# taz.de -- Debatte Afghanistan: The war must go on | |
> Die amerikanische Öffentlichkeit interessiert sich nicht für die von | |
> Wikileaks publizierten Militärberichte - ebenso wenig wie für den Krieg. | |
Bild: Schnellfeuerwaffen in Arizona – „for recreational use“, als Freizei… | |
Nachdem Präsident John Kennedy gefordert hatte, den Kalten Krieg zu | |
beenden, und plante, die Militärberater aus Vietnam abzuziehen, wurde er | |
1963 erschossen. Martin Luther King oder Robert Kennedy wurden als weitere | |
Helden der Veränderung fünf Jahre später ermordet. Kennedys Nachfolger, die | |
großartigen und skrupellosen Präsidenten Johnson und Nixon (Letzterer | |
sekundiert durch den Oberrealisten Kissinger) haben dann den Vietnamkrieg | |
nicht beendet, obwohl sie wussten, dass er verloren war. | |
Mächtige Kräfte in der US-amerikanischen Gesellschaft erlauben einen | |
Rückzug aus unseren verunglückten militärischen Abenteuern nur bei | |
exorbitantem Druck - und das, obwohl wir seit 1945 keinen großen Krieg mehr | |
gewonnen haben. Irgendwie gelingt es der Kriegspartei immer, die Nation | |
mitzunehmen, völlig unabhängig davon, ob Zweifel in der Bevölkerung | |
existieren. Auch Präsident Obama, gebildet und intelligent, wie er ist, | |
wird also den desaströsen Krieg in Afghanistan nicht beenden. Und auch die | |
Papiere, die nun von der nicht allzu transparenten Gruppe Wikileaks | |
zugänglich gemacht wurden, werden nichts an der Politik einer Gesellschaft | |
ändern, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den Fängen des 20. | |
Jahrhunderts steckt - genauer: in denen des amerikanischen Imperialismus. | |
Wer über Kriege entscheidet | |
Entscheidungen über Krieg und Frieden werden in den USA an der Staatsspitze | |
getroffen, dann getreulich durch die weitgehend konformistischen Medien | |
legitimiert und anschließend von der halb entpolitisierten Bürgerschaft | |
entweder begeistert oder resigniert akzeptiert. In jedem Wahlbezirk findet | |
sich entweder eine Militärbasis, eine Waffenfabrik oder ein | |
wissenschaftliches oder technisches Labor, das aus dem Verteidigungstopf | |
bezahlt wird. Kongressabgeordnete und Senatoren votieren in der Regel nicht | |
gegen die Existenzgrundlage ihrer Wähler. | |
Hinzu kommt ein großer, in den Universitäten und Forschungszentren | |
angesiedelter intellektueller Apparat, der eine gegen jede Veränderung | |
resistente Weltsicht produziert. Laut dieser ist die Nation pausenlos | |
bedroht und eine aggressive Außenpolitik daher die einzige Lösung. Auch | |
General Petraeus hat seinen Doktor in Princeton gemacht - und es sind seine | |
Truppen, die die gezielten Tötungen fortsetzen werden. Die US-Truppen | |
können sich weiter darauf verlassen, dass keine ihrer Kriegsverbrechen als | |
solche geahndet oder auch nur wahrgenommen werden. | |
Im Heer der ganz normalen Soldaten finden sich überproportional viele | |
Afroamerikaner, Latinos, Migranten und mittellose Weiße. Das Offizierskorps | |
gibt ihnen die Chance auf sozialen Aufstieg. Rund sechs Prozent unseres | |
Bruttoinlandsprodukts verschlingt jährlich das Militär, wobei die Kriege im | |
Irak und in Afghanistan bislang etwa ein Prozent verbraucht haben. Die | |
meisten Bürger tangieren die unmittelbaren Konsequenzen des Krieges nicht, | |
die Langzeitfolgen erscheinen ihnen allzu abstrakt. | |
Marsch der Lemminge | |
Ende letzten Jahres dachte die Mehrheit noch, der Krieg in Afghanistan sei | |
die Mühe nicht wert. Trotzdem gab es keine Massenproteste gegen ihn, und | |
der Streit um den Afghanistaneinsatz beschränkt sich auf elitäre Zirkel und | |
gelegentliche Debatten im Kongress oder Senat. Obama seinerseits hielt es | |
für opportun, die von Bush ererbte Militärstrategie im neuen Gewand zu | |
präsentieren. Seinen Oberkommandeur McChrystal musste er wegen politischer | |
Taktlosigkeit entlassen. So wurde jetzt Petraeus an dessen Stelle gesetzt - | |
just in dem Moment, in dem die durch ihn vermeintlich erreichte Stabilität | |
im Irak zu erodieren begann. | |
Die jüngst veröffentlichten, ehemals geheimen Militärpapiere enthalten | |
tatsächlich nichts, was die Zeitungsleser nicht bereits seit Jahren | |
wüssten. Die Angriffe auf die allgegenwärtigen "Taliban" fordern | |
kontinuierlich zivile Verluste und schüren eine tiefe Feindschaft bei den | |
Afghanen. Die afghanische Regierung ist korrupt und ihren Truppen fehlt es | |
an Kompetenz. Die pakistanische Armee und die rudimentäre Regierung dieses | |
Landes führen uns gemeinsam an der Nase herum. Al-Qaida ist offensichtlich | |
weitergezogen und der Krieg wurde zu einer vornehmlich afghanischen | |
Angelegenheit, natürlich überformt durch die unnachahmliche Mischung von | |
ethnischen Konflikten und islamischem Obskurantismus in diesem Land - | |
beides wird zweifellos die euro-amerikanischen Invasoren überleben. | |
Mehr Stalingrad als Saigon | |
Die Beharrlichkeit der USA ist vor allem der Vorrangstellung des "Krieges | |
gegen den Terror" geschuldet - sie ist ein unbezwingbarer Teil unserer | |
nationalen Ideologie geworden. Folglich stellt sie auch die Basis unserer | |
Außenpolitik dar. Die Israel-Lobby benutzt den Krieg den Terror, um die | |
Allianz mit Israel zu stärken (und um den Weg für einen Angriff auf den | |
Iran zu ebnen). Sie verfügt über mächtige Verbündete aus beiden Parteien | |
und verbindet damit progressive Demokraten mit republikanischen | |
Unilateralisten. | |
Ein wirtschaftlich sinnvoller und politisch rationaler Weg, Afghanistan | |
seiner Geschichte zu überlassen, wäre, Indien, Pakistan und Iran dazu zu | |
überreden, sich auf Maßnahmen zu verständigen, welche die Region zumindest | |
bis zu einem gewissen Grad stabilisieren. Doch eine solche Bevormundung ist | |
uns leider unmöglich: Sie würde die bösen Geister von Amerikas | |
Verletzbarkeit wecken. | |
Jedoch, vielleicht werden wir schon bald erleben, wie schwach die USA | |
tatsächlich sind. So könnte sich eine Evakuierung unserer Truppen aus | |
Afghanistan als nicht durchführbar erweisen. Dann könnte es passieren, dass | |
Kabul nicht dem Saigon von 1975 ähnelt, sondern Stalingrad im Jahr 1943. | |
Doch für solche Überlegungen interessiert sich die Öffentlichkeit nicht. | |
Vielleicht könnten unsere europäischen Freunde helfen, eine kriegskritische | |
Haltung auch in der US-amerikanischen Öffentlichkeit zu verankern. Doch für | |
eine solche Herkulesaufgabe wären Freunde von Format nötig. Die aber haben | |
wir nicht. Denn Cameron, Merkel und Sarkozy haben sich längst in den Marsch | |
der Lemminge eingereiht, der uns an den Rand des Abgrunds führen wird. | |
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ines Kappert | |
30 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Norman Birnbaum | |
## TAGS | |
Newtown | |
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