übrigens zum Supportact Dillon. Die
von wahlweise Schlagzeug und Gitarre unterstützten Piano-Balladen zwischen
Gothic und Coco-Rosie-Niedlichkeit wurden von der blutjungen Berliner
Songschreiberin aber tapfer vorgetragen.
"Eure Liebe tötet mich" als eher verhaltener Progrock-Song war eine gewagte
Wahl zur Eröffnung eines Tocotronic-Konzertes, wo viele immer noch die
Punkenergie der alten Tage erwarten. Es funktionierte aber. Der Song ist
einer der besseren des insgesamt durchwachsenen neuen Albums. Über acht
Minuten winden sich flirrende Gitarrenschichten und Feedback-Schleifen
mahlstromartig dahin. Der zweite Gitarrist Rick McPhail, seit 2004
Tocotronic-Mitglied, haucht einen Backgroundchorus dazu. Spätestens mit den
Alben der Berliner Trilogie gehen Tocotronic den Weg einer neuen, oft
seltsam dräuenden Innerlichkeit mit fast mittelalterlich anmutender Lyrik.
Dirk von Lowtzows tiefe Verbeugungen nach einigen Songs wirken wie höfische
Eleganz.
Das flottere "Die Folter endet nie", der dritte Song des Abends, beschwört
die "Lanze für den Widerstand", aber auch den schwindenden Schmerz trotz
innerlicher Beschädigung. Es geht um die Band selbst, ihr Bestehen seit
nunmehr 17 Jahren. Auch "Verschwör dich gegen dich" vom besseren letzten
Album "Kapitulation" ist "ein Lied über den heiligsten aller Kriege", sagt
von Lowtzow, "den Krieg gegen dich selbst". Die lustvolle Selbstaufgabe,
das freudvolle Hineinwerfen in die Krise wurde hier als schroffer Postpunk
verhandelt. Zwischendurch streut die Band dankenswerterweise alte Songs in
ihr Set, wie "Die Grenzen des guten Geschmacks 2", das so schön nach der
Vertracktheit der US-Band Pavement klingt und auch textlich fließender,
weniger subjektbezogen daherkam.
Ein Wachmacher fürs Publikum, das sich bis dahin mit stillem Mitwippen
begnügte, war "Aber hier leben, Nein danke", das zwar auch das Selbstexil,
Sehnsucht und Zweifel thematisiert, als politischer Slogan der Abgrenzung
aber wunderbar funktioniert. Auch das krachige "Jenseits des Kanals" kurz
darauf hält den Druck in der Kesselhalle aufrecht. Tocotronic-Schlagzeuger
Arne Zank hat auf früheren Platten einigen Songs mit seinem knarzigen
Anti-Gesang einen ganz eigenen Charakter gegeben. Begeisterung im Saal, als
er seit langem mal wieder zum Mikro greift und Rick McPhail sich für ihn
ans Schlagzeug setzt. Das schunkelige "Ich werde nie mehr allein sein"
direkt übergeleitet in "Bitte gebt mir meinen Verstand zurück" sind echte
Bringer.
Wiedererkennen, Erinnern an alte Hits - Pop kann so einfach sein, egal wie
diskursiv er verhandelt wird. Die Balance stimmt bei diesem Konzert, nach
etwas mauem Beginn wird die Schraube mit älterem Songmaterial angezogen.
Rückkehr dann in das Jetzt mit der aktuellen Single "Mach es nicht selbst",
nach eigener Auskunft ein Song gegen die ständige Selbstmobilisierung im
zeitgenössischen Kapitalismus. Also doch noch Politik, nur eben durch
Rückzug. Sein Hemd wird Dirk von Lowtzow aber sicherlich selber flicken.
6 Mar 2010
## AUTOREN
York Schaefer
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