Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolumne Schweizer Kommunismus: Gaddafis Irrtum
> Bisher haben wir den Kommunismus immer im Osten vermutet. Doch das ist
> falsch. Das Mutterland des Kommunismus ist nicht die Sowjetunion, sondern
> die Schweiz.
Bild: Sein Sohn wurde wegen schwerer Körperverletzung in einem Genfer Hotel im…
Libyen hat noch immer den Vorsitz der UN-Vollversammlung inne. Zu Beginn
seiner Präsidentschaft trat das libysche Staatsoberhaupt mit dem Vorschlag
hervor, die Schweiz aufzulösen. Offenbar konnte Muammar al-Gaddafi noch
keine Mehrheit für seinen Plan gewinnen, weshalb er nun die Muslime der
Welt aufgerufen hat, in den heiligen Krieg gegen die Schweiz zu ziehen.
Es lässt sich in der Tat viel gegen die Schweiz einwenden. Else
Lasker-Schüler glaubte, die Schweizer kämen schon siebzigjährig zur Welt
und lägen in Windeln "aus Pflichtbewusstsein gewebt". Außerdem klangen die
ebenso "dumpfen wie geschwollenen Dialekte" ihr "wie Rüben und Kartoffeln"
in den Ohren. So viel zur ästhetischen Kritik der Schweiz. Sie ist
Zufluchtsort der Steuersünder, das Land des Bankgeheimnisses sowie der
Kopfpauschale. Aber ist das schon alles?
Leider nein. Bisher haben wir den Kommunismus immer im Osten vermutet. Doch
das ist falsch. Das Mutterland des Kommunismus ist nicht die Sowjetunion,
sondern die Schweiz.
Wo fand der große Revolutionsführer Lenin Exil, bevor er die Herrschaft der
Bolschewiki errichtete? Natürlich in der Schweiz. Schon das sollte den
großen Revolutionsführer Gaddafi milder stimmen. Und nun betrachten wir
einmal das Schweizer Rentensystem. In der Schweiz darf die minimale Rente
nur halb so klein sein wie die maximale Rente. Ja, was ist das denn? Und
wer bekommt die Maximalrente? Die Antwort ist erschütternd: der
Industriearbeiter, der Geringstverdienende. Die Minimalrente dagegen
bekommen Bankdirektoren, Aktionäre, Manager.
Ich war kürzlich auf einer Konferenz, auf der ein Schweizer einigen
Deutschen das Schweizer Rentensystem erklärte. An dieser Stelle des
Vortrags brach eine Frau in hysterisches Lachen aus. Das war der
Irrealitätsschock. Oder der Realitätsschock. Also der Schock, den man im
Augenblick der Erkenntnis erleidet, wie real mitunter das ganz Irreale sein
kann. Dabei war der Referent noch gar nicht zur eigentlichen Pointe des
Schweizer Rentensystems vorgedrungen. Nämlich zu der Frage: Wie finanziert
man das?
"Und nun kommt wohl das Genialste des ganzen Systems", kündigte der
Vortragende an - die Dame hatte inzwischen ihre Fassung mühsam
wiedergewonnen - und fuhr fort: Alle Einkommen, unabhängig von ihrer Höhe,
werden mit 8,4 Prozent belastet. Niemand ist davon befreit. Auf diese Weise
zahlen Spitzenverdiener oft jährlich weit über eine Million Franken in die
Versicherung ein, um schließlich einmal eine Mindestrente zu beziehen.
Das ist mehr als Kommunismus. Das ist höhnischste Verkehrung des
Leistungsprinzips. Das ist vorsätzliche Diskriminierung der
Besserverdienenden. Der Referent gab allerdings zu, dass es heute "mühsam"
wäre, ein solches System durchzusetzen. Es verdanke sich vielmehr der
Nachkriegsvernunft. Die Nachkriegsvernunft muss eine sehr seltsame Vernunft
gewesen sein. Es war dieselbe Vernunft, die der Bundesrepublik Anfang der
Fünfzigerjahre einen Spitzensteuersatz von 95 Prozent einbrachte und
außerdem das Sozialstaatsgebot in der Verfassung. Die Nachkriegsvernunft
sah die Entstehung von Riesenvermögen als große Gefährdung der Demokratie.
Nach Katastrophen hat man einen anderen Blick auf die menschlichen Dinge
und ihren Zusammenhalt. Vor großen Katastrophen hat man ihn nie. Darin
besteht nicht zuletzt die Ironie der Geschichte.
Heute würde statt des Sozialstaatsgebots wohl etwas ganz anderes in der
Verfassung stehen: Die Würde des freien Menschen in einer freien
Gesellschaft besteht darin, sein Platz im Leben frei zu wählen und aus
eigener Kraft zu behaupten. So könnte man das formulieren. Alles andere ist
verdeckte kommunistische Infiltration.
Niemand soll glauben, er sei gegen solche Einflüsterungen immun. Nehmen wir
nur die Krankenversicherung. Die meisten Menschen in diesem Land halten es
noch immer für selbstverständlich, dass im Krankheitsfall alles
Menschenmögliche für sie getan wird. Das ist naivster Kommunismus. Die
Gesunden könnten ungleicher nicht sein. Sie wohnen zwar in ein und
demselben Land, aber das ist nur eine terrestrische Täuschung, denn ihre
Lebensverhältnisse verraten die Wahrheit: Sie kommen von verschiedenen
Sternen. Und ausgerechnet im Krankheitsfall sollen alle wieder gleich sein?
Die FDP will über die Kopfpauschale diesem Kinderglauben ein Ende machen.
Auch wenn es sich bei dieser Kolumne um ein Lob der Schweiz handelt, so
müssen wir an dieser Stelle doch ehrlich sein: Die Schweiz hat die
Kopfpauschale schon. Der Schweizer Referent drückte diesen Umstand so aus:
"In der Tat kennt die Schweiz als einziges Land in Europa und wohl auch
weltweit diese ungerechten und unsozialen Kopfprämien."
Die Schweiz ist eine Dreidrittelgesellschaft. Reiche, Arme, Mittelstand zu
ungefähr gleichen Teilen. Der Millionär versichert sich - gemessen an
seinem Einkommen - nun also fast umsonst. Das minderbegüterte Drittel muss
gestützt werden, weil es allein seine Kopfprämie nie aufbringen könnte. Und
den Mittelstand drückt diese Prämie an die Wand - insbesondere wenn es sich
um eine Risikogruppe wie eine Familie handelt, zu deren Wesen nun mal die
Mehr- bis Vielköpfigkeit gehört. Fassen wir zusammen: Kopfpauschalen sind
die ideale Krankenversicherung für alleinstehende Bankdirektoren.
Wir wissen, der große libysche Revolutionsführer hat sich sehr über die
Schweiz geärgert. Aber niemand weiß so gut wie er, wie ungezogen das Volk
sein kann. Gaddafi ist nämlich auch Dichter. 1995 hat er sein erstes Buch
vorgelegt. Es heißt "Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der
Selbstmord des Astronauten". Er beklagt darin besonders die Tyrannei der
Massen und deren Neigung, ihre großen Führer in die Wüste zu schicken.
Manchmal schicken die Massen aber auch etwas ganz anderes in die Wüste als
Führer und Minarette. In der Schweiz hat sich bereits eine Volksinitiative
gegen die Kopfprämie starkgemacht.
Der Revolutionsführer sollte seine Fatwa gegen die Bergrepublik noch einmal
überdenken. Darf er wirklich das einzig real existierende fast
kommunistische Land vernichten? Geht man so mit einem Brudervolk um?
31 Mar 2010
## AUTOREN
Kerstin Decker
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kommentar Schweiz und Gaddafi: Kuhhandel mit Geiselnehmer
Die Schweiz verhandelt hinter den Kullissen weiter über Gaddafis groteske
Forderungen, anstatt ein Strafverfahren einzuleiten. Die letzte Geisel wird
so nicht freikommen.
Gaddafis Geiseln: Mehr als 50 Ausländer festgehalten
Gaddafis Racheaktion für die Festnahme seines Sohns in der Schweiz war
umfangreicher als bislang bekannt. Er hinderte mindestens 50 Ausländer an
der Ausreise.
Die Woche: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?
Die FDP wird künstlich beatmet, die Deutschen fotografieren gern jeden
Baum, und Brender sucht einen neuen Wald.
Gaddafis Aufruf an Muslime: Dschihad gegen Schweiz
Der libysche Revolutionsführer Muammar Gaddafi hat die Muslime zum Heiligen
Krieg gegen die Schweiz aufgerufen. Die Eidgenossenschaft sei ein
ungläubiger Staat, in dem Moscheen zerstört würden.
Schweizer in libyscher Geiselhaft: Ehrenrächer Ghadhafi lenkt ein
Die zwei Schweizer Staatsbürger, die Ghadhafi aus "Rache" für seinen Sohn
Hannibal inhaftierte, könnten bald freikommen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.