# taz.de -- Verschüttete Bergleute in Chile: Der unerhörte Gewerkschaftssekre… | |
> Elf Jahre lang warnte der Bergmann Javier Castillo vor einer Katastrophe | |
> in der chilenischen Kupfermine San José - vergeblich. Die Profitgier der | |
> Minenbetreiber war stärker. | |
Bild: Durchhalteparolen für die Eingeschlossenen: Aber auch über Tage können… | |
Nein, ein gutes Foto von sich hat er nicht, sagt Javier Castillo. "Muss das | |
wirklich sein?", fragt er zweimal. Ein paar Stunden später hat er doch eins | |
aufgetrieben. Der Schnappschuss aus der Atacamawüste ist einen Monat alt. | |
Da waren die 33 Kumpel vom Kupfer- und Goldbergwerk San José, deren Drama | |
Millionen in Chile und auf der ganzen Welt bewegt, gerade fünf Tage | |
verschüttet. Ob sie überlebt hatten, war damals noch ungewiss. | |
Castillo ist zusammen mit seinem Sohn Víctor im Kreis seiner Kollegen zu | |
sehen. Gekommen sind sie zu einem Bittgottesdienst am Grubeneingang. Dort | |
haben die Angehörigen der Verunglückten das Camp Esperanza (Hoffnung) | |
aufgeschlagen. Ihr banges Warten sollte noch zwölf weitere, schier endlose | |
Tage und Nächte anhalten. | |
Am 22. August ist es so weit. Die Verbindung zu den Bergleuten ist | |
hergestellt. In exakt 688 Meter Tiefe haben sie ausgeharrt. "Wir 33 sind | |
wohlauf im Schutzraum", steht auf einem kleinen Zettel, den das | |
Suchkommando durch ein elf Zentimeter schmales Rohr nach oben zieht. | |
Javier Castillo erinnert sich: "Stundenlang hat man die Bekanntgabe der | |
Nachricht hinausgezögert, um dem Präsidenten einen großen Liveauftritt zu | |
sichern." Der Milliardär Sebastián Piñera, der Anfang des Jahres als | |
Kandidat der Rechtspartei Nationale Erneuerung zum Präsidenten gewählt | |
worden war, konnte erst nachmittags aus der 800 Kilometer weiter südlich | |
gelegenen Hauptstadt Santiago einfliegen. | |
Tags darauf sprach er über Walkie-Talkie mit einem der Bergmänner. Piñeras | |
Konzept ist aufgegangen: Durch das, was die chilenischen Medien meist als | |
"Wunder" bezeichnen, soll seine Popularität innerhalb von Anfang August bis | |
Anfang September von 41 auf 53 Prozent gestiegen sein. | |
Javier Castillo ist Gewerkschaftssekretär in der Aktiengesellschaft | |
Compañía Minera San Esteban. Zu dieser Firma gehören seit Mitte der | |
Achtzigerjahre die Mine San José und die Nachbarmine San Antonio. Er ist | |
auch Provinzchef der landesweit führenden Einheitsgewerkschaft CUT in | |
Capiapó. | |
Im Jahr 1985 arbeitete er erstmals zusammen mit seinem Vater in | |
Kleinstminen der Region. Vier Jahre später war er Bohrungsspezialist, | |
sammelte danach Erfahrungen in mehreren Unternehmen und stieß 1996 | |
schließlich zu San Esteban. Was er dort erlebte, ließ ihn zum aktiven | |
Gewerkschafter werden. Damals sei Firmengründer Georges Kemeny von seinen | |
Söhnen dazu gedrängt worden, die Produktionsweise umzustellen, sagt | |
Castillo: "Doch die hatten vom Bergbau keine Ahnung und wollten nur mit | |
modernen Maschinen die Produktion erhöhen. Als Chef der Bohrtruppe bekam | |
ich für die Wartung der Geräte gerade einmal ein Zehntel der nötigen | |
Mittel." | |
Auch die kaum ausgebildeten Bergleute waren mit der Umstellung überfordert. | |
Im Jahr 1999 begannen sie, die Trennwände zwischen den Stollen abzutragen, | |
um daraus Kupfer und ein wenig Gold herauszuwaschen. Statt ursprünglich 30 | |
Meter sind heute viele nur noch zehn Meter dick. Bei ungenügender | |
Absicherung drückt die Felsenmasse immer stärker auf die Stollen, bis es zu | |
Einstürzen kommt. | |
Im Jahr 2001 verlor ein Kumpel ein Bein, ein Jahr darauf noch einer. "Immer | |
wieder haben wir bei der Firma und den staatlichen Aufsichtsbehörden | |
protestiert, vergeblich", erzählt Castillo mit ruhiger Stimme. "2003 gab es | |
einen Rieseneinsturz in der Mine San Antonio, aber zum Glück haben wir | |
unsere Kollegen unter Erde noch rechtzeitig warnen können." | |
Nach dem ersten tödlichen Unfall riefen die Gewerkschafter 2004 die | |
Gerichte an und beantragten die Schließung von San José. Zunächst mit | |
Erfolg. Doch von der nächsten Instanz wurde die Schließung wieder auf | |
gehoben. Nach dem dritten Toten kam es 2007 zu einem weiteren Förderstopp, | |
doch der hielt nur ein gutes Jahr. Castillos Fazit: "Das Justizsystem taugt | |
für uns nicht." | |
Für die Malaise macht er die neoliberale Öffnung Chiles verantwortlich, die | |
in den Siebzigerjahren unter dem Militärregime von Augusto Pinochet | |
eingeleitet wurde. Seit 1990 wurde sie von Christ- und Sozialdemokraten | |
fortgesetzt, seit März 2010 forciert sie der Milliardär Piñera. In den nun | |
flugs gegründeten Reformkommissionen sitzen keine Gewerkschafter. | |
"Nennenswerte Abgaben, Steuern oder strenge Sicherheitsvorschriften wie in | |
Kanada oder Australien, das gibt es hier nicht. Hier steht alles unter der | |
unternehmerfreundlichen Logik der Pinochet-Verfassung von 1980", sagt | |
Castillo. Dort sei von "Arbeitsfreiheit" statt vom "Recht auf Arbeit" die | |
Rede: "Das bedeutet, wenn dir die Sicherheitsbedingungen nicht passen, bist | |
du frei, dir einen anderen Job zu suchen." | |
Die Arbeit der Gewerkschaften werde behindert - auch von der Firma San | |
Esteban. "Selbst heute noch erschwert man mit bürokratischen Schikanen den | |
Zutritt zum Camp", sagt Castillo. Von den 33 Verschütteten seien zwölf | |
organisiert. Insgesamt arbeiteten bis zum Unfall in der Mine 150 | |
Festangestellte dort, 75 davon sind in der Gewerkschaft - "aber die meisten | |
erst seit Juli, nachdem unserem Kollegen Gino Cortés das Bein amputiert | |
werden musste". | |
Zwei Tage vor diesem Unfall war Castillo mit Piñeras Bergbauminister | |
Laurence Golborne zusammengekommen. "Damals habe ich ihn auf die | |
katastrophalen Sicherheitsbedingungen in San José hingewiesen. Seit Jahren | |
forderten wir, dass ein Notausgang angelegt wird", erzählt er. "Aber der | |
hat das abgetan und gesagt, dass die oberste Priorität Arbeitsplätze sind." | |
Die Aufsichtsbehörden sind hoffnungslos überlastet, landesweit | |
verunglückten im letzten Jahrzehnt mindestens 373 Bergleute tödlich. | |
Die Kemenys hofften bislang, dass San José trotz seines vergleichsweise | |
niedrigen Kupfer- und Goldgehalts noch weitere 40 Jahre lang lukrativ sein | |
könnte - die Kupferpreise stiegen, allein 2009 um 216 Prozent. Die Löhne | |
hingegen sind angesichts der Knochenarbeit niedrig. Rund 1.000 Dollar im | |
Monat verdient ein Kumpel im Schnitt, halb so viel wie in den modernen | |
Riesenminen der Multis. Dorthin zieht es die Facharbeiter im besten Alter. | |
Die hochgefährdeten "Handwerker" der Mittel- oder Kleinminen sind hingegen | |
jung oder Senioren über 50, wie die 33 Verschütteten. | |
Das war nicht immer so. Castillos Vater konnte noch dank eines Gesetzes des | |
Sozialisten Salvador Allende aus den frühen Siebzigern wegen Schwerstarbeit | |
mit 50 in Rente gehen. Auch er war Gewerkschafter, doch während der | |
Diktatur hielt die Familie den jungen Javier von der Politik fern. "Die | |
Angst war unbeschreiblich", sagt er, "mir wurden erst mit 29 Jahren die | |
Augen geöffnet." Als er sich schließlich der KP anschloss, eröffnete ihm | |
sein Großvater, dass auch er als junger Mann Kommunist war. | |
"Bei uns liegt das anscheinend im Blut", meint Javier Castillo nur halb im | |
Spaß. Gewerkschaftskollege Luis Corrotea lobt die Ehrlichkeit und das | |
pädagogische Geschick des dreifachen Vaters, "er spielt gerne Gitarre und | |
singt dazu". Sein 15-jährige Sohn Víctor will weder Gewerkschafter noch | |
Bergmann werden, sondern Rockmusiker. "Nicht so mein Geschmack", lacht | |
Javier Castillo. | |
Dann kommt er gleich wieder auf die Politik zu sprechen, erzählt von der | |
"roten Hochburg" Copiapó, wo sein Parteifreund Lautaro Carmona dank eines | |
seltenen Wahlbündnisses mit Christ- und Sozialdemokraten bei der letzten | |
Parlamentswahl eines der insgesamt drei Direktmandate für die Kommunisten | |
holte. | |
Lauter wird seine Stimme nur einmal: Als er die, wie er es nennt, | |
"Verwaltung der Information" durch Regierung und Firmenbesitzer schildert. | |
Das Drama in der Wüste nutze die Regierung auch, um von Negativnachrichten | |
abzulenken, etwa vom mittlerweile neunwöchigen Hungerstreik der | |
Mapuche-Aktivisten in Südchile. | |
Dabei kann Strahlemann Piñera, der erst vor Wochen seinen TV-Kanal | |
Chilevisión verkaufte, auf die tatkräftige Hilfe der meisten Medien zählen. | |
Chiles Presselandschaft gehört zu den einförmigsten in ganz Südamerika. | |
"Aber bei den ausländischen Medien klappt es ganz gut", freut sich | |
Castillo. Was er zu berichten hat, findet auch bei anderen Gehör. | |
Mittlerweile gibt er auch CNN, Telesur, dem französischen Fernsehen oder | |
Radio Nederlands Interviews. | |
In Chile hingegen geht es fast nur um das menschliche Drama der | |
Verschütteten und ihrer Verwandten. Damit ignorierten die Medien "den | |
politischen Kern des Problems", sagt Castillo, nämlich "die mangelhafte | |
Sicherheitsgesetzgebung". Die Minengewerkschafter hoffen jetzt auf | |
internationalen Druck, der die Kupfergroßmacht zur Ratifizierung der | |
ILO-Konvention 176 über die Sicherheit im Bergbau zwingen soll. | |
Gegenüber der UN-Arbeitsorganisation verpflichten sich die | |
Beitrittsstaaten, ihre Gesetzgebung entsprechend zu verschärfen und auch | |
durchzusetzen. Arbeiter könnten bei Verstößen streiken, ohne deswegen | |
Kündigungen zu befürchten. "Sogar Peru hat die Konvention schon | |
ratifiziert", sagt Castillo. "Vielleicht haben wir ja jetzt eine Chance." | |
14 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Dilger | |
## TAGS | |
Menschenrechte | |
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