# taz.de -- Verschüttete Minenarbeiter in Chile: Der weinende Berg | |
> Seit rund sieben Wochen hoffen 33 Männer auf Rettung. Mit ihnen bangen | |
> die Nation und ein Camp. Ein Besuch in der Zeltstadt der Angehörigen. | |
Bild: Nelly Bugueños (l.) Sohn ist 700 Meter unter ihr in der Erde gefangen. T… | |
COPIAPÓ taz | Eine staubige Schotterstraße windet sich zur Mine San José | |
empor. Dort harren seit eineinhalb Monaten die 33 eingeschlossenen | |
Minenarbeiter ihrer Rettung. Doch sie sind nicht allein. Vor der Einfahrt | |
in die Mine ist das Camp Esperanza entstanden. Eine kleine Zeltstadt, in | |
der sich Familienangehörige, Regierungsfunktionäre und die nationale und | |
internationale Presse tummeln. Der Lärm der schweren Maschinen des | |
Bergungskommandos liegt über dem Camp. Sonst ist nur der Wind über der | |
Atacama-Wüste zu hören, deren ockerfarbene Dünen sich über den Horizont | |
spannen. | |
In einem der Zelte sitzen Nelly Bugueño und Griselda Godoy an einem | |
ausladenden Campingtisch. Ihre Söhne, Víctor Zamora und Carlos Barrios, | |
sind gut 700 Meter unter ihnen in der Erde gefangen. Die beiden Frauen | |
haben sich hier notdürftig ein improvisiertes Zuhause eingerichtet. | |
Griselda schreibt in langsamen, ungeübten Bewegungen einen Brief an ihren | |
Sohn Carlos. Nelly liest in den vergilbten Seiten einer oft benutzten Bibel | |
und murmelt Gebete für Victor. | |
"Um fünf Uhr nachmittags schicken sie die Briefe in einer Kapsel zu den | |
Jungen herunter", erklärt Griselda Godoy und schiebt ihre Brille zurecht. | |
"Wir versuchen, in diese Briefe alles an Liebe und Beistand hineinzupacken, | |
was möglich ist, damit sie ihr Gefängnis ertragen können. Sie sitzen dort | |
im Hügel in einer endlosen heißen Nacht. Dreiunddreißig Männer, jeder mit | |
seinem eigenen Charakter, das ist nicht einfach." Griselda schüttelt den | |
Kopf. Dass es am Anfang am schlimmsten für sie war, als niemand wusste, ob | |
die Bergarbeiter überlebt hatten. | |
"Die Minengesellschaft hat uns erst acht Stunden später informiert", | |
berichtet Nelly Bugueño empört. "Durch die Briefe unserer Söhne wissen wir, | |
dass der Berg geweint hat. Eine Mine stürzt nämlich nicht einfach ein. | |
Kleine Steine beginnen von der Decke zu fallen und kündigen ein Unglück an. | |
Doch niemand hat die Arbeiter evakuiert. Man hat sie angewiesen | |
weiterzuarbeiten. Das war unverantwortlich." Seit jenem Tag schmerzen die | |
Schultern der untersetzten Frau mit den graumelierten Haaren. Manchmal hat | |
sie das Gefühl, keine Luft zu bekommen. | |
Auch Victors Bruder Carlos kann seitdem nicht mehr arbeiten. In der Mine | |
San José bediente er seit ein paar Monaten die schweren Bagger über Tage. | |
Jetzt aber ereilen ihn dabei regelmäßig Panikattacken. Der Einsturz der | |
Mine war ein Schock, aber keine Überraschung, sagt er. "Es ist ein offenes | |
Geheimnis, wie gefährlich die Mine ist. Immer wieder wurde sie wegen | |
Unfällen geschlossen. Deshalb zahlen sie uns ja auch 1.300 Dollar und nicht | |
1.000, wie das in anderen Minen dieser Größe üblich ist. Der Berg ist viel | |
zu weit ausgehöhlt worden, um noch mehr Kupfer und Gold herauszuholen." | |
Carlos sitzt mit zwei weiteren Brüdern um eine runde Feuerstelle vor dem | |
offenen Zelt. Sie warten darauf, dass das saftige Fleisch auf dem Grill gar | |
wird. Drei kräftige Männer mit gegerbter Haut und rissigen Händen. "Ohne | |
Minenarbeiter wäre Chile nicht Chile" ist mit Edding auf eine große Fahne | |
geschrieben, die die Außenwand des Zeltes ziert. Sie sind heute zu Beginn | |
der Unabhängigkeitsfeier aus Copiapó zur Mine hochgefahren. Und auch, weil | |
es am Wochenende möglich ist, per Videokamera mit ihrem eingeschlossenen | |
Bruder zu reden. Normalerweise schlafen nur ihre Mutter Nelly und ihre | |
Schwägerin Jéssica im Camp Esperanza, der Zeltstadt mit dem Namen Hoffnung. | |
"Doch, doch. Hoffnung ist, was überwiegt. Trotz aller Ängste und Zweifel", | |
bestätigt Victor Zamoras Frau Jéssica leise, aber bestimmt. In | |
gleichmäßigen Bewegungen schüttet sie Wasser auf den staubigen Boden. | |
Unter ihrer langen Strickjacke zeichnet sich ein Babybauch ab. Jéssica | |
redet nur ungern mit den zahlreichen Journalisten im Camp; das überlässt | |
sie lieber ihrer Schwiegermutter. Diese geht souverän mit der stetig | |
wachsenden Zahl der Reporter um, die die Familien abfilmen. "Wir waren | |
einige der Ersten, die hier ihr Zelt aufgeschlagen haben. Aber wenn jetzt | |
immer mehr Presse kommt, vielleicht gehen wir dann auch in den Bereich, den | |
die Regierung abgeschirmt hat." | |
Schwärme von Kameras | |
An diesem Wochenende übersteigt die Zahl der Journalisten erstmals die Zahl | |
der Familienangehörigen. Schwarz glänzende Kameras umringen jeden Einzelnen | |
wie Insektenschwärme. Zur 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Chiles singt | |
ein Universitätschor, ein Clown unterhält Kinder und Erwachsene und | |
verteilt bunte Fähnchen. "Chi-chi-chi! Le-le-le! Chile, Chile!", ruft es | |
aus der Menschenansammlung, als Soldaten der Ehrengarde aufmarschieren und | |
die chilenische Flagge hissen. Vielleicht die hundertste hier im Camp. Das | |
Minenunglück hat die nationale Identität definitiv gesteigert. | |
Pünktlich zum Jubiläum der Unabhängigkeit ist der Tiefbohrer des | |
sogenannten Plan B zum Schutzraum der Bergleute vorgedrungen. Jetzt muss | |
das entstandene Loch allerdings noch ausgeweitet werden, um eine | |
Rettungskapsel herunterzulassen. Ist Jéssica heute zum Feiern zumute? | |
"Nein, ganz bestimmt nicht. Erst wenn ich meinen Mann wieder in den Armen | |
halte. Die Rettung ist nah, aber noch sind es bange Tage. Es ist schwer zu | |
ertragen, dass er nicht bei mir ist, während ich ein Kind von ihm erwarte", | |
sagt sie und zieht fröstelnd ihre Strickjacke zu. Der strahlend blaue | |
Wüstenhimmel über dem Camp täuscht; nur in den Mittagsstunden ist es | |
wirklich heiß. | |
"Iss wenigstens eine Empanada", wird Jéssica von ihrer Mutter Novelia | |
aufgefordert. Die weißhaarige Frau hält ihr eine der traditionellen | |
gefüllten Teigtaschen hin. "Ich verstehe mich nicht sehr gut mit meinem | |
Schwiegersohn", gibt Novelia zu. "Aber als mich meine Tochter anrief und | |
unter Tränen sagte, ,Mama, die Mine ist eingestürzt', da habe ich sofort | |
meine Sachen gepackt und bin hierhergekommen." Eigentlich lebt sie 24 | |
Busstunden von Copiapó entfernt im Süden des Landes. "In solchen Momenten | |
muss man als Familie einfach zusammenhalten." Nur zu gut erinnert sie sich, | |
wie ihr eigener Vater vor rund 50 Jahren in einer Mine am Fuße der Anden | |
eingeschneit war. | |
Andere Familien jedoch hat das Minenunglück nicht vereint. Während die | |
Bergleute in der Dunkelheit gefangen sind, kommt im Camp Esperanza so | |
manches aus ihrem Privatleben ans Tageslicht. Ehefrauen treffen auf die | |
jahrelange Geliebte; Exfrauen tauchen aus der Versenkung auf, um am | |
Medienrummel teilzuhaben. Zerstrittene Paare müssen vor laufenden Kameras | |
und von Kubiktonnen Fels getrennt zu einer Aussprache finden. Während die | |
Medienpräsenz für die einen ein labender Trost ist, ist sie den anderen | |
eher unheimlich. | |
Trotz der offensichtlichen Fortschritte der Rettungsarbeiten wird das Camp | |
für die Familienangehörigen wohl noch bis November ihr Zuhause bleiben. | |
Treffpunkt der kleinen Zeltstadt mit Blick auf die Bohrtürme der Mine ist | |
das große weiße Essenszelt. Die gesamte Rückseite des Raums nimmt ein | |
ausladender Altar ein. In der Mitte steht eine kleine Statue der Jungfrau | |
von Candelaria, der Schutzpatronin der Bergleute. Neben ihr sind zwischen | |
Kerzen und Lichterketten mannshohe Heilige aufgestellt. Ein Jesuskind im | |
goldbestickten Gewand trägt einen knallroten Minenarbeiterhelm. | |
Dreimal am Tag bereiten hier Köchinnen der Gemeinde Copiapó Essen zu. | |
Ebenso packen ein paar Freiwillige mit an, damit die 33 Familien versorgt | |
sind. Auch die Presse isst mit. Manche Journalisten hatten schon in den | |
ersten Tagen nach dem Mineneinsturz ihr Zelt im Camp aufgeschlagen. Die | |
meisten aber kommen von Sonnenaufgang bis zum Untergang aus der rund 40 | |
Kilometer entfernten Provinzstadt Copiapó angefahren. Ein paar französische | |
Journalisten fassten sich ein Herz und führten eine Spendendose unter den | |
Kollegen ein. Damit neues Essen gekauft werden kann, wenn die Spenden von | |
Regierung und Lebensmittelfirmen nicht für alle reichen. Bisher konnte man | |
sich arrangieren. | |
Der Betreiber soll zahlen | |
Seit Kurzem findet im Essenszelt nicht nur der übliche Austausch von Sorgen | |
und Neuigkeiten statt, es gibt auch Versammlungen der Angehörigen mit den | |
Kollegen der eingeschlossenen Minenarbeiter. Immerhin arbeiten fast 300 | |
Personen in Schichten unter und über Tage für das Minenunternehmen San | |
Estebán, das die Mine San José betreibt. Dass diese geschlossen wird, | |
sobald die Bergungsarbeiten erfolgreich beendet sind, ist sicher. Zu lang | |
ist die Geschichte von Unfällen durch mangelnde Sicherheitsvorkehrungen. | |
Auch Nelly Bugueños Söhne wissen nicht, wo sie dann unterkommen werden. | |
Keiner hat eine Ausbildung, alle haben eine Familie, die sie versorgen | |
müssen. | |
Ob ihr Bruder Victor Zamora mit seinen 33 Jahren je wieder wird arbeiten | |
können, bleibt fraglich. Unter Tage bestimmt nicht. Seine Familie strebt | |
mit 25 weiteren Familien ein Gerichtsverfahren gegen die Minengesellschaft | |
von Alejandro Bohn und Marcelo Kemeny an. "Diese sind unglaubliche Risiken | |
eingegangen, damit die Mine mehr und immer mehr Kupfer fördert. Deswegen | |
sitzen unsere Jungs jetzt im Schacht gefangen. Wir verlangen, dass die | |
Firma unseren Angehörigen Schadenersatz für all die Stunden bezahlt, die | |
sie da unten durchstehen müssen", sagt Nelly Bugueño und schlägt | |
entschlossen ihre Bibel zu. | |
24 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Kathrin Zeiske | |
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