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# taz.de -- Das Audiolith-Label auf Klassenfahrt: Kleinstädte unsicher machen
> Das Elektropunk-Label Audiolith schickt seine Bands Egotronic, Bratze und
> Frittenbude durch die Dorfdiskos der Republik – denn Kleinstädte "kann
> man noch unsicher machen".
Bild: Vorn: Jakob von Frittenbude.
Abgesehen vom Motor läuft alles rund. Lars Lewerenz hat zwar verschlafen,
aber es bleibt noch Zeit, 150 Dosen Bier und 200 Dosen Red Bull samt Wodka
in den Bus zu laden. Das Equipment: verstaut. Die geladenen Journalisten:
pünktlich. Kevin Hamann und Norman Kolodziej von der Hamburger Band Bratze:
in Plauderlaune, obwohl es erst sieben Uhr morgens ist. Schließlich wird
man viel Zeit gemeinsam verbringen in dem bunt beschrifteten "Fidibus", der
immer noch nicht anspringt. Startschwierigkeiten sind normalerweise nicht
das Problem der Künstler und Betreiber des Labels Audiolith. Dieser
Eindruck bestätigt sich 14 Stunden später in Döbeln. Die Band Frittenbude
betritt die Bühne, 250 Teenies reißen die Hände in die Luft.
Aber so weit sind wir noch nicht. Wir stecken noch in Hamburg, und die
Promotiontour "Dorfdisko Geiselfahrt", um die es hier geht, hat noch nicht
begonnen. Busfahrer Hamid hat zuletzt eine Jugendgruppe mit 80
Stundenkilometern nach Südtirol kutschiert. Diesmal fährt er
"Berufsjugendliche", wie Thorsten Burkhardt alias Torsun, Frontmann der
Berliner Band Egotronic, sagt. Außerdem die Bands Bratze und Frittenbude
aus München, die auf dieser Tour jeweils ihre neuen Alben vorstellen. Nur
tun sie das nicht in Berlin oder Hamburg, sondern an Orten, deren Namen sie
an diesem Morgen vermutlich selbst das erste Mal hören: Döbeln, Oelde und
Tannheim-Egelsee.
Die Ochsentour durch die Provinz gehört zum Rock-'n'-Roll-Mythos wie Sex
und Drogen. Kleinstädte, sagt Lars Lewerenz, könne man noch unsicher
machen. Anders als in Großstädten, in denen jeden Abend mehrere Konzerte
stattfinden und das Publikum übersättigt ist.
Die Idee zur Tour hatte Lewerenz beim Zelten mit seiner Freundin, alles
andere habe sich - wie so vieles bei Audiolith - durch "derben Humor", Spaß
an Provokation und ohne genaues Konzept entwickelt. Da macht es auch
nichts, dass die Inszenierung den Charme einer Klassenfahrt entwickelt, mit
dem einen Unterscheid, dass hier niemand wegen Alkoholkonsums nach Hause
geschickt wird.
Vielleicht die beste Art, das Label und dessen Protagonisten zu begreifen:
Auf Klassenfahrt wären sie jene, die nachts alle aufs Zimmer einladen, um
heimlich Bier zu trinken und Flaschendrehen zu spielen. Wer nicht dabei
war, hat für den Rest des Schuljahrs das blöde Gefühl, irgendetwas
Wichtiges verpasst zu haben. Das Audiolith-Syndrom: ein Herz für alle, die
mitfeiern.
Sieben Jahre ist es her, dass Lewerenz sein Label gegründet hat. Mit Sitz
im Musikhaus Karostar in St. Pauli veröffentlicht der 33-Jährige seitdem
vor allem elektronische Musik mit Pop-, Punk-, HipHop- oder
Indie-Rock-Anleihen. Egotronic-Songs wie "Raven gegen Deutschland" und
Soli-Gigs auf Antinazi-Demonstrationen zeugen von Antifa-Sympathie, auch
wenn Lewerenz von "Schubladendenken" über sein Label nichts hält.
Regelmäßig macht Audiolith mit kleinen Happenings auf sich aufmerksam:
Anfangs beliefen sich diese noch auf überdimensionale Biertürme aus
Bierkisten im eigenen Vorgarten. Zuletzt war es ein Parkplatz-Rave mit der
Schweizer Band Saalschutz auf dem Melt-Festival 2008, nun also eine
"Dorfdisko Geiselfahrt".
460 Kilometer später: Als der Fidibus in Döbeln einfährt, dominiert
süßlicher Red-Bull-Geruch den Fahrgastbereich. Egotronic und Bratze lümmeln
auf der Liegefläche im hinteren Teil und spielen Tetris. Die begehrtesten
Objekte an diesem Nachmittag sind zwei Internet-Surfsticks. "Früher blieb
alles, was auf Tour passierte, geheim, heute bleibt es auf Facebook",
scherzt jemand. Norman Kolodziej, der auch als Solokünstler "Der Tante
Renate" einer der ersten Audiolith-Künstler war, fungiert als labeleigener
Produzent. Sein Studio hat er sich zu Hause eingerichtet. "Ich habe eine
sehr tolerante Freundin", sagt er über eine Sitzlehne hinweg zum Thema
Lautstärke. Lewerenz greift wie schon mehrmals auf dieser Fahrt nach dem
Busmikro. Es knackt und knarzt, der Tonmann verzieht das Gesicht. "Herzlich
willkommen in Döbeln, liebe Mitreisende!" Gejohle aus allen Sitzreihen.
Döbeln, eine Kleinstadt mitten im Osten. Die restaurierten Hausfassaden
können nicht über die Leere hinwegtäuschen, die dieser Ort ausstrahlt. Der
Bus hält vor einem Jugendzentrum. Ein großes Zimmer für alle, Feldbetten,
undichte Fenster. Auf einer Dorfdiskotour gilt jeder Schlafplatz als
luxuriös, solange er nicht der Tourbus ist. Der Konzertclub heißt
"Rohtabak", eine verwinkelte Industriehalle.
Mittlerweile ist es 20 Uhr, der Laden füllt sich mit jugendlichen Punkern
und New-Rave-Kids aus der näheren Umgebung. Rausgeputzt in Röhrenjeans,
Neon-Shirts und Kapuzenpullis sind sie erfüllt von einer Sehnsucht, die
Musiker und Labelbetreiber vermutlich schon lange nicht mehr hatten:
danach, dass endlich mal wieder richtig was los ist. Basisdemokratie auf
der Promo-Tour: Die Musiker würfeln aus, wer als Erster auf die Bühne muss.
Frittenbude fängt an. Eine Band, an der sich prima der Begriff
Generationskonflikt in musikalischer Hinsicht erläutern lässt. Menschen
über 25 finden sowohl Musik als auch Stil der Musiker bisweilen
zusammengeklaut, das HipHop-Gepose des Sängers aufgesetzt und Textzeilen
wie "Du kaufst der Frau, die du liebst, ein Shirt von Audiolith, das sie
auch laufend anzieht" platt. Hörer unter 25 feiern Frittenbude vom ersten
Beat an ab, so wie auch heute Abend in Döbeln.
Sänger Johannes Steifen alias Streuner glaubt, dass der derzeit aufkeimende
Erfolg seiner Band durch die Nähe zum Publikum entsteht: "Die Leute finden
sich in unseren Songs wieder", sagt er. Zum Beispiel in dem Gefühl, nach
einer durchfeierten Nacht in ein Loch zu fallen.
Rührende Begeisterung
Eine Aussage, die sich auf alles übertragen lässt, was aus dem Hause
Audiolith kommt: Künstler und Publikum begegnen sich auf Augenhöhe, von
Überheblichkeit keine Spur. "Macht mal 'n bisschen Lärm für euch selbst!",
brüllt Steifen vom Bühnenrand, und das Publikum wird laut. Der Bass
scheppert. Wie sich Jungs und Mädchen da so drängen und mit Bewunderung die
Band anstarren, jedes Wort nachsingen und Arme und Gesichter den Musikern
entgegenrecken, da wirkt ihre bedingungslose Begeisterung nicht nur
exzessiv, sondern auch rührend. Im Mittelpunkt steht an diesem Abend vor
allem der Veranstalter.
Audiolith findet Felix "cool", und so verharrt der 19-Jährige drei
Auftritte lang mit seiner großen Spiegelreflexkamera auf der Bühne und
singt jeden Song mit. So mutig sind sonst nur zwei Mädchen, die während des
Konzerts auf die Bühne klettern, das Mikrofon an sich nehmen und ihrer
besten Freundin zum Geburtstag gratulieren. Das Publikum johlt "Happy
Birthday", das Geburtstagskind springt vom Bühnenrand und lässt sich vom
Publikum auf Händen tragen. In diesem Moment geht das Dorfdisko-Konzept
endgültig auf.
Eine Szene wie diese wäre in Berlin oder Hamburg undenkbar. Der Moment
markiert die einzige Pause an diesem Abend. Bratze spielt, Synthesizer
zwingen Töne in den Raum, der Gitarrensound fällt aus, die Band verliert
trotzdem nicht an Druck. Die Texte verklausulierter, die Attitüde der
Musiker gleichsam zurückhaltender und schrulliger als bei Frittenbude.
Hamann schwitzt und singt "Ohne das ist es nur noch laut". Schließlich
Egotronic: Torsun brüllt sich den Hass gegen Doppelmoral, verlogene
Toleranz und rechte Gewalt aus dem Leib, das Publikum wiegt sich hin und
her, das Konzert nimmt kein Ende. Backstage döst Lewerenz kurz ein. Es war
ein langer Tag. Er hält einen Piccolo in der Hand, bisher ist alles gut
gelaufen: Die Bands sind ausgelassen, das Publikum feiert.
Die 35 Euro Strafe für das Urinieren eines Tourteilnehmers ans Döbelner
Ordnungsamt - egal! Doch dieser kurze Moment im Backstage ist nur die Ruhe
vor dem Sturm, denn er und seine Kollegen werden erst im Club zu den
Platten von Saalschutz-DJ MTDF und später im Jugendzentrum weiterfeiern. Am
nächsten Morgen um sieben in irgendeinem Bett aufwachen, in das sie doch
erst vor einer, vielleicht zwei Stunden hineingefallen sind. Oder ganz ohne
Schlaf für weitere 470 Kilometer Fahrt in den Fidibus steigen.
Zugriff an der Raststätte
Weiter geht's, nächster Stopp: Oelde. Katerstimmung im Bus. "Zugriff",
schreit plötzlich jemand. Zwei Fans haben - gemäß einem Aufruf im
Audiolith-Blog - den Fidibus auf der Autobahn aufgespürt, fotografiert und
bis zur nächsten Raststätte verfolgt. Die Aktion beschert ihnen T-Shirts
und Gästelistenplätze. Der Aufwand hat sich gelohnt. Oelde, vom ersten
Moment an so anders als Döbeln: eine beschauliche Kleinstadt im
Münsterland. Der Konzertort Alte Post keine runtergerockte Industriehalle,
sondern ein gelb verputztes Haus.
Um Mitternacht ist Zapfenstreich, so die Ansage. Das Publikum will nicht so
recht Lärm für sich selbst machen, wirkt aufgeräumt wie die Umgebung. In
Oelde sind Karoflanellhemden der letzte Schrei. Der Junge mit dem "I love
Vagina"-Shirt hatte für Diskussionen unter den Musikern gesorgt. Bratze
verlassen entnervt die Bühne, und auch bei Frittenbude springt der Funke
diesmal nicht über. Erst bei Egotronic kommen die Erinnerungen an den
Vorabend zurück: Die vorderen Reihen toben und singen mit. Egal, ob es die
Enttäuschung über den verpatzten Gig oder ein erstes Anzeichen von
Tourmüdigkeit ist, nach kurzer Plauderei mit hartnäckigen Fans trennt sich
die Audiolith-Gemeinde, früher als erwartet, ins Hotel, in
Privatunterkünfte und diesmal auch zum Schlafen in den Tourbus. Nächster
Stopp: Tannheim-Egelsee. Das Bier, die Konzerte, der Motor - alles läuft!
7 Apr 2010
## AUTOREN
Alexandra Eul
## TAGS
Punk
Pop
Schwerpunkt Rassismus
Hamburg
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