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# taz.de -- Armutsfalle Mikrokredite: Selbstmord wegen 25 Rupien
> Das Geschäft mit Mikrokrediten boomt. Sie sollen aus der Armut helfen.
> Doch für viele Frauen in Indien sind sie zur Armutsfalle geworden.
Bild: Mikrokredite für kleine Unternehmen sind begehrt, aber die Zinsen liegen…
DELHI taz | Erramma ist weggelaufen. Die Weberin konnte ihren Mikrokredit
nicht zurückzahlen. Sie lebt jetzt nicht mehr im alten Weberviertel von
Uravakonda, einer ländlichen Kleinstadt im südindischen Bundesstaat Andhra
Pradesh, und webt keine bunten Baumwolltücher mehr. "Gestern war sie noch
einmal hier", erzählt ihre bisherige Nachbarin Rashida Begum, die wie alle
hier in einem kleinen einstöckigen Betonhaus mit Webschaukel wohnt.
Erramma war am Vortag zurückgekommen, um sich ihre Witwenpension auszahlen
zu lassen. Doch sie kam nicht weit. Die Mitglieder ihrer Selbsthilfegruppe,
mit denen sie vor ein paar Monaten einen Mikrokredit aufgenommen hatte,
kamen zu ihrem Haus gelaufen, schrien und schlugen auf Erramma ein. "Da ist
sie schnell wieder weggerannt", sagt Begum.
Errammas Fall ist typisch für die heraufziehende Krise im Mikrokreditwesen.
Die Branche ist eine der wenigen Finanzindustrien, die noch nicht von der
globalen Finanzkrise in Mitleidenschaft gezogen wurde. In Indien wächst die
Industrie derzeit nach Branchenschätzungen um 80 bis 100 Prozent pro Jahr.
Mikrokredite gelten hier als sattelfest, weil die armen Leute bisher immer
brav zurückzahlten. Das Land ist der größte Markt für Mikrokredite der
Welt. Nach Angaben der US-Bank Citigroup nutzen inzwischen 70 bis 80
Millionen Inder Kleinstkredite. Doch das schnelle Wachstum droht nun zum
Keim der Krise zu werden. Branchenexperten warnen, dass Indiens viele neue
Mikrofinanzinstitute ihre Kredite zu leichtfertig vergeben und Millionen
Arme in die Schuldenfalle stürzen könnten. Wie schnell das geht, hat
Erramma gerade erlebt.
25 Prozent Zinsen
Erramma ist Witwe. Seit ihr Mann vor einem Jahr starb, bekommt sie eine
Pension von 200 Rupien im Monat, 3,40 Euro. Davon kann sie nicht leben. Von
der Webarbeit auch nicht. Die Textilindustrie steckt in Andhra Pradesh in
der Krise. Erramma lebte zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Schwägerin.
Mit der und acht anderen Weberinnen tat sie sich zu einer
Selbsthilfegruppen zusammen. 600.000 solcher Gruppen für die
Mikrokreditaufnahme, die meist nur aus Frauen bestehen, gibt es allein in
Andhra Pradesh.
Errammas Gruppe nahm einen Kredit über 10.000 Rupien auf, 170 Euro. Der
Kredit war rückzahlbar über ein Jahr. Die Zinsen betrugen 25 Prozent: Viel
im Vergleich zu den Sätzen regulärer Bankkredite, aber viel weniger als bei
den Geldverleihern, bei denen die Weber von Uravakonda, denen keine Bank
etwas gab, früher in der Not Kredit aufnahmen.
Jede Woche musste Errammas Gruppe 250 Rupien zurückzahlen, Erramma davon
ein Zehntel: 25 Rupien, 42 Cent. Sie fand keine Arbeit und hatte im Monat
nur ihre 200 Rupien Pension. Mit jeder Woche wurden die 25 Rupien
Rückzahlung eine größere Belastung. Erramma fand keinen Ausweg. Ihre
Nachbarin Begum macht sich Sorgen: "Viele Frauen in der Gegend nehmen diese
Kredite. Dann können sie nicht zurückzahlen, laufen weg und begehen
Selbstmord."
Der Ökonom Sanjay Sinha leitet MCRIC, die führende Ratingagentur für
Mikrokredite in Neu-Delhi. Er schlägt Alarm: "In Indien und weltweit trägt
das Mikrofinanzwesen heute die Charakterzüge der westlichen Finanzmärkte
vor ihrem Zusammenbruch." Sinha rechnet vor, dass den später bankrotten
Hausbesitzern in den USA Hypotheken im Wert von 120 Prozent ihres Eigentums
eingeräumt wurden. "Auf dem Land in Indien aber bekommen die Bauern heute
Kredite im Wert von 150 Prozent ihres Besitzes", sagt Sinha.
Er nennt auch den Grund dafür: "Das Mikrokreditwesen ist überhitzt. Bei 80
Prozent Wachstum will heute jeder in die Branche investieren. Die
Mikrokreditinstitute sehen darin die große Chance, ihren Marktwert zu
erhöhen. Doch um die neuen Investoren zu überzeugen, brauchen sie diese
wahnsinnigen Wachstumszahlen. Also ist ihnen derzeit jeder zusätzliche
Kredit recht, um die Bücher zu füllen."
Längst sind die Zeiten vorbei, in denen Mikrokredite eher ein Geschäftsfeld
für Nichtregierungsorganisationen und gemeinnützige Stiftungen war. In
Indien steigt derzeit ein Großkonzern nach dem anderen in die Branche ein.
Im Juni war es Aditya Birla, ein großer Mischkonzern, davor der größte
indische Mischkonzern Reliance und der Baukonzern Larsen & Toubro. Auch
ausländisches Großkapital ist dabei: Über sein Joint Venture Bajaj Allianz
Life Insurance hat die deutsche Allianz-Gruppe 2008 schon zehn Millionen
Dollar in Indiens größtes Mikrokreditinstitut, SKS Microfinance,
investiert.
Alle Großen kaufen sich bisher bei einem der privaten Mikrokreditinstitute
ein, deren Zahl in Indien seit der Jahrhundertwende von 20 auf 300
geklettert ist. SKS Microfinance geht als erstes indisches
Mikrokreditinstitut an die Börse. SKS gelang es, die Zahl seiner
Kreditnehmer, meist Frauen in ländlichen Gebieten, innerhalb von drei
Jahren auf 3,95 Millionen zu verzwanzigfachen. In der gleichen Zeit wuchs
die Kreditsumme um das 18-Fache auf 240 Millionen Euro und die Gewinne
stiegen um das 50-Fache auf 14 Millionen Euro.
"Die SKS-Aktie wird um das Zehnfache ihres Nennwertes erwartet", prophezeit
Sinha. Er sieht eine unvernünftige Börseneuphorie in der Branche aufziehen
und vergleicht sie mit dem Internetboom Ende der 90er Jahre. Ende Juni
herrschte auf einer Investorenkonferenz in Neu-Delhi Jubelstimmung:
"Mikrokredite werden in Indien mehr Kunden erreichen als das gesamte
Bankwesen", freute sich etwa Robert Annibale, Mikrofinanzchef bei der
Citigroup. Von heute 70 bis 80 Millionen Kunden sei der Sprung über die
200-Millionen-Marke des herkömmlichen Bankwesens in Indien bald machbar, so
Annibale. Er vergleicht die Entwicklung mit dem Telekommunikationsbereich,
wo Indiens über 300 Millionen Mobilfunknutzer längst die Zahl der
Festnetzkunden übertrifft.
Doch Mobilfunkgeschäft und Mikrokreditvergabe sind für einen
Graswurzelarbeiter wie Ramesh Babu in Uravakonda zwei Paar Schuhe. Handys
haben noch keinen Armen in den Ruin getrieben, sagt er. Mikrokredite aber
tun das aus Babus Sicht immer häufiger. Babu arbeitet für die
Nichtregierungsorganisation Apmas, die Selbsthilfegruppen anleitet und bei
der Kreditaufnahme berät. Früher war er mal ein Fan von Mikrokrediten,
heute aber sagt er: "Die Nachteile überwiegen die Vorteile." Er weiß nicht,
wie es Erramma jetzt ergeht, aber er hat viele Frauen gekannt, die
Zahlungsschwierigkeiten in den Suizid trieben. "Andere laufen von ihren
Kindern weg. Oder verkaufen alles, was sie haben, bis zum letzten Ohrring",
sagt Babu. Im benachbarten Distrikt Guntur hätten ihm Kollegen von Frauen
erzählt, die für die Rückzahlung von Mikrokrediten zur Prostitution
gezwungen worden seien.
Babu kritisiert, wie die Mikrokreditinstitute rücksichtlos Druck auf die
Selbsthilfegruppen ausübten, die dann unter sich mit brutalen Mitteln
Rückzahlungsprobleme zu lösen versuchten. "Egal ob gerade Flut ist oder in
der Familie ein Todesfall vorliegt, die Institute verlangen ihre
wöchentlichen Rückzahlungen", sagt Babu. Wer dann nicht zahlen könne, den
würde die Selbsthilfegruppe beschimpfen und demütigen, in Einzelfällen mit
Steinen bewerfen oder an einen Baum binden. "Unter den Webern dieser Gegend
ist das Rückzahlungsproblem so groß, dass man von einer
Auswanderungsbewegung sprechen muss", sagt Babus Vorgesetzter Narayana
Reddy, der das Regionalbüro von Apmas in Andhra Pradesh leitet. Ursache sei
die viel zu leichte Verfügbarkeit der Kredite. Den Webern würden die
Kredite hinterhergeschmissen, obwohl jeder weiß, wie sehr ihre Industrie
krankt. "In Guntakal, einer kleinen Stadt mit 150.000 Einwohnern, gibt es
schon sieben Mikrofinanzinstitute", sagt Babu.
70 Prozent Wachstum
R. Jayasurya leugnet die Probleme nicht und spricht vom "Überengagement"
mancher Institutsvertreter. Aber man dürfe die Probleme nicht ständig
"unter der Lupe betrachten", sagt der Chefmanager des führenden
Mikrokreditinstituts Asmitha in Andhra Pradeshs Hauptstadt Hyderabad. Er
ist seit 20 Jahren im Geschäft tätig und zählt zu den Pionieren der
Branche. Unter Jayasura arbeiten heute 4.000 Angestellte. Aus seiner Sicht
hat die Branche mit 70 bis 80 Millionen Kunden erst ein Zehntel ihrer
möglichen Reichweite abgedeckt. "Die Nachfrage ist riesig", sagt Jayasurya,
deshalb sei noch über Jahre 60 bis 70 Prozent jährliches Wachstum
realistisch.
Vor allem müssten die Institute größer werden, um die hohen Zinsen senken
zu können. Deshalb begrüßt er auch die Investitionen der Großanleger.
Bisher würden die Mikrofinanzinstitute ihr Geld bei den Banken aufnehmen
und darauf selbst 12 Prozent Zinsen zahlen. So kämen dann Zinssätze für die
Endkunden von 25 Prozent zustande. Würden sich die Mikrokreditinstitute
aber selbst über Börse und Großanleger finanzieren, könnten sie
vergleichbare Sätze wie normale Banken anbieten.
Schadet oder nutzt das Wachstum der Mikrokredite also Frauen wie Erramma?
Ratingagenturchef Sinha bleibt hart: "Alle in der Branche werden ihre
Lektionen lernen müssen." Für Erramma könnte das eine Lektion zu viel sein,
wenn sie wie andere Frauen in ähnlicher Lage Selbstmord begeht. Wegen 25
Rupien pro Woche, die sie nicht hat.
3 Aug 2010
## AUTOREN
Georg Blume
Georg Blume
## TAGS
Sheik Hasina
Indien
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