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# taz.de -- Missbrauch an Reformschulen: Die persönliche Hölle auf Erden
> Hartmut von Hentig, der wichtigste zeitgenössische deutsche Pädagoge, ist
> in Verruf gekommen. Die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule belasten
> ihn und seine Schule.
Bild: Bleibt allgegenwärtig, selbst wenn er nicht anwesend ist: Der große Har…
Wie stellt ihr euch eure persönliche Hölle auf Erden vor, fragt die
Lehrerin? Sie sitzen im Kreis, auf Holzbänken, ein Dutzend Jugendliche im
Alter zwischen 14 und 16 Jahren. Fiona liest vor: "Alle denken, ich wäre
tot, aber ich bin noch unter ihnen und kann mich ihnen noch mitteilen. Doch
keiner hört mich."
Die Schüler des Ethik-Leistungskurses der Bielefelder Laborschule behandeln
gerade das Thema Strafe. Das scheint logisch. Zuvor haben sie das Thema
Missbrauch behandelt.
Im März hatte die Frankfurter Rundschau öffentlich gemacht, in welchem
Ausmaß der Schulleiter der reformpädagogischen Odenwaldschule, Gerold
Becker, in den 80er-Jahren Schüler fortlaufend sexuell missbrauchte - und
Übergriffe anderer Lehrer duldete.
"Interessiert Sie auch die Kritik an der Reformpädagogik nach den
Missbrauchsfällen", fragte die Schülerin Friederike die Besucherin zu
Beginn. Die Antwort ist einfach: Ja.
Die Bielefelder Laborschule in Nordrhein-Westfalen ist nicht irgendeine
Reformschule. Sie ist die reformpädagogische Vorzeigeschule der
Bundesrepublik. Ihr Gründer Hartmut von Hentig ist befreundet mit dem
bürgerlich-liberalen Spektrum der Bundesrepublik. In seiner Biografie
kommen Golo Mann, Marion Gräfin Dönhoff, Günter Grass und Richard von
Weizsäcker vor. Auch der Name Gerold Becker ist dabei - er ist Hentigs
langjähriger Freund. Sie wohnen zusammen in Berlin.
Die Schüler des Ethik-Leistungskurses kennen Hentig natürlich. "Total
nett", ist Dinas Eindruck von ihm. Sie hat im vergangenen Jahr einen
Aufsatz für ihn verfasst, er hat ihr seine Beurteilung gemailt. Der große
Hartmut von Hentig, der, selbst wenn er nicht anwesend ist, allgegenwärtig
bleibt an der Bielefelder Laborschule. Auch vor den Osterferien sollte er
wieder kommen, erzählen die Schüler. Doch er sagte ab.
Nachdem sie zusammen über Selbstentfremdung und persönliche Abgründe
diskutiert haben, lesen die Schüler des Ethikkurses über die Geschichte der
Strafe. Im Feld kehrt Ruhe ein. Felder, das sind, ins Regelschuldeutsch
übersetzt, die Klassenräume.
So in etwa hatte sich Hentig seine Schule vorgestellt, als er 1968 als
Professor an die erziehungswissenschaftliche Fakultät der Universität
Bielefeld gerufen wurde. Eine Schule, die "Kinder stärkt und Sachen klärt",
eine Schule, die Lebensraum ist und demokratische Gemeinschaft im Kleinen.
Ohne Noten, ohne direkte Leistungsvergleiche, ohne Sitzenbleiben.
Hentig glaubt nicht, dass Becker die Missetaten, die ihm zur Last gelegt
werden, begangen hat. Das ist ihm zum Verhängnis geworden. Die Süddeutsche
Zeitung beschreibt ihn als gebrochenen alten Mann: "Er leugnet, verdrängt
und bagatellisiert."
Mit der Kritik an Hentik ist auch die Reformpädagogik in Misskredit
geraten. "Die Ideologie der Schule als Gemeinschaft neigt dazu, sie in
etwas zu verzaubern, was im Extrem unmenschlich ist", schrieb Jürgen Kaube
in der FAZ. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus,
forderte einen "aufgeklärten Skeptizismus gegen die Romantik einer
gutpädagogischen Ersatzreligion zu setzen".
Wer auf eine autoritäre Beziehung zwischen Lehrern und Schülern steht,
sieht sich an der Bielefelder Laborschule umgehend in allen Vorurteilen
bestätigt: Statt ihre Lehrer zu siezen, duzen die Schüler sie - und
berichten, dass ihnen besonders das vertrauensvolle Verhältnis zwischen
Lehrern und Schülern gefällt.
Hentig hatte von Lehrern und Lehrerinnen "pädagogischen Eros" gefordert.
Noch im Januar hatte er sich in einem Vortrag zu den Elementen der
Erziehung geäußert und verlangt: Neben der Achtung vor dem Kinde werde von
jedem echten Erzieher erwartet, dass er "etwas von "pädagogischer Liebe" in
sich trage. "Und diese sei mehr als ein Klima oder ein Medium der Zuneigung
- sie sei eine Form der "persönlichen Liebe", sagte Hentig und bezog sich
dabei auf Platon und Eduard Spranger. Seit den Märzwochen klingen seine
Worte zweideutig.
"Darf ich ein Kind, das weint, noch in den Arm nehmen", hatten Kollegen sie
gefragt. Susanne Thurn unterrichtet seit 30 Jahren an der Laborschule, 20
Jahre davon ist sie Schulleiterin. Eine Dame, denkt man sofort - silbernes
Haar, graues Kostüm, weiße Bluse. Für ihre Schüler aber verkleidet sich
Thurn im Englischunterricht als Miss Bumblebee, trägt wallende Umhänge,
Körbe und sprechende Puppen. Für ihre Schüler ist sie Susanne. Wer ein
Kind, das Trost sucht, von sich stößt, sei ein schlechter Pädagoge,
beantwortet Thurn ihre Frage. "Wenn es so weit gekommen ist, dann haben wir
verloren", fügt sie hinzu.
Thurn ist mit Hentig befreundet und hat lange mit ihm zusammenarbeitet. Der
"pädagogische Eros" meine keine sexuellen Beziehungen, sondern die Liebe
zum Kind und zum Fach. "Wer Lehrer werden will, muss Kinder so lieben, dass
er mit ihnen auch die Freizeit verbringen möchte", wiederholt sie anstatt
seiner.
In den 36 Jahren, in denen die Bielefelder Laborschule besteht, wurde kein
Lehrer bezichtigt, Schüler in sexueller Absicht angefasst zu haben. Als
Thurn im März Eltern und Lehrer zusammenrief, um alles auf den Tisch zu
legen, was womöglich verschwiegen worden sei, ergab sich: nichts.
Unbestritten aber erhalten Schüler hier mehr Aufmerksamkeit als an
herkömmlichen Schulen. Schüler und Lehrer sind eine Gemeinschaft, wer
einmal an der Laborschule war, bleibt ihr meist treu.
Vieles von dem, was seit den 70er-Jahren an der Laborschule ausprobiert und
vom universitären Zweig der Schule geprüft worden ist, hat sich längt
etabliert. Bei Englisch ab Klasse 3 und Betriebspraktika denkt kein Mensch
mehr an Wald-und-Wiesen-Reformpädagogik. Das Lernen in altersgemischten
Gruppen ist in Berlin flächendeckend eingeführt, auch Bayern plant die
Klassen eins und zwei zu einer Stufe zusammenzulegen. Die Idee, dass Kinder
von der ersten bis zur zehnten Klasse zusammen lernen, hat sich nicht
durchgesetzt. Die ideologischen Bedenken sind stark.
In Berlin gibt es ein Dutzend solcher Gemeinschaftsschulen. Eine davon ist
die Wilhelm-von-Humboldt-Schule im schnieken Stadtteil Prenzlauer Berg. Sie
gehört zum reformpädagogischen Netzwerk der Blick-über-den-Zaun-Schulen,
das die Laborschule mitgründete.
Die Lehrerin Silke Lembcke bezeichnet sich als Reformpädagogin. Auch die
Erzieherin Rosi Treptow sagt von sich, sie sei Reformpädagogin. Als Hentig
in Bielefeld die Laborschule gründete, spielte Lembcke in einer staatlichen
Kita in Ostberlin, und Treptow hatte gerade ihre Ausbildung als
Heimerzieherin beendet.
Beide haben Hentigs pädagogische Konvolute nie gelesen. Sie meinen aber,
das müsse man trennen, die Kritik an Hentig von den Ideen der
Reformpädagogik.
Reformpädagogisch sei in erster Linie ihr Blick aufs Kind, erläutern
Lembcke und Treptow. "Motivieren statt - was steht an der Tür - ziehen und
schieben."
Abgucken und ausprobieren, was passt, diese undogmatische Einstellungen zur
Reformpädagogik ziehen sich durch die Berliner Gemeinschaftsschule: An der
Montessori-Pädagogik hat ihnen das Motto "Hilf mir, es selbst zu tun"
gefallen, bei der Jenaplan-Schule die altersgemischten Lerngruppen.
Als sie nach Ideen für ihre Arbeit als Schulleiterin suchte, war
Gabriela-Anders Neufang auch in Bielefeld, um die berühmte Laborschule zu
besuchen. Und war begeistert: vom Respekt, den man den Kindern dort
entgegenbrachte, vom demokratischen und sozialen Lernen. "Die Laborschule
ist immer noch beispielgebend", sagt sie entschieden.
Als das Bezirksamt die energische Frau vor zwei Jahren bat, die neue
Gemeinschaftsschule zu leiten, sagte sie sofort zu. "Ich wollte keine
Schulempfehlungen nach der sechsten Klasse mehr aussprechen. Ich wollte
einfach nicht mehr." Ihre Handkante durchschneidet die Luft.
Und während Eltern in Hamburg noch für den Erhalt der vierjährigen
Grundschule demonstrieren, stehen sie vor der Gemeinschaftsschule in
Berlin-Prenzlauer Berg Schlange.
Käme er zu Besuch - Hentig wäre sicher hocherfreut, mit welcher
Begeisterung seine Ideen hier von Lehrern, Eltern und Schülern umgesetzt
werden. Aber er hat sich in seine Berliner Wohnung zurückgezogen.
Ja, sie würden ihn gern befragen über die 70er-Jahre an der Odenwaldschule
und seine Freundschaft zum damaligen Schulleiter, sagen die Schüler des
Ethik-Kurses in Bielefeld. Doch Hentig hat vor allem ihr Mitgefühl. "Jetzt
muss er sich um Gerold Becker kümmern, und er ist sicher sehr traurig, weil
der bald stirbt", meint Niklas. Nur Friederike insistiert: "Eine
Stellungnahme von ihm würde mich schon interessieren."
Einen sechzehnseitigen Brief an den Autoren des Artikels in der
Süddeutschen Zeitung hatte Hentig dann doch nicht abgeschickt. Er sei
verstört und verzweifelt, berichtet Schulleiterin Thurn über den Freund.
Der Artikel in der SZ habe einer gewollten Hinrichtung geglichen.
Es wäre ihm lieber gewesen, "es hätte vor 11 Jahren (besser noch vor 35
Jahren, das heißt in unmitttelbarer zeitlicher Nähe zu den Anlässen der
Vorwürfe) ein ordentliches deutsches Gericht die Untersuchung übernommen",
schreibt Hentig.
Doch dazu ist es zu spät. Beckers Taten sind verjährt. Er lebt noch, aber
wie: Hentig schreibt: "Nach jeder Stufe lange verschnaufend, am Ende fünf
Minuten unfähig, auch nur ein Wort zu sprechen, weil er keine Luft bekommt,
dann ganz allmählich seine geistige und sprachliche Vollmacht einnehmend."
Es muss für ihn sein wie die persönliche Hölle auf Erden.
12 May 2010
## AUTOREN
Anna Lehmann
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