# taz.de -- UN-Konvention zu Kinderrechten: Rechtlos in Deutschland | |
> Unterkunft, Gesundheitsversorgung, Schulbildung - noch immer genießen | |
> viele Flüchtlingskinder in Deutschland nicht die Rechte, die ihnen laut | |
> UN zustehen. | |
Bild: Ein Junge vor einem Asylbewerberheim in Ludwigshafen. | |
BERLIN taz | Dimitri F. kann es nicht glauben, als sein Asylantrag | |
abgelehnt wird. Der 16-Jährige hat einen Papierkrieg verloren, in dem er | |
ganz auf sich allein gestellt war. Ohne Rechtsbeistand, ohne Hilfe, ohne | |
große Sprachkenntnisse. F. kommt aus der ehemaligen Sowjetunion, ist allein | |
geflohen, er beantragt politisches Asyl. Doch der Jugendliche versteht die | |
Briefe nicht, die er bekommt, hat keine Ahnung von rechtlichen | |
Angelegenheiten, schon gar nicht in einem ihm fremden Land. Die Frist für | |
den Widerspruch gegen die Ablehnung des Asylantrags verpasst er, weil er | |
nicht weiß, dass es sie gibt. | |
Wenn Jugendliche wie F. im Asylverfahren alleingelassen werden, ist das im | |
Einklang mit deutschem Recht. Wenn sie 16 Jahre oder älter sind, darf man | |
sie in asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren wie Erwachsene behandeln. | |
Auf 5.000 schätzt die Flüchtlingsorganisation "separated children" die Zahl | |
der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Deutschland. Meist kommen | |
sie im Alter von 16 oder 17 Jahren, derzeit vor allem aus Afghanistan. Die | |
Zahl aller minderjährigen Asylbewerber schätzt Pro Asyl auf 8.000. Hinzu | |
kommen 30.000 geduldete Flüchtlingskinder. | |
Nach der UN-Kinderrechtskonvention müsste beim Umgang mit minderjährigen | |
Flüchtlingen das Kindeswohl an erster Stelle stehen. Aber was anderen | |
Kindern selbstverständlich zusteht, wird Flüchtlingskindern in Deutschland | |
vorenthalten: die Unterbringung in jugendgerechten Einrichtungen, in vielen | |
Fällen Schulbesuch und Studium. Ob sie medizinische Versorgung benötigen, | |
wird normalerweise gar nicht erst gefragt. | |
In den meisten Bundesländern werden viele unbegleitete jugendliche | |
Flüchtlinge wie Erwachsene in Asylbewerberheimen untergebracht oder landen | |
gar in der Abschiebehaft. "Das Kindeswohl findet häufig keine Beachtung", | |
sagt Hendrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Immerhin | |
habe sich beim Schulbesuch von Flüchtlingen in den letzten Jahren einiges | |
verbessert, sagt Albert Riedelsheimer von "separated children". | |
Doch wer erst im Alter von 16 oder 17 Jahren komme, falle durch das Raster, | |
weil er nicht mehr als schulpflichtig gelte. Nicht alle Flüchtlingskinder | |
erleben den gleichen Umgang: Je nach Bundesland, je nach Kommune, je | |
nachdem, wer in einer Behörde für sie zuständig ist, werden sie besser oder | |
schlechter behandelt. | |
Seit im Jahr 1989 die UN-Kinderrechtskonvention beschlossen wurde, sind | |
Kinderrechte international bindend. Als Deutschland die Konvention 1992 | |
ratifizierte, meldete die Bundesregierung aber ausländerrechtliche | |
Vorbehalte an. | |
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl erklärte, die Bundesrepublik habe | |
weiterhin das Recht, Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu | |
machen, auch im Bereich der Kinderrechte. 18 Jahre später, im Mai 2010, | |
wurden diese Vorbehalte zurückgenommen. | |
Ein enormer Schritt aus Sicht der Menschenrechts- und | |
Flüchtlingsorganisationen: "Diese Vorbehalte waren ein Bremsklotz, ein fast | |
unüberwindbares Hindernis in der Arbeit mit Flüchtlingskindern", sagt Heiko | |
Kauffmann von Pro Asyl. | |
Doch nun sind die Flüchtlingsorganisationen ernüchtert. "Es ist alles | |
geblieben, wie es war, denn die geltenden Gesetze sind ja immer noch die | |
gleichen", sagt Walid Chahrour vom Flüchtlingsrat Berlin. An der Praxis | |
habe sich seit der Rücknahme der Vorbehalte nichts verändert, berichten | |
alle Experten einhellig. | |
Denn die Bundesregierung sieht keinen Anlass, das Asylverfahrensgesetz und | |
das Aufenthaltsgesetz der UN-Kinderrechtskonvention anzupassen. Aus der | |
Rücknahme der Vorbehalte folge "kein unmittelbarer bundesgesetzlicher | |
Änderungsbedarf", sagt ein Sprecher des Innenministeriums. Deutschland sei | |
den ausländerrechtlichen Verpflichtungen aus der Kinderrechtskonvention | |
schon immer "vollumfänglich" nachgekommen. | |
Auf eine Frage des Grünen-Abgeordneten Josef Winkler antwortete das | |
Ministerium im Mai, es widerspreche der Kinderrechtskonvention nicht, 16- | |
und 17-Jährigen "mehr Rechte" als Jüngeren zu gewähren. "Dies gilt auch für | |
das Recht, im eigenen Namen einen Asylantrag stellen zu können." | |
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sagt zwar, | |
Jugendliche bräuchten bis zum 18. Lebensjahr einen angemessenen | |
Rechtsbeistand, sieht aber auch keinen gesetzlichen Änderungsbedarf, obwohl | |
16- und 17-Jährige keinen rechtlichen Anspruch auf einen solchen | |
Rechtsbeistand haben. Stattdessen verweist die Justizministerin auf die | |
Bundesländer: "Die Länder sollten jetzt ihre Chance nutzen, die Rechte von | |
minderjährigen Flüchtlingen weiter zu verbessern." | |
Allerdings sehen die Bundesländer keinen Anlass, ihren Umgang mit | |
Flüchtlingskindern zu verändern, solange die Bundesgesetzgebung gleich | |
bleibt. Aus dem Innenministerium in Rheinland-Pfalz heißt es etwa, die | |
Durchführung von Asylverfahren sei nicht "Praxis der Länder", sondern | |
allein die Aufgabe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. | |
Einige Bundesländer betonen jedoch, sie würden unbegleitete minderjährige | |
Flüchtlinge besser behandeln, als es die rechtliche Lage erfordert. So sagt | |
der Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD), diese Jugendlichen würden | |
in seinem Bundesland in karitativen und sozialen Einrichtungen | |
untergebracht. | |
Die neue Landesregierung in Nordrhein-Westfalen plant ein | |
"Clearingverfahren" für minderjährige Flüchtlinge. In einem solchen | |
Verfahren werden zunächst einmal die Bedürfnisse des Kindes festgestellt, | |
etwa, ob medizinische Versorgung notwendig ist, wie der Schulbesuch | |
organisiert werden kann und ob das Kind Verwandte in Deutschland hat. | |
Flüchtlingsorganisationen fordern ein solches Verfahren für alle | |
minderjährigen Flüchtlinge. Denn sie erfahren von den Fällen meist zu spät, | |
wenn die Flüchtlinge über Wochen hinweg ohne Unterstützung blieben. So war | |
es auch im Fall von Dimitri F., um den sich nun ein Mitarbeiter des | |
Flüchtlingsrats Berlin kümmert. | |
Die Grünen und Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl fordern Änderungen im | |
Asyl- und Aufenthaltsrecht. Schließlich verstoße die deutsche Gesetzgebung | |
und Praxis in vielen Punkten gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Die | |
derzeitige Situation sei "blamabel" für Deutschland, betont Tom Koenigs, | |
der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag und | |
Grünen-Abgeordneter. | |
Nach der Rücknahme der ausländerrechtlichen Vorbehalte sei "gar nichts" | |
passiert, sagt Koenigs. Die Grünen-Bundestagsfraktion hat die | |
Bundesregierung aufgefordert, einen entsprechenden Gesetzesentwurf | |
vorzulegen. Es müssten zahlreiche Regelungen im Aufenthalts- und | |
Asylverfahrensgesetz geändert werden. | |
Das Deutsche Institut für Menschenrechte sieht einen Änderungsbedarf auch | |
im Kinder- und Jugendhilfegesetz, in dem es heißt, Ausländer könnten die | |
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nur dann beanspruchen, wenn sie | |
ihren "gewöhnlichen Aufenthalt" im Inland haben. | |
Diese Regelung werde häufig genutzt, um Flüchtlingskindern diese Leistungen | |
vorzuenthalten, sagt Cremer. Zudem solle in Asylverfahrens- und | |
Aufenthaltsgesetz festgeschrieben werden, dass Abschiebehaft für | |
Minderjährige nicht zulässig ist. | |
Die Innenministerien von Bund und Ländern halten die Abschiebehaft für | |
Minderjährige dagegen nicht für einen Verstoß gegen die | |
UN-Kinderrechtskonvention, wenn sie möglichst stark begrenzt werde. | |
Einen Änderungsbedarf in Bundesgesetzen haben seit der Rücknahme der | |
Vorbehalte auch zwei Gerichte gesehen. So urteilte das Familiengericht in | |
Gießen im Juli, die vorgezogene Volljährigkeit bei Flüchtlingen sei nicht | |
rechtmäßig. Das Amtsgericht Frankfurt war im August der Meinung, die | |
Ungleichbehandlung von Kindern über und unter 16 Jahren könne nicht | |
aufrechterhalten werden. | |
Experten wie Cremer halten den Gerichtsweg allerdings nicht für zweckmäßig, | |
um die UN-Konvention in die Tat umzusetzen. Zuständig sei, auch nach | |
Meinung der Gerichte und der Bundesländer, zunächst einmal der Bund. | |
17 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Karin Schädler | |
## TAGS | |
Minderjährige Geflüchtete | |
Kristina Schröder | |
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