# taz.de -- Neues Album von Joanna Newsom: Die heilige Joanna der Schlosshöfe | |
> Die Ausnahmemusikerin Joanna Newsom packt ihre Harfe ein und macht sich | |
> mit ihrem neuen Album "Have One on Me" unsterblich. | |
Bild: Triggert das innere Kalifornien in uns an: die 28-jährige Joanna Newsom. | |
Es war eine leidenschaftliche, wenngleich für alle Beteiligten unerfreulich | |
endende Liebschaft: 1846 begegnete das Showgirl Lola Montez König Ludwig I. | |
von Bayern. Er war der falschen Spanierin und ihrem freizügigen Spinnentanz | |
augenblicklich verfallen. Ludwig änderte sein Testament, versetzte seine | |
Mätresse in den Adelsstand und verlieh ihr die Staatsbürgerschaft. Es kam | |
zu tumultartigen Zuständen in München, und Ludwig musste Montez aufgrund | |
der angespannten Stimmung schließlich gar des Landes verweisen. Seinen | |
Thron rettete aber auch das nicht mehr. | |
Im Titelstück von Joanna Newsoms neuem Album "Have One On Me" wird aus der | |
erotischen Staatsaffäre ein ergreifender Song über das Scheitern der Liebe, | |
in dem während 11 Minuten alles zusammenfließt, was die Sängerin und | |
Harfinistin zur Musikerin der Stunde macht: Textlandschaften, in denen ihre | |
motivisch geflochtenen Geschichten sich ausdehnen können, wo sich | |
Erzählschichten übereinanderlegen und undurchdringlich werden; | |
Melodiebögen, die über schrägen harmonischen Strukturen schweben und in | |
filigranen Windungen schließlich wieder zu ihrem Ausgangspunkt | |
zurückfinden. Und dann ist da noch Joanna Newsoms Stimme, die spielerisch | |
die kuriosen Kapriolen ihrer Songs nachvollzieht. | |
Die Stimme, hat der Psychoanalytiker Jacques Lacan einmal gesagt, wecke | |
Begehren. An Joanna Newsoms Organ hätte der Franzose seine helle Freude | |
gehabt. Seit sie das erste Mal vor sechs Jahren auf ihrem Debütalbum "The | |
Milk-Eyed Mender" aus einem Märchen- und Feenland kommend mit ihrer Stimme | |
ins kollektive Gehör schnitt, überschlagen sich die Kritiker: Newsoms | |
kratziges Kreischen höre sich an wie das Schreien einer Katze, wenn draußen | |
gerade ein Feuerwerk tobt, konnte man etwa lesen. Da sprach das | |
Rock-Über-Ich, das die vermeintlich direkt aus dem Unbewussten | |
herausgequetschten Klänge nicht gutheißen konnte. Auf einer Skala die von | |
eins bis zehn - eins für das Singen eines Geistesgestörten, zehn der glatte | |
Gesang von American Idols-Gewinnern - rangiere Joanna Newsom bei | |
zweieinhalb, bemerkte der US-Schriftsteller Dave Eggers. Er wollte das als | |
Kompliment verstanden wissen. | |
An Newsoms Stimme kommt man einfach nicht vorbei. Sie ist das, was einen | |
als Erstes empfängt, abstößt oder umgarnt, wenn man sich dem musikalischen | |
Kosmos der 28-Jährigen nähert. Sie ist die Eintrittskarte in eine Welt, in | |
der man in labyrinthischen Geschichten verloren gehen kann, sirenenhaft | |
angelockt von einem Versprechen naiver Unschuld und komplexer Sinnlichkeit | |
gleichermaßen. Man sollte sich nicht täuschen lassen: Joanna Newsoms Stimme | |
transportiert Verwirrung und Gereiztheit, aber auch das Wissen um die | |
Schönheit des Dargebotenen. Man könnte diesen Gesang mutig nennen, ja, den | |
Versuch, an der eigenen Zerbrechlichkeit nicht zu zerbrechen und sie | |
stattdessen selbstbewusst auszustellen. Ihren Ursprung hat die Musik | |
tatsächlich in einer wunderbar nichtschönen Stimme, die alle Emotionalität | |
in sich birgt, um ein Menschenherz zu rühren. Die Stimme der Joanna Newsom, | |
auf dem neuen Album noch souveräner und immer wieder an Kate Bush erinnernd | |
oder an Victoria Williams, weckt Begehren. Sie ist schlicht überwältigend. | |
"Musik wie diese", schreibt Dave Eggers, "kann in dir das Gefühl von | |
Verletzbarkeit erzeugen. Sogar wenn du dich stark fühlst, wirst du bald | |
unterliegen, und dann brauchst du Unterstützung, die das Album selbst | |
bereitstellt. Es bricht dich, dann baut es dich wieder auf." Eggers | |
Liebeserklärung an Newsoms Musik ist der Ausgangspunkt eines Buches, das | |
der US-Literaturwissenschaftler Brad Buchanan mit verschiedensten, das Werk | |
der Sängerin und Songschreiberin umkreisenden Aufsätzen bestückt hat: Die | |
Bandbreite von "Visions of Joanna Newsom" - der Titel spielt auf einen Song | |
des im Reader öfter zitierten Bob Dylan an - reicht von unbedarften | |
Kindheitserinnerungen einer Freundin über präzise Analysen der Newsomschen | |
Erzählweise bis zu poststrukturalistischen Lesarten nach Deleuze und | |
Guattari. | |
All das soll Bewunderung zum Ausdruck bringen für ein noch schmales Oeuvre, | |
das in seiner ganzen Wundersamkeit und Fülle nur annäherungsweise erfasst | |
werden kann, weil es sich wie Newsoms verworrene Melodielinien immer wieder | |
entzieht. Als Buchanan das Buch zusammenstellte, war gerade "Ys" | |
erschienen, ihr zweites, versponnenes Album, das durch die Van Dyke | |
Parkschen Orchesterarrangements zu einem Meisterwerk des sogenannten Weird | |
Folk wurde. | |
Newsoms neuester Streich und ohne Zweifel das bisherige Opus magnum der | |
Prinzessin an der Harfe aber war da noch gar nicht in Sicht. Wie ein | |
Anachronismus erscheint die Triple LP "Have One On Me" in der Ära des | |
Downloads: 18 Songs, über zwei Stunden Spieldauer, kaum ein Lied im | |
radiokompatiblen Single-Format, dafür viele ausschweifende und wild | |
mäandernde Kompositionen. | |
Die Harfe wird manchmal gegen den Flügel eingetauscht, die Arrangements von | |
Mitmusiker Ryan Francesconi sind weniger opulent als noch auf dem | |
Vorgängeralbum. Und doch verwandeln sich die oft folkartig beginnenden | |
Songs zuweilen in pointiert instrumentierte Kunstlieder. Was die | |
amerikanische Musik (und nicht nur die) in den letzten zweihundert Jahren | |
hervorgebracht hat, scheint hier eingesickert, und Newsoms Faible für | |
westafrikanische, gegenläufige Rhythmusmuster schafft immer wieder | |
angenehme Zustände der Desorientierung: Man ist ganz hineingezogen in die | |
Songs, die doch fremd und seltsam bleiben. | |
Wenn die letzten verklingenden Töne und die Abschiedszeilen die Zuhörer | |
wieder in die Wirklichkeit entlassen, waren sie in einer Welt gewesen, die | |
selbst dem Profansten noch romantischen Zauber verleiht. Die Worte, mögen | |
sie noch so vertraut klingen, entstammen nicht dem Jetzt; und die Musik, in | |
der kaleidoskopartig Minnesang, Romantik, Folk, Jazz, Vaudeville, Gospel, | |
Blues und Kunstmusik aufscheinen, hat mit den Pattern der Popmusik, wie wir | |
sie kennen, nur wenig gemein. Das Mittelalter, aus dem Newsom auf den | |
ersten Alben ihr Personal rekrutiert hat, erscheint ferner; man ist jetzt | |
auch öfter mal betrunken, oder das Herz ist schwer wie ein "Ölfass". | |
Liebäugelte ihre Musik schon immer mit der Avantgarde, haben nun sogar | |
modernere Zeiten Eingang in ihr Metaphernreservoir gefunden. Aber von einer | |
anderen Sphäre, einem Garten Eden, in dem die Sängerin ein Stückchen Land | |
für sich gefunden hat, wird doch weiterhin geträumt ("'81"). Episch sind | |
fast alle Songs des Albums, dessen Epizentrum die vergehende, verwehende | |
Liebe ist. Newsom kommt dabei ohne Pathos aus. Einmal heißt es, man müsse | |
der Liebe nur einen Schubs geben, schon verwandelt sie sich in Terror | |
("Soft As Chalk"). | |
Um diese kleine Verschiebung geht es. "From the courtyard, I floated in and | |
watched it go down", hebt "Have One On Me" an, und es ist die Verheißung | |
einer nie endenden, auch traurigen, aber stets ins Offene weisenden | |
Erzählung. Die heilige Joanna der Schlosshöfe ist zurück mit einem Album, | |
das sie unsterblich macht. Denn "all these songs, when you and I are long | |
gone, will carry on". | |
Joanna Newsom: "Have One On Me" (Drag City/Rough Trade); B. Buchanan | |
(Hrsg.): "Visions of Joanna Newsom". Roan Press, Sacramento 2010, 177 S., | |
19,95 US-Dollar | |
11 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Rüdenauer | |
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