# taz.de -- Kommentar Israel: Schüsse aus dem Bunker | |
> Mit Stangen und Hilfslieferungen gegen Maschinengewehre - das ist eine | |
> präzise Metapher für den Nahostkonflikt im Moment. Es ist ein Kampf mit | |
> ungleichen Waffen. | |
Israelische Soldaten haben ein Schiff gestürmt, das Hilfslieferungen nach | |
Gaza bringen wollte. Türkische propalästinensische Aktivisten haben die | |
Elitekämpfer offenbar mit Messern und Stangen angegriffen, die Soldaten | |
haben daraufhin ein Massaker angerichtet. Mit Stangen und Hilfslieferungen | |
gegen Maschinengewehre - das ist eine präzise Metapher für den | |
Nahostkonflikt im Moment. Es ist ein Kampf mit ungleichen Waffen, in dem | |
ein hochgerüstetes Militär und ein effektiver Unterdrückungsapparat jeden | |
Widerstand gegen die Besatzung erstickt. | |
Natürlich muss geklärt werden, was passiert ist und ob die Soldaten auf | |
Befehl von oben geschossen oder aus Angst überreagiert haben. Aber | |
entscheidend ist das nicht. Denn die völkerrechtliche Situation ist | |
eindeutig. Was im Morgengrauen des Montags im Mittelmeer geschah, war ein | |
gezielter militärischer Angriff auf ein ziviles Schiff in neutralem | |
Gewässer. Der Begriff dafür heißt Staatsterrorismus. | |
Es ist nicht neu, dass die Regierung in Jerusalem unfähig auch zu leisesten | |
Tönen von Selbstkritik ist. Schuld, verkündete Verteidigungsminister Ehud | |
Barak in bemerkenswert offenem Zynismus, seien die Opfer selbst. Sie hätten | |
Israel provoziert. Und es ist auch nicht neu, dass die israelische | |
Regierung internationales Recht ignoriert. Als der Mossad Anfang des Jahres | |
einen Hamas-Führer in Dubai ermordete, benutzte er dafür gefälschte Pässe | |
von EU-Staaten. London und Paris waren entsetzt über den Affront - der | |
israelischen Regierung war es egal. Es gehört zur israelischen | |
Staatsdoktrin, sich im Krieg gegen den Terror an kein Recht gebunden zu | |
fühlen. | |
Aber etwas ist neu an dem, was an Bord der "Mavi Marmara" geschah. Die | |
israelische Politik radikalisiert sich. So brutal ist das israelische | |
Militär noch nie gegen Dritte vorgegangen. Zudem verdeutlicht diese Aktion | |
drastisch, wie die rechte Netanjahu-Liebermann-Regierung tickt. Sie hält es | |
nicht mehr für nötig, Rücksicht zu nehmen - auch nicht auf Verbündete, | |
Freunde oder Vermittler. Am Dienstag sollte Netanjahu Barak Obama treffen. | |
Dass dieses Treffen jetzt nicht stattfinden kann, scheint dem israelischen | |
Regierungschef egal zu sein. So wiederholte sich das Muster, das sich schon | |
beim Besuch von US-Vizepräsident Jo Biden im März zeigte. Damals kündigte | |
die israelische Regierung genau an dem Tag den Bau neuer Siedlungen im | |
Westjordanland an, als Biden versuchte, den eingerosteten Friedensprozess | |
wieder in Gang zu setzen. Biden, ausgewiesener Israel-Freund, reiste ab. | |
Auch dass das israelische Militär das türkische Schiff "Mavi Marmara" ins | |
Visier nahm, spiegelt die Rücksichtslosigkeit der Netanjahu-Regierung. Die | |
Türkei ist eines der wenigen Länder, das eine produktive Vermittlerrolle in | |
Nahost spielen könnte. Netanjahu lässt auf ihre Schiffe schießen. | |
Es ist auf internationaler Bühne, schon lange einsam um Israel. Aber was | |
Netanjahu und sein rechtsradikaler Außenminister Lieberman anrichten, | |
stellt alles in Schatten, was es bisher gab. Fassungslos macht nicht nur | |
die Gewalttätigkeit der israelischen Armee, fassungslos macht auch wie | |
autistisch diese Regierung ihre Selbstisolierung betreibt. In Israel | |
herrscht eine Bunkermentalität, in der jede Kritik an Verrat grenzt. Der | |
kritisch-sachliche UN-Bericht über den Gazakrieg von Richard Goldstone galt | |
vielen schlicht als Propaganda. | |
So hat die Netanjahu-Regierung eine fatale Dynamik richtig in Schwung | |
gebracht. Man fühlt sich von Freunden verraten, von Feinden umzingelt. Das | |
Massaker im Mittelmeer hat klargemacht, wohin dieser Weg führen wird: in | |
eine Eskalation von Staatsterrorismus und Terror. Freundliche Ermahnungen | |
richten bei der Betonriege in Jerusalem nichts aus. Nur Druck und Drohungen | |
von den USA und EU wird die israelische Regierung von ihrem Gewalttrip | |
kurieren. Israel bezieht jährlich für Milliarden Dollar Waffen aus den USA | |
und es braucht die EU als Handelspartner. Israel ist nicht autark, nicht so | |
stark, wie die Rechten in Jerusalem zu glauben scheinen. | |
Es stimmt: Israel braucht Waffen, um existieren zu können. Was aber spricht | |
dagegen, Waffenlieferungen an zwei Minimalforderungen zu koppeln: die | |
Aufhebung des Embargos gegen Gaza und den verbindlichen Stopp des | |
Siedlungsbaus im Westjordanland? Das wäre längst noch kein Frieden. Aber | |
vorher braucht man über Frieden gar nicht zu reden. | |
1 Jun 2010 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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