Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neues Tocotronic-Album: Wo die Liebe ist, ist das Dementi
> Nur alt bekannte Gesten oder Musik mit Liebe zum bloßen Klang? Ein Pro &
> Contra über das neue Tocotronic-Album "Schall und Wahn".
Bild: "Ich bin der Graf von Monte Schizo": Tocotronic.
PRO:
Das Leben, heißt es in Shakespeares "Macbeth", ist "eines Toren Fabel nur,
voll Schall und Wahn, jedweden Sinnes bar".
Wenn dieser Satz für etwas so Unwahrscheinliches und Widersprüchliches wie
das Leben gelten soll, dann gilt er erst recht für den Musiker, der im
Rahmen seiner Kunst ernsthaft von diesem Leben erzählen will. Er kann im
Kern nichts anderes bieten als organisierten Schall.
Der ganze Rest, diese manchmal tonnenschwere Fracht aus Bedeutung, ist im
Grunde nichts als "Einbildung, Fantasie, Illusion, irrige Annahme,
Luftschloss, Phantom, Täuschung, Trugbild, Utopie, Vision" - eben "Wahn",
wie ihn das Nachschlagewerk Duden definiert. Und wie er von
feuilletonistischen Tocotronic-Exegeten traditionell bis zum Erbrechen
ventiliert wird. Einen schlichteren und wahrhaftigeren Titel hätten
Tocotronic ihrem neunten Album also gar nicht geben können, zumal "Schall
und Wahn" als eine Art konzeptloses Konzeptalbum über Musik gehört werden
will.
Diese Liebe zum bloßen Klang in all seinen mächtigen Aufschichtungen und
feinen Verästelungen ist hier in jedem Moment erlebbar. So etwa im puren
Folksong "Im Zweifel für den Zweifel", wo die nur zur akustischen Gitarre
solide vorgetragene Harmonie von atonalen, fast transparenten
Streicherschlieren umspielt wird. Oder im stürmischen "Keine Meisterwerke
mehr", wenn nach genau zwei Minuten und acht Sekunden der bis dahin brav
pulsierende Bass so unvermittelt die Tonart wechselt, dass es den Anschein
hat, als würde er jetzt erst richtig einsetzen - und damit den Song vom
Trab in den Galopp überführen. Oder wenn Dirk von Lowtzow für einen Moment
aus seiner Rolle als Zeremonienmeister tritt, um wie ein Conférencier im
Varieté (oder wie Mike Oldfield auf "Tubular Bells") ein E-Gitarrensolo mit
gravitätischem Gestus anzukündigen: "Guitar!".
Hier zeigt der vielfach unterschätzte tocotronische Humor seine subtile
Seite. Deutlicher wird das bei Textstellen wie: "Ich bin der Graf von Monte
Schizo / Und ich singe diesen Hit so" oder "Bitte oszillieren Sie /
Zwischen den Polen Bumms und Bi", wenn der heilige Ernst der Analyse
überfordert in klassischen Dadaismus kippt.
Wenn es ein typisches Tocotronic-Stilmittel gibt, dann ist es dieser Hang
zur Brechung. Immer wenn ein Riff klischiert erscheint oder ein oft
gehörtes Stereotyp anklingt, dann ist die Falltür, der Widerhaken, das
Dementi nicht weit.
Das kleine Wunder von "Schall und Wahn" besteht darin, dass diese Musik
unter ihrer Komplexität nicht ächzt und bricht, dass diese lukullische
Liebe zur Opulenz an keiner Stelle aufgesetzt wirkt, sondern mit
vielschichtiger Homogenität und doch wie aus einem Guss und aufreizend
unterkomplex einfach: rockt.
ARNO FRANK
CONTRA:
Es dauert sechs Songs, bis das Tempo variiert. "Bitte oszillieren Sie" ist
der erste Ausreißer auf dem neuen Tocotronic-Album "Schall und Wahn".
Er ist in Up tempo gehalten, und seine E-Gitarren klingen verzerrerlos. So
wirkt es fast mechanisch,wenn die Saiten angeschlagen werden, als würde ein
Schiffsdeck zur Strafe geschrubbt. Kontextualisierung findet statt: In der
Hookline wird der belgische Krawallbruder Plastic Bertrand anzitiert.
Schließlich die Sprecherposition Dirk von Lowtzows: Das distanzierte Sie
formuliert eine Zickzackmarschroute durch Institutionen und
gesellschaftliche Normen, weiter entfernt von Rock n Roll denn je und doch
fordernd und affirmativ. "Bitte oszillieren Sie / Pingpong ohne Hierarchie
/ Ich bitte Sie! Genießen Sie!" Bis dahin ist die Musik auf dem neunten
Tocotronic-Album ein stehendes Gewässer aus Gitarrenmatsch in mittlerer
Geschwindigkeit. Mithin der Sound, den man von Tocotronic bereits kennt.
Die seit Anfang der 90er aktive Hamburger Band würde das auch gar nicht
bestreiten. Seither machen Tocotronic eine eigene Version von Punk und
Grunge, singen dazu deutsche Texte. Fremdanleihen und eigene Anteile
übersetzten sie in popkompatible Images. Ihre Verdienste zwischen
Sloganeering, Trainingsjackenlook und Antisemitismusbekämpfung stehen hier
auch gar nicht zur Debatte.
Im Interview mit dieser Zeitung machte Sänger Dirk von Lowtzow für seine
Band eine Position gegen Authentizität und Originalität geltend. Nun weiß
inzwischen auch der letzte Vollhorst, dass Echtheit im Pop eine No-go-Area
ist. Wer mehr schwitzt, hat noch lange nicht recht. Aber darf man
vielleicht auch von Antiauthentikern wie Tocotronic etwas mehr erwarten als
bloße Wiederholung hundertmal durchexerzierter Gesten und Riffs? Wenn keine
Verfeinerung erwünscht ist, müsste wenigstens Vergröberung für Abwechslung
sorgen: Die Raveonettes, um nur ein Beispiel zu nennen, haben in der
Monotonie Anmut entwickelt, eine Art maschinenartigen Lärm, wie ihn der
Maler Albert Oehlen in seinem Bildtitel "Geht zu dem Berg, wo die
Motorradfahrer üben" einst angedeutet hat.
Zwölf Songs sind auf "Schall und Wahn" enthalten, ganze drei haben die
Bereitschaft zur musikalischen Übertreibung. Neben "Bitte oszillieren Sie"
ist das "Im Zweifel für den Zweifel", der sein Folkpathos abschüttelt wie
ein Mod die Staubfusseln von seinem Parka. Und schließlich der cholerische
Rausschmeißer "Stürmt das Schloss". Ob es Zufall ist, dass die ständig
gebrüllte Arschtrittparole "Stürmt das Schloss" nonchalant "SDS" abgekürzt
wird? An anderer Stelle postulieren Tocotronic: "Keine Meisterwerke mehr".
Eine Alternative kann aber nicht die sein, es sich stattdessen im Mittelmaß
bequem zu machen. JULIAN WEBER
22 Jan 2010
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neues Album von Phantom/Ghost: Alles Parodie
„Pardon my English“ von Phantom/Ghost ist ein ironischer Abgesang an die
Volkskrankheiten der Leistungsgesellschaft – und Kritik wie immer das
Stichwort für Dirk von Lowtzow.
Tourstart Tocotronic: Spuren eines Kampfes
Tocotronic bringen echte Bringer auf ihrem Tourstart in Bremen. Dirk von
Lowtzow singt im zerrissenen Hemd. Neben aktuellen Werken spielen
Tocotronic auch viele ältere Songs.
Tocotronic über ihre neue Platte: "Wir sind früh vergreist"
Kommende Woche erscheint das neue Album von Tocotronic. Im
sonntaz-Interview sprechen Dirk von Lowtzow und Arne Zank über Linkssein,
Kommerzialisierung und Dilletantismus.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.