# taz.de -- Knabenharem an der Odenwaldschule: Der Sexappeal des Mick Becker | |
> Gerold Becker betrieb bis 1985 an der Odenwaldschule eine Art | |
> Knabenharem. Der "Mick Jagger der Pädagogik" manipulierte nicht nur | |
> Schüler und Lehrer, sondern auch Intellektuelle. | |
Bild: Postkarte zur Installation "Die Tränen der Knaben", zum 100-jährigen Ju… | |
BERLIN taz | Ein wenig oberhalb des Örtchens Ober-Hambach stehen an den | |
Wald geschmiegt Häuser mit klingenden Namen. Goethe, Pestalozzi, Humboldt, | |
Herder - lauter leuchtende Geister haben hier ihren Abdruck hinterlassen. | |
In den Häusern wird seit 100 Jahren studiert und gewohnt. Die | |
Odenwaldschule gilt als die Mutter aller Gesamtschulen. | |
Im Herderhaus wurde noch etwas anderes getrieben - Missbrauch an Jungen | |
zwischen 12 und 14 Jahren. Im Herderhaus lebten Gerold Ummo Becker, der | |
Schulleiter, und der Musiklehrer Wolfgang Held mit Schülern. Die Buben | |
mussten ihre Lehrer dort regelmäßig sexuell befriedigen, nachts, in der | |
Mittagspause, beim Duschen. | |
"Ich war 13 Jahre alt, es ging gleich los, als ich hinkam", sagte Adrian | |
Koerfer der Frankfurter Rundschau über Held. "Jeden Mittag hat er sich | |
einen geholt, der mit ihm Mittagsschlaf machen musste. Das bedeutet, wir | |
mussten ihn befriedigen." | |
Becker, den Schulleiter, bewunderten die Schüler nicht nur. Seine Opfer | |
geben zu Protokoll, dass sie stets Angst hatten beim Einschlafen, er würde | |
kommen und etwas von ihnen wollen. | |
"Das musste doch jemandem auffallen!", sagt heute eine Mitarbeiterin der | |
Odenwaldschule der taz, "dass in einem Haus, das mitten auf dem Gelände | |
liegt, zwei Homosexuelle wohnen, bei denen nur Jungs zwischen 12 und 14 | |
Jahren lebten". Sie macht eine Pause. "Überall sonst waren die | |
Internatsfamilien gemischt. Im Herderhaus aber war das Prinzip der Schule | |
gebrochen, das der Familie: Frauen gab es dort nicht. Jeder hätte es merken | |
können." | |
Aber nicht nur damals haben viele nichts gesehen oder sehen wollen. So war | |
es bis 1985, als Becker der Schule den Rücken kehrte und im hessischen | |
Kultusministerium Berater wurde. So war es 1998, als sich Schüler des | |
Becker-Harems erstmals dazu durchringen konnten, von ihren Erlebnissen mit | |
dem Schulleiter zu berichten. Und so könnte es am Freitag sein, wenn der | |
Trägerverein der Odenwaldschule die personellen Konsequenzen aus dem Fall | |
Becker und seiner Nichtaufarbeitung zieht. Bei der letzten Sitzung vor | |
wenigen Wochen gifteten einige: "Das ist doch alles eine selbstproduzierte | |
Medienkampagne." | |
Diesmal stehen die Neuwahlen des Vorstands an - und Norbert Hofmann, der | |
derzeitige Sprecher des Trägervereins, ist verunsichert. "Ich erwarte mir | |
eine Renovierung der Schule - äußerlich und inhaltlich", sagt Hofmann, der | |
früher Landrat war. "Wir brauchen einen personellen Neubeginn im | |
Trägerverein. Wer 1998 nicht energisch genug den Hinweisen auf Missbrauch | |
nachgegangen ist, der sollte daraus Konsequenzen ziehen." Nur weiß Hofmann | |
eben nicht, ob die Blockadefraktion im Verein weiter die Oberhand behalten | |
wird. | |
Scheitern die Opfer des Missbrauchs an der Odenwaldschule am Freitag also | |
zum zweiten Mal mit dem Ansinnen, Anerkennung für ihr Leid zu verschaffen? | |
Die Fakten sind relativ klar, aber eben nicht rechtskräftig festgestellt. | |
Denn die Taten Beckers, der von 1972 bis 1985 die Schule leitete, waren | |
schon 1998 verjährt. Die inzwischen bekannt gewordenen Details des | |
Missbrauchs sind so ekelhaft wie verstörend. Becker, Held und weitere | |
Lehrer sollen sich regelmäßig an den Kindern und Jugendlichen vergangen | |
haben. Auch untereinander missbrauchten sich die Schüler wohl - vor den | |
Augen der Lehrer. Gleichzeitig konnten die Schüler ihre Odenwald-Familien | |
aber auch wechseln. | |
Bei der Frage, wie der charismatische Schulleiter sein "System Becker" | |
errichtet hat, scheiden sich die Geister. Eine Mitarbeiterin sagt, "Becker | |
war so nett, eloquent und charismatisch. Er war der ,Mick Jagger der | |
Pädagogik', der die Menschen auf seine Seite zieht, um sich immer neues | |
Material zu sichern. Das war Beschaffungsnettigkeit." Eine der beiden | |
Juristinnen, die für die Odenwaldschule mit den inzwischen 40 bekannt | |
gewordenen Opfern sprechen, stellt die Frage: "Kann es sein, dass Becker | |
die Lehrer so manipuliert hat, dass letztlich alles seinen sexuellen Zielen | |
untergeordnet wurde?" Andere wiederum bestreiten rundweg, dass es ein | |
System Becker überhaupt gab. Es handle sich allenfalls um Einzelfälle. | |
Hartmut von Hentig, der Lebensgefährte von Gerold Becker, der immer wieder | |
auch im Herderhaus zu Besuch war, sagt: Allenfalls könnte mal ein Schüler | |
seinen Lehrer Becker verführt haben. Jedenfalls habe Becker nie etwas gegen | |
den Willen der Jugendlichen getan. Und Benita Daublebsky, die unter Becker | |
zeitweise Psychologin an der Schule war, wird mit den Worten zitiert, es | |
werde eine Hexenjagd veranstaltet. | |
Es gibt Leute im Trägerverein der Odenwaldschule, die in der Aufarbeitung | |
des Falles Becker nicht etwa Opferschutz sehen, sondern einen | |
Frontalangriff auf die Reformpädagogik. Der Kreis dieser Leute trägt Namen, | |
dass einem schwindlig wird: Er reicht von Annemarie von der Groeben über | |
Benita Daublebsky bis hin zu Sabine Richter-Ellermann. Lauter ehrbare | |
Pädagogen, Praktiker wie Wissenschaftler und Publizisten, die in engstem | |
Kontakt mit dem Who's who der Reformpädagogik stehen. | |
Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Gerold Becker und Hartmut von Hentig | |
anerkennen, ja verehren. Viele von ihnen haben dafür gesorgt, dass Gerold | |
Becker nach der ersten Aufdeckung seiner Taten im Jahr 1999 wieder in den | |
Kreis aufgenommen wurde: Er bekam Beraterverträge, hielt Vorträge, schrieb | |
an Büchern mit. | |
Das ist es, was die Opfer so schockiert. Und die Aufarbeitung im Odenwald | |
gebremst hat. "Es war schwer für uns", erzählt ein Lehrer, der in die erste | |
Aufarbeitung 1998 einbezogen war. "Wir sind ja nicht mehr hingegangen zu | |
den Tagungen, wenn Becker kam." Aber Becker kam immer öfter, bald war er in | |
den intellektuellen pädagogischen Kreisen wieder da. | |
"Wir mussten einsehen", sagt der Lehrer Peter Dehnert, "dass man gegen | |
solche Verfilzungen nichts ausrichten kann." Diese Kreise gehen weit über | |
den Odenwald hinaus. | |
Bensberg bei Köln, der "Blick über den Zaun" tagt, ein Netzwerk von | |
Reformschulen, das einst aus dem Odenwald heraus gegründet wurde. Es ist | |
die Konferenz eins nach der zweiten großen Becker-Enthüllung. Der | |
Hauptvortrag lautet "Was bedeutet Reformpädagogik heute?", gehalten von | |
Cornelia von Ilsemann, sie ist so etwas wie die Staatssekretärin der | |
bremischen Bildungsbehörde. In ihrem Referat fällt der Name Gerold Becker - | |
und den Leuten laufen kalte Schauer den Rücken hinunter. | |
Wird Becker nun auch aus den intellektuellen Kreisen verstoßen? Nein, von | |
Ilsemann nennt Becker als Berater und Miterfinder der Bremer Schulreform, | |
einer Reform, die sie zuvor die ganze Zeit in den höchsten Tönen gelobt | |
hat. Sie kritisiert Becker nicht, sie verstößt ihn nicht, sie hält ihn im | |
Kreise der Erlauchten. "Ich habe Becker weder positiv noch negativ | |
erwähnt", rechtfertigt sich die Frau hinterher, die so kluge und wichtige | |
Reden über gute Schule halten kann. | |
Cornelia von Ilsemann hat mit Becker auch nach 1999 häufig kooperiert. Nun | |
sagt sie: "Wenn ich schon damals gewusst hätte, was heute über Beckers | |
Rolle im Odenwald bekannt ist, hätte ich nicht mehr mit ihm | |
zusammengearbeitet." Aber warum haben Sie sich in Bensberg von ihm nicht | |
distanziert? "Das war ja nicht mein Thema. Ich sollte über Reformpädagogik | |
heute sprechen", sagte sie. "Die Reformpädagogik sollte nicht vernichtet | |
werden, reformpädagogische Ideen sind für Schulentwicklung nach wie vor | |
sehr wichtig." | |
Das ist ein interessante Frage. Hat die Reformpädagogik etwas mit | |
besonderer Nähe zum Kind zu tun? Erleichtert oder begünstigt sie so | |
sexuellen Missbrauch? Da scheiden sich die Geister. Peter Dehnert, ein | |
Lehrer, der schon zu Gerold Beckers Zeiten da war, sagt: "Diese Sache | |
entspringt ein Stück weit den Wurzeln der Reformpädagogik in den | |
Landerziehungsheimen." Von Ilsemann hingegen sagt: "Ich habe kein | |
Verständnis für Missbrauch. Und ich finde es ein Stück weit unfair, die | |
Reformpädagogik mit dem Missbrauch in Zusammenhang zu bringen - denn ihr | |
Kern ist der gegenseitige Respekt vor der Würde des anderen." | |
Es gibt freilich auch einen ganz anderen Umgang mit Becker - den radikalen | |
Schnitt. Wolfgang Edelstein, in den 50er-Jahren Lehrer im Odenwald, später | |
Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, reiste | |
1973 quer durch die Republik zu Becker. Er will von ihm wissen, ob er nicht | |
Angst habe, dass seine Homosexualität zu Konflikten im Umgang mit Kindern | |
führen könne. Becker negiert das - und sagt zugleich zu Edelstein: "Jetzt | |
ist Schluss mit der Schulreformerei, jetzt geht es nur noch um das | |
Verhältnis zum Kind." | |
Edelstein ist entsetzt - und wechselt kein Wort mehr mit Becker. Heute sagt | |
Edelstein: "Becker hat die Schule mit seinen sexuellen Bedürfnissen | |
korrumpiert. Er hat die Schule zu einem Bordell umfunktioniert." | |
Der Unterschied zwischen dem Missbrauch am katholischen Berliner | |
Canisius-Kolleg und der Odenwaldschule lässt sich vielleicht so skizzieren. | |
Der Täter am Canisius ist ein verklemmter Pater, der seine Sexualität unter | |
der Kutane verstecken muss, weil die katholische Lehre ihm Sex verbietet; | |
er muss seinen Trieb heimlich an den Kindern ausleben. | |
Der Täter an der Odenwaldschule ist ein Charismatiker, der die | |
Reformpädagogik als eine positive Ideologie für Missbrauch versteht - und | |
ihn mehr oder weniger offen praktiziert. Nur heißt dieser Missbrauch | |
anders, er heißt Knabenliebe und ist im Lehrer-Urschleim Platons als | |
"pädagogischer Eros" definiert. Als höchste Form der Liebe und der | |
Erkenntnis, homosexueller Sex mit Jungs unter Ausschluss von Frauen - im | |
Herderhaus an der Odenwaldschule. | |
Manche Lehrer aus dem Odenwald nahmen ihr Gespielen mit zu Ausflügen, wo | |
auch andere Sex mit den Kindern haben durften. Zu Hause, im Odenwald, | |
sangen Schüler vor dem Herderhaus, "der Be-ecker, der Be-cker, der findet | |
kleine Jungen le-ecker". | |
Ein Lehrer sagt: "Wir fanden das in Ordnung, dass er schwul war. Aber | |
niemand hätte sich vorstellen können, was im Herderhaus alles passierte. | |
Vielleicht waren wir ein bisschen naiv. Wir sind auch Opfer von Becker und | |
Held." | |
Frage an die Anwältin, die sich mit den Fällen im Odenwald befasst: Gehören | |
diejenigen, die nichts gesehen haben oder nichts sehen wollten, ebenfalls | |
zum System Becker? "Ja, sicher", antwortet sie. Am Freitag wird sich | |
zeigen, ob das auch der Trägerverein der Odenwaldschule so sieht. | |
26 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Christian Füller | |
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