# taz.de -- Jean Ziegler über die Globalisierung: "Es gibt immer Hoffnung" | |
> Der umstrittene Schweizer Soziologe und Autor kämpft unverdrossen gegen | |
> das kapitalistische Weltsystem. Vom Norden fordert er eine Entschuldigung | |
> für 500 Jahre kolonialistischer Grausamkeiten. | |
Bild: Jean Ziegler: "Die kannibalische Ordnung der Konzerne ist schlimmer denn … | |
taz: Herr Ziegler, Sie sagen, Sie hätten Ihr letztes Buch "Der Hass auf den | |
Westen" aus schlechtem Gewissen geschrieben. Wem gegenüber fühlen Sie sich | |
in der Schuld? | |
Jean Ziegler: Gegenüber den Opfern des globalisierten Finanzkapitals. Ich | |
gebe Ihnen ein Beispiel aus Guatemala. Dort besitzen die reichen | |
Großgrundbesitzer und die westlichen Fruchtkonzerne wie Del Monte das Land | |
in den fruchtbaren Ebenen. Die Nachkommen der vertriebenen Maya dagegen - | |
80 Prozent der Bevölkerung - bearbeiten karge Maisäcker in 2.500 Meter | |
Höhe. Die Bauern sind halb verhungert. Die Frauen auf den Feldern sehen mit | |
30 aus wie 80. Und dann komme ich als Sonderbotschafter der Vereinten | |
Nationen mit Dolmetschern, Mitarbeitern, Sicherheitsleuten in weißen | |
Toyota-Jeeps, vorne die weißblauen UNO-Wimpel. Wir bleiben vier Tage, | |
sprechen mit den Menschen, nehmen das Elend zu Protokoll. Und plötzlich | |
sehe ich Hoffnung in den Augen. Sie haben keine Ahnung, was die UNO ist, | |
aber sie merken: Es kümmert sich jemand. In diesem Augenblick habe ich sie | |
schon verraten. | |
Aber wieso? Sie handeln im Auftrag der Vereinten Nationen, Sie haben | |
Einfluss. | |
Trotzdem kann ich die Hoffnungen dieser Menschen nicht erfüllen. Ich | |
schreibe Berichte, das wars. Dennoch erwecke ich bei meinen Besuchen den | |
gegenteiligen Eindruck. Deshalb bin ich ein Verräter. Die gerechte | |
Verteilung des Landes, Schulbildung für alle Kinder, das wird alles nicht | |
kommen, weil die multinationalen Unternehmen es blockieren. Die haben die | |
wichtigsten UNO-Staaten in der Hand. Die haben auch die Regierung von | |
Guatemala in der Hand. Eine Landreform dort wird es nicht geben. | |
Sie entwerfen ein monolithisches Weltbild. Der Weltdiktatur des Kapitals | |
scheint es überall zu gelingen, ihr Profitinteresse auf Kosten der Menschen | |
durchzusetzen. | |
Ist es nicht so? Die kannibalische Ordnung der Konzerne ist schlimmer denn | |
je. Letztes Jahr haben die 500 größten transnationalen Privatgesellschaften | |
über 52 Prozent des Weltsozialprodukts kontrolliert. Die Konzerne | |
funktionieren nach dem reinen Prinzip der Profitmaximierung. Die | |
Kosmokraten, die neuen Feudalherren, üben heute eine Macht aus, die Adel, | |
Könige und Päpste früherer Jahrhunderte niemals erreichten. | |
Wer Ihr neues Buch liest, muss den Eindruck gewinnen, dass trotz aller | |
Widerstandsversuche einfach kein Ausweg aus dem Elend existiert. | |
Nein, dann verstehen Sie mich falsch. Es gibt immer Hoffnung. Gerade in | |
unserer Zeit erleben wir, wie eine neue planetarische Zivilgesellschaft | |
aufbegehrt. Beim Weltsozialforum im brasilianischen Belém 2009 waren über | |
8.000 soziale Gruppen und Bewegungen präsent. Die Triebfeder dieser | |
Widerstandsfronten ist der kategorische Imperativ, den Immanuel Kant | |
formuliert hat: "Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, | |
zerstört die Menschlichkeit in mir." Diese Haltung ist in jedem Menschen | |
intuitiv vorhanden. Daraus wächst heute auch die Erkenntnis, dass man die | |
Unterdrückungsmechanismen mit demokratischen Mitteln brechen kann. Wir, die | |
Bürger, können die Finanzminister zwingen, die mörderischen | |
Auslandsschulden der ärmsten Länder zu streichen und die | |
Agrarexportsubventionen abzuschaffen, die die Produkte der reichen Länder | |
begünstigen und die Landwirtschaft im Süden zerstören. | |
Am Beispiel Boliviens beschreiben Sie, wie die hoffnungsvollen Reformen von | |
Evo Morales jetzt schon wieder angegriffen werden. | |
Die weißen Kolonialherren, die Lateinamerika 500 Jahre ausgebeutet haben, | |
verzichten nicht einfach auf ihr Machtmonopol. Nehmen Sie die Oligarchie in | |
der bolivianischen Provinz Santa Cruz, deren wichtigste Mitglieder häufig | |
von den 1945 geflüchteten Nazis abstammen. Auf den Lastwagen dort sehen Sie | |
Hakenkreuze, wie anderswo Marienbilder sind. Die rassistische Gesellschaft | |
hat sich in ihrer Feindschaft potenziert. Es geht nicht nur um die | |
ökonomischen Interessen der Minenkonzerne, deren Macht Morales beschnitten | |
hat. Dort grassiert eine viel schlimmere Art der Opposition, die noch immer | |
auf dem Überlegenheitsgefühl der weißen Eroberer beruht. Aber Evo Morales | |
ist sehr intelligent, er hat gute Berater. In Bolivien gibt es berechtigte | |
Hoffnungen auf eine wirkliche Dekolonisierung, durch die eine | |
multiethnische, souveräne Nation entsteht, die der Herrschaftswelt auf | |
Augenhöhe begegnen kann. | |
Den Vorwurf eines Überlegenheitsgefühls, eines "blinden Eurozentrismus", | |
erheben Sie auch gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ist das nicht etwas | |
überzogen? | |
Sehen Sie, ich kritisiere, dass Frau Merkel den nigerianischen Despoten | |
Umaru YarAdua als Ehrengast zum G-8-Gipfel 2007 nach Heiligendamm | |
eingeladen hat. Wole Soyinka, der nigerianische Bürgerrechtskämpfer und | |
Nobelpreisträger, empfand das als Ohrfeige. Warum? Wie die EU offiziell | |
festgestellt hat, kam YarAdua 2007 nur durch massiven Wahlbetrug zur Macht. | |
Er ließ Oppositionelle ermorden und Wahlbüros abbrennen. Die westlichen | |
Ölkonzerne wie Shell, Total und Chevron unterstützen ihn dabei. | |
Sie sagen, die westlichen Eliten seien größtenteils nicht in der Lage zu | |
erkennen, warum ihnen aus Asien, Afrika und Lateinamerika ein zunehmender | |
Hass entgegenschlägt. | |
Der Westen muss endlich das verwundete Gedächtnis der Völker des Südens | |
anerkennen. Die Menschen sind nicht bereit, die fürchterlichen | |
Grausamkeiten, die ihnen die westlichen Sklavenhalter und Kolonisatoren | |
seit 500 Jahren angetan haben, einfach zu vergessen. Sie verlangen | |
Entschuldigungen und Entschädigungen. Wenn Merkel, Frankreichs Präsident | |
Nicolas Sarkozy und andere Regierungschefs diesem Anspruch nicht | |
nachkommen, wird es keine annähernd gerechte Entwicklung auf unserem | |
Planeten geben. | |
Zustimmend schreiben Sie, dass Haiti die 150 Millionen Goldfranken | |
zurückerhalten will, die das Land zwischen 1825 und 1883 als Entschädigung | |
für den enteigneten Besitz französischer Sklavenhalter an Frankreich zahlen | |
musste. Erheben auch andere Regierungen solche Forderungen, müsste | |
Frankreich wahrscheinlich hunderte Milliarden Euro aufbringen. Können Sie | |
nicht verstehen, dass die ehemalige Kolonialmacht ein derart ruinöses | |
Anliegen ablehnt? | |
Es geht um etwas anderes. Haiti war und ist nach der jüngsten Katastrophe | |
das ärmste Land Lateinamerikas, weil es die unglaubliche hohe, absurde | |
Entschädigung bezahlen musste für brutale Ungerechtigkeiten, die ihm | |
angetan wurden. Natürlich könnten Milliarden aus Frankreich das Elend der | |
Menschen mildern, aber die Kompensation ist nicht alles. Es geht auch um | |
die Anerkennung historischer Schuld. Dieses Eingeständnis verweigert die | |
französische Regierung. Ihr blindes Herrschaftsgedächtnis lässt das nicht | |
zu. | |
Aber hat die allgemeine Entwicklung nicht auch manchmal etwas Gutes? Mit | |
der Globalisierung der 1990er-Jahre wurde die Welt auch etwas gerechter: | |
Die Spaltung in Arm und Reich nahm ab, die Zahl der Hungernden und Armen | |
sank. | |
Das stimmt. Aber eine Milliarde Menschen lebt noch immer in absoluter | |
Armut. Für die Opfer der Weltdiktatur des Finanzkapitals ist die | |
Globalisierung täglicher Terror. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind | |
unter zehn Jahren. | |
Die Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen (UNDP) schreibt, dass | |
1981 noch 40,6 Prozent der Weltbevölkerung arm waren, 2001 aber nur mehr | |
20,7 Prozent. Das war ein erstaunlicher Fortschritt. | |
2.200 Kalorien mindestens braucht ein Mensch pro Tag zum Leben. In den | |
Flüchtlingslagern im Tschad, in denen die Opfer des sudanesischen | |
Völkermords hausen, verteilt die UNO 1.500 Kalorien pro Tag und Kopf. In | |
Bangladesch wurde die Speisung für eine Million unterernährter Kinder | |
ersatzlos gestrichen. Und warum? Weil die westlichen Staaten angesichts der | |
Finanz- und Wirtschaftskrise ihre Beiträge gestoppt haben. Die Zahl der | |
Hungernden und Armen steigt wieder. Das nenne ich Vernichtung der Menschen | |
durch Hunger. Für diese Globalisierung gibt es keine Entschuldigung. Sie | |
ist eine Geißel der Menschheit. Sie ist täglicher Terror. Punkt. | |
Warum wischen Sie mit leichter Hand vom Tisch, dass das kapitalistische | |
Weltsystem neben Schlechtem auch Gutes gebiert? | |
Jedes Kind, das an Hunger stirbt, könnte mein Kind sein oder Ihr Kind. | |
Dabei sind alle diesen schrecklichen Opfer unnötig. Das ist es, was mich | |
unendlich empört und erzürnt. Die Menschheit hat heute die Möglichkeit, ein | |
materiell glückliches Leben für alle zu sichern. Der sagenhafte Reichtum, | |
der unter dem Kapitalismus erwirtschaftet wurde, reichte dafür aus. Die | |
Produktivkräfte sind enorm gestiegen. Die Laboratorien von Konzernen wie | |
Nestlé und Novartis arbeiten mit einer unglaublichen Kreativität. Deshalb | |
gibt es für all das Leiden keine Entschuldigung, keine moralische | |
Rechtfertigung. Diese kannibalische Weltordnung ist mörderisch. Und es | |
existiert nur eine Alternative. Die Finanzdiktatur muss durch eine | |
normative Weltgesellschaftsordnung ersetzt werden. Die neoliberale Wahnidee | |
muss verschwinden. Wir brauchen einen neuen planetarischen | |
Gesellschaftsvertrag. | |
8 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
Hannes Koch | |
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