# taz.de -- Erzbischof Marx über katholische Kirche: "Unser Sterbeglöcklein b… | |
> Ein Gespräch mit Reinhard Marx, dem Erzbischof von München, über die | |
> Missbrauchs-Skandale in seiner Kirche, das Zölibat, den Ökumenischen | |
> Kirchentag und das Schöne am Protestantismus. | |
Bild: Reinhard Marx: "Die katholische Kirche hat Pädophilie nie gebilligt." | |
taz: Herr Erzbischof Marx, wie lange wird der Missbrauchsskandal die Kirche | |
noch beschäftigen? | |
Reinhard Marx: Er wird die Gesellschaft noch lange beschäftigen. Vor allem | |
die Aufarbeitung dessen, was geschehen ist. Und wie ist es zukünftig zu | |
vermeiden? Die Debatte wird sich nicht nur auf Missbrauch beschränken, | |
sondern ausweiten auf die Frage von Macht und Sexualität, nicht nur in der | |
Kirche, sondern in der Gesellschaft insgesamt. | |
Wie entwickeln sich die Austrittszahlen aus der Kirche in Ihrem Erzbistum? | |
Sie sind ohne Zweifel zu hoch, und wir werden erst in einigen Wochen die | |
Zahlen genauer analysieren können. Man muss genau hinsehen: Natürlich ist | |
der Blick auf die Missbrauchsfälle in der Kirche ein Schock, der uns sehr | |
betroffen macht. Aber nur von daher auf das ganze Leben der Kirche und des | |
Glaubens zu schauen, wäre nicht richtig. | |
Aber es gibt doch Diözesen, wo die Austrittszahlen richtig in die Höhe | |
geschnellt sind. | |
Ich will da nichts beschönigen. Aber wenn man die Austrittszahlen der | |
vergangenen 20 oder 30 Jahre anschaut, dann sieht man viele Schwankungen | |
mit ganz unterschiedlichen Gründen. Ich selbst habe an diesem Osterfest | |
mehr als dreißig zumeist junge Erwachsene getauft. Es gibt im Augenblick | |
eben beides. Nun zu glauben, das Sterbeglöcklein für die Kirche bimmelt - | |
so einfach ist es nicht. Aber es ist sicherlich ein Verlust an Vertrauen in | |
die Kirche da, keine Frage. Das müssen wir Schritt für Schritt wieder | |
gewinnen. | |
Der Trierer Bischof Stephan Ackermann hat bezüglich des Missbrauchsskandals | |
in der Kirche gesagt, es gebe einen fehlgeleiteten Hunger nach Nähe bei | |
manchen Priestern - glauben Sie, er hat Recht? | |
Das kann man so sagen. Aber das gilt für viele. Wir haben Kleriker, die | |
Täter sind, aber auch Täter in der ganzen Gesellschaft. Und das ist das | |
Beunruhigende, was ich bis jetzt auch nicht genau verstehen kann: Es gibt | |
Täter in allen Bereichen und mit verschiedenen Hintergründen. Ein | |
einheitliches Profil gibt es nicht. | |
Die These, sexueller Missbrauch habe etwas mit dem Zölibat zu tun, finden | |
Sie nach wie vor nicht schlüssig? | |
Ja, nicht schlüssig. Dass man dem spezifisch Katholischen bei diesen Fragen | |
nachgeht, finde ich legitim, das muss man tun. Das gilt aber auch für jede | |
andere Gruppe und gesellschaftliche Organisation. Eine Erkenntnis ist | |
sicher, dass das Verhältnis von Macht und Abhängigkeit ein Einfallstor für | |
Missbrauch ist. Möglicherweise auch die Frage: Was bedeutet für einen, der | |
Keuschheit versprochen hat, das Anerkennen der eigenen Geschlechtlichkeit? | |
Aber wir wissen auch, dass die Ehe Pädophilie nicht verhindert. | |
Hat es etwas mit der Sexualmoral der Kirche zu tun? | |
Die katholische Kirche hat Pädophilie nie gebilligt. Und wenn man die | |
einschlägigen Paragrafen selbst des Kirchenrechts von 1917 anschaut, dann | |
waren für solche Vergehen die höchsten Strafen überhaupt vorgesehen. | |
Die Frage ist doch: Muss die Kirche über ihre Sexualmoral reden? Gibt es da | |
noch eine Sexualfeindlichkeit oder nicht? | |
Wenn es so rüberkäme, hätten wir etwas falsch gemacht. Wie kann man | |
deutlich machen, dass das, was die Kirche zur Sexualität sagt, | |
grundsätzlich eine positive Aussage ist? Natürlich ist die Sexualität wie | |
alle anderen Handlungen des Menschen, wo es um intime Nähe geht, auch | |
gefährdet durch Machtmissbrauch und durch Ausnutzung des Anderen, durch | |
Egoismus. Aber Sexualität ist eine positive Lebenskraft, die uns von Gott | |
geschenkt ist. Das ist die Lehre der Kirche. Aber Sexualität braucht eine | |
Ordnung, wenn sie nicht aus dem Ruder gehen soll. Die Sexualmoral der | |
Kirche halte ich nicht für ein Problem. Wie sie verkündet oder wie sie | |
dargestellt wurde, vielleicht schon. Warum gelingt es uns nicht, die | |
kirchliche Sexuallehre als eine positive Herausforderung zu sehen, nicht | |
als eine reine Verbotsmoral? | |
Das ist anspruchsvoll. | |
Das Leben ist anspruchsvoll! Der liebe Gott hat sich etwas gedacht bei der | |
Erschaffung des Menschen, etwas Anspruchsvolles. | |
Wenn man jungen Leuten sagt, ihr dürft Sex erst in der Ehe haben, dann | |
sagen doch viele, da höre ich nicht mehr hin. Zumal wenn zölibatär lebende | |
Männer diese Lehre verbreiten. | |
Wenn die glaubwürdig leben, ist es doch gerade dann ein Zeichen! Da kann | |
man deutlich machen, es gibt ein erfülltes Leben, das versucht, sich den | |
Lebensstil Jesu ganz anzueignen - nicht aus eigener Kraft, dafür brauchen | |
wir die Gnade Gottes. Das ist ja eine urchristliche Erkenntnis: Letztlich | |
lebst du aus der Gnade. Du hast dich nicht selber gemacht. Du hast dich | |
nicht selber erschaffen. Du bist erst einmal jemand, der danke sagt, danke, | |
dass ich leben darf. | |
Dass Jesus zölibatär oder asexuell gelebt hat, ist nicht klar. | |
Meinen Sie. | |
Jüdische Jesus-Forscher wie Schalom Ben-Chorin haben nicht ausgeschlossen, | |
dass Jesus verheiratet war. | |
Also, diese These kann man so nicht akzeptieren. Da sind wohl alle | |
christlichen Kirchen und die meisten Exegeten der Meinung, dass es so war, | |
wie es in der Heiligen Schrift dargestellt wird. Und die ganze Tradition | |
der Kirche beruht ja darauf, dass das Zölibat eine Möglichkeit des Lebens | |
ist. Jesus hat nicht gefordert, dass alle so leben. | |
Paulus hat doch aber die Ehe für Geistliche empfohlen, nicht wahr? | |
Er hat es umgekehrt gesagt: Ich möchte eigentlich, dass alle so leben wie | |
ich. | |
Paulus schreibt im ersten Brief an Timotheus, er empfehle bei den Bischöfen | |
die Ehe. Nur was sein eigenes Leben angehe, halte er sich wegen der | |
Naherwartung der Wiederkehr Christi von der Sexualität fern. | |
Das Neue Testament ist das erste und wichtigste Zeugnis der Offenbarung, | |
aber es ist kein Rezeptbuch. Die Kirche muss sich immer wieder durch das | |
Neue Testament vergewissern, aber sie geht ihren Weg weiter. Und wir leben | |
heute nicht in derselben Situation wie Paulus damals. Er musste Antworten | |
auf die Fragen seiner Zeit finden. Und wir müssen Antworten auf die Fragen | |
unserer Zeit finden. | |
Wie gehen Sie mit dem "Hunger nach Nähe" um? Können Sie sie, sagen wir, | |
umformen in eine Sehnsucht nach Jesus? | |
Ja, schon. Zum einen ist Nähe nicht ausgeschlossen. Es geht ja um das Maß | |
der Nähe. Natürlich kann ein Priester keine sexuellen Beziehungen haben. | |
Aber es gibt ja viele Menschen, die Nähe leben ohne sexuelle Beziehungen. | |
Wie soll das denn für eine große Zahl von Menschen gehen, die sexuell nicht | |
aktiv sind, etwa weil sie alleine sind oder verwitwet oder krank? Die | |
sollen alle defizitär sein - nein, das ist nicht so! Das wäre eine seltsame | |
Sicht des Menschen. Nähe besteht ja auch in Freundschaften. Ein Priester | |
sollte Freunde haben, gastfreundlich, herzlich und aufmerksam sein. Und das | |
muss man kulturell auch abstützen, es braucht ein Umfeld. Darum bemühe ich | |
mich auch, etwa dass wir hier im Hause eine kleine Gemeinschaft bilden. | |
Gleichwohl: Könnte man nicht relativ problemlos auf das Zölibat verzichten? | |
Es ging doch in der Kirchengeschichte auch viele Jahrhunderte ohne … | |
Die Diskussion darüber gibt es seit den Evangelien. | |
Dennoch könnte man es ziemlich einfach abschaffen. | |
Nein, das könnte man nicht. Das halte ich für eine etwas kurzatmige | |
Analyse. Darüber zu diskutieren, ist theologisch nie verboten. Aber dass | |
der Papst dies mit einem Federstrich ändern könnte, ist abwegig. | |
Wir müssen noch über den Ökumenischen Kirchentag, den ÖKT, und die Ökumene | |
reden: Ist der Ärger durch das Vatikan-Schreiben "Dominus Iesus" vor zehn | |
Jahren nun vorbei, das den protestantischen Kirchen ihr Kirche-Sein nach | |
katholischem Verständnis absprach? Damals zeigten sich einige Bischöfe der | |
evangelischen Kirche verletzt. Das traf tief. | |
Ich kann verstehen, dass man da so reagiert hat. Aber dieser Text hat ja | |
keine Veränderungen gebracht zu dem, was die katholische Kirche sonst | |
gesagt hat, sondern hat das Gesagte noch einmal verdeutlicht. | |
Das Schmerzhafte wurde zweimal bekräftigt. | |
Auch die evangelische Vorstellung, wie etwa die Einheit der Kirchen | |
aussehen könnte, hat sich in den vergangenen Jahren ja etwas verändert. Die | |
Zielvorstellungen werden aus evangelischer Sicht heute anders beschrieben. | |
Es gibt ja in der evangelischen Kirche Dokumente, die den Dialog | |
beschweren, auch wenn sie nicht so wahrgenommen werden. Da geht es nicht | |
mehr um die sichtbare Einheit der Kirchen, sondern um die gegenseitige | |
Anerkennung. | |
"Die Ökumene der Profile". | |
Ja, bis dahin, dass manche Protestanten sagten: Wir müssen eigentlich gar | |
nicht viel bei uns ändern, wir warten nur noch darauf, dass die katholische | |
Kirche uns anerkennt, fertig. Dann brauchen wir eigentlich keine | |
ökumenischen Dialoge mehr. In der Öffentlichkeit hört man manches | |
Unwissende und Unverständnis: "Was machen die Theologen denn? Jesus ist | |
doch lieb, und Gott ist groß." Das ist unter dem Niveau, das wir im | |
ökumenischen Dialog längst haben. Das wollen unsere evangelischen Brüder | |
und Schwestern ebenfalls nicht. Wir wollen alle eine anspruchsvolle | |
Ökumene. Wir müssen einander mit Wertschätzung begegnen und die | |
theologischen Fragen ernsthaft besprechen. | |
Glauben Sie an eine Rückkehr-Ökumene, dass die protestantischen Kirchen | |
eines Tages zur katholischen zurückkehren? | |
Es gibt keine Rückkehr-Ökumene. Das kann nicht sein. Wir gehen den Weg nach | |
vorn. Es gibt überhaupt keine Rückkehr irgendwohin. Das sind nostalgische | |
Konzepte, die mir fremd sind. | |
Auch der Papst denkt nicht mehr daran? | |
Nein. Der Papst hat viel zur Ökumene publiziert, viel Positives. Und wie | |
ich den Papst einschätze, distanziert er sich von seinen früheren Texten | |
nicht. Der Papst wendet sich nicht vom 2. Vatikanischen Konzil ab. Davon | |
kann man überhaupt nicht sprechen. | |
Glauben Sie, an der These ist etwas dran, der heutige Papst habe 1968 eine | |
Art Schock bekommen, die bewirkt hat, dass sich seine ganze Theologie hin | |
zum Bewahren des Alten gewendet hat? | |
Fragen Sie ihn selbst. Vielleicht kann die taz ja ein Interview mit ihm | |
führen. | |
Jederzeit! | |
Wenn man die Schriften des Papstes liest, muss man vermuten, dass ihm | |
damals deutlich geworden ist: Hier passiert etwas, was nicht dem Glauben | |
der Kirche und dem Konzil entspricht. | |
Beim ÖKT ist kein gemeinsames Abendmahl geplant. Vor sieben Jahren haben | |
Sie als zuständiger Bischof den Priester und Theologen Gotthold Hasenhüttl | |
abgemahnt, weil er ein solches Abendmahl gefeiert hatte. Warum haben Sie | |
ihm auch das Priesteramt entzogen? | |
Es war eine Suspension. Das heißt, eine Bitte, dass er sich wieder bewegt | |
und seine Position ändert. | |
Wenn er das täte, könnte er also wieder sein Priesteramt wahrnehmen? | |
Ja, sicher. | |
Aber war Ihre Reaktion damals nicht ziemlich hart? | |
Es war schwer für mich. Auch weil ich wusste, dass das öffentliche | |
Auswirkungen hat. Aber es gab für mich keine andere Möglichkeit. | |
Beim Kirchentag in München wird nun statt des gemeinsamen Abendmahls eine | |
Art orthodoxe Agape-Feier begangen. Ist das nicht nur ein fauler | |
Kompromiss? | |
Nein, es ist ja keine Eucharistiefeier. Die orthodoxen Kirchen sind in | |
diesen Fragen der Ökumene eher noch genauer und strenger als die | |
katholische Kirche. Das gemeinsame Essen ist ein Zeichen der Verbundenheit. | |
Zum Abschluss: Was gefällt Ihnen am Protestantismus? | |
Ich war in meiner ersten Stelle als Priester in einer sehr evangelischen | |
Gegend, das war die Mehrheitskirche, wir waren die Minderheit. Da habe ich | |
zum Beispiel Freude daran gefunden, wie viele der Kranken, die ich im | |
Krankenhaus besucht habe, noch ihren Konfirmationsspruch als Leitmotiv für | |
ihr Leben haben. | |
"Der Herr ist mein Hirte." | |
Zum Beispiel. Das wussten sie sofort. Das hat mich beeindruckt. Oder auch, | |
wenn man an einer evangelischen Abendmahlfeier teilnahm … | |
… durften Sie da teilnehmen? | |
Ja, ich bin ja nicht zum Abendmahl gegangen. Aber das war sehr würdig und | |
gut gestaltet. Durchaus beeindruckend. Was mir auch gefällt, ist die | |
großartige Kirchenmusik und die Leidenschaft für die Heilige Schrift. Und | |
Martin Luther war ein starker Theologe, keine Frage. | |
Was erhoffen Sie sich vom Ökumenischen Kirchentag? | |
Vor allem, dass die Gottesdienste zu einer geistlichen Erfahrung, zu | |
Impulsen werden! Die Gesellschaft braucht das öffentliche Zeugnis, das | |
Gemeinsame der Christen, gerade jetzt. Die moderne Gesellschaft ist immer | |
vielfältig. Aber wenn die Stimme der Christen fehlen würde, wäre es | |
verheerend. | |
14 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
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Reinhard Marx | |
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