# taz.de -- Autor Ahmed Rashid über Pakistan: "Es drohen gefährliche Unruhen" | |
> Von der Flutkatastrophe profitieren vor allem die Taliban und das | |
> Militär. Journalist und Bestsellerautor Ahmed Rashid fordert, dass | |
> Pakistan mehr Hilfe vom eigentlichen Erzfeind Indien annimmt. | |
Bild: "Zehn Millionen Menschen sind obdachlos und müssen ernährt werden." | |
taz: Herr Rashid, wie diskutiert Pakistan die Flutkatastrophe? | |
Ahmed Rashid: Das hängt vom jeweiligen sozialen Hintergrund ab. Bauern ohne | |
Schulbildung denken, Pakistan wird für vergangene Sünden bestraft. Die | |
Katastrophe ist eine Mischung aus Klimawandel und fehlender Vorsorge. Wir | |
haben jährlich Überschwemmungen auf niedrigerem Niveau, aber Mittel für die | |
Katastrophenvorsorge wurden vergeudet. Die Bevölkerung ist deshalb sehr | |
wütend auf die Regierung. | |
Welche Folgen hat die Flut? | |
Erstens wurde in wichtigen Regionen die Infrastruktur wie Brücken, Straßen, | |
Elektrizitäts- und Wasserversorgung völlig zerstört. Der Wiederaubau wird | |
sehr teuer und sehr lange dauern. Zweitens wurden die Verteilsysteme wie | |
Basare und Depots zerstört, also nach der Flut ist die Verteilung von | |
Lebensmitteln und Baumaterial sehr schwierig. Drittens wurde entlang des | |
Indus, beginnend im Nordwesten, ein Gebiet zertört, das sich durch die | |
größte Armut, die höchste Analphabetenrate und die größten Aktivitäten | |
militanter Islamisten im Land auszeichnet. | |
Diese drei Charakteristika dürften sich weiter ausprägen. Die Taliban | |
setzen bereits ihre Angriffe auf die Armee fort. Sie sehen die jetzige | |
Situation als günstig für eine Revolution. Sie dürften verlorene Gebiete | |
zurück- und weitere dazugewinnen. Denn es gibt keine Straßen und Brücken | |
mehr, auf denen Soldaten oder Beamte dorthin gelangen können. Die Flut traf | |
zudem die Regionen, in denen Pakistans Atomwaffen und -reaktoren sind. Wir | |
wissen nicht, was dort angerichtet wurde, weil dies Staatsgeheimnisse | |
betrifft. | |
Profitierte die Armee von der Flut? | |
Politisch sicherlich. Denn im Unterschied zur Regierung griff die Armee in | |
großem Stil ein, wofür sie auch die Ausrüstung hat. Sie konnte ihr Image | |
verbessern. Es gibt sogar Politiker, die offen eine Machtübernahme des | |
Militärs fordern. Das wäre ein Desaster. Ich glaube nicht, dass das Militär | |
in dieser katastrophalen Situation die Macht übernehmen will. Gefährlich | |
werden kann es nach der Flut, wenn zehn Millionen Menschen immer noch nicht | |
versorgt sind. Massenunruhen dürften die Regierung überfordern, die Polizei | |
wird sich wegducken und dann bliebe nur noch die Armee. Übernimmt sie dann | |
die Macht? | |
Wie groß ist die Gefahr von Massenunruhen und Hungeraufständen? | |
Sehr groß. Zehn Millionen Menschen sind obdachlos und müssen ernährt | |
werden. Das ist die Größenordnung eines ganzen Landes, in Norwegen etwa | |
leben keine fünf Millionen. Wie ernährt man zehn Millionen über längere | |
Zeit? Man muss die Bauern wieder ansiedeln, ihnen Saatgut, Dünger, | |
Bewässerung geben. Mindestens zwei Anbauzyklen werden stark betroffen sein. | |
Berichten zufolge haben Hilfsorganisationen militanter Islamisten, die | |
schon nach dem Erdbeben 2005 sehr aktiv waren, auch jetzt schnell geholfen. | |
Die islamistischen Hilfsorganisationen sind auf solche Situationen | |
vorbereitet. Für pakistanische Nichtregierungsorganisationen ist sehr | |
schwer, Freiwillige zu mobilisieren, die Hilfsgüter verteilen. Aber die | |
islamistischen Organisationen haben tausende Rekruten, die bereit sind, | |
Härten auf sich zu nehmen. Ihre Organisationen sind vor allem im Nordwesten | |
aktiv, wo die Kämpfe stattfinden. Diese Gebiete waren am stärksten | |
überflutet. Deshalb war all dies zu erwarten. | |
Man kann diese Organisationen auch nicht schließen, schließlich spielen sie | |
eine Rolle bei der Versorgung und können nicht ohne weiteres ersetzt | |
werden. Deshalb dürften sie weitere Anhänger gewinnen. Schon nach dem | |
Kaschmir-Erdbeben haben sie schnell Koranschulen aufgebaut. Staatliche | |
Schulen waren zerstört, und so wurden die Koranschulen zum weiteren | |
Rekrutierungsinstrument | |
Pakistans Taliban haben gefordert, auf internationale Hilfe zu verzichten | |
und versprachen ihrerseits 20 Millionen US-Dollar Hilfe. | |
Das war eine dumme Forderung. Die Taliban haben überhaupt nicht die Mittel | |
für Nothilfe in größerem Maßstab. Wäre es den Taliban ernst, hätten sie | |
einen Waffenstillstand gefordert und Nothilfe zugelassen. Stattdessen | |
wollten sie Hilfe und gleichzeitig Regierung und Militär angreifen und an | |
der Hilfe hindern. Dies konnte nur nach hinten losgehen. Dennoch dürften | |
die militanten Islamisten verlorene Gebiete zurückgewinnen, denn wo die | |
Armee nicht mehr hinkommt, können sie sich trotzdem noch bewegen. | |
Wie wird die Nothilfe westlicher Staaten wahrgenommen? | |
Sie wird stark kritisiert und als viel zu langsam gesehen. Zunächst wurde | |
im Ausland das Ausmaß der Zerstörung falsch eingeschätzt. Doch dazu kommt | |
das Glaubwürdigkeitproblem der pakistanischen Regierung. Geberländer halten | |
sie für korrupt und inkompetent. Die Reaktion der Regierung, nicht der | |
Armee, war ja auch wirklich schlecht und langsam. Doch die Zurückhaltung | |
des Westens ist Pakistans Öffentlichkeit nur schwer zu erklären. Die fühlt | |
sich vom Westen erneut verlassen. Es ist deshalb mit stärkerem | |
Anti-Amerikanismus und einem Ansehensverlust des Westens wie der Demokratie | |
zu rechnen. | |
Obwohl der Westen letztlich stark hilft nützt es ihm politisch nichts? | |
Geld, Hilfslieferungen und Hubschrauber kommen jetzt, aber viel zu langsam | |
etwa im Vergleich zur schnellen und massiven Hilfe nach dem Tsunami 2004. | |
Es gibt eine internationale Pakistan-Müdigkeit. Dieser Armutsstaat fordert | |
immer wieder etwas, aber sorgt mit seiner fortgesetzten Unterstützung für | |
die afghanischen Taliban für Verärgerung. Das ist aber Pakistanis | |
Bevölkerung schwer zu erklären, weil Armee und Regierung - um von eigenen | |
Versäumnissen abzulenken - sagen, der Westen helfe nicht. | |
Die Selbstmordanschläge militanter Islamisten gehen weiter, auch die | |
Drohnenangriffe der USA. Empört das die Flutopfer? | |
Sie regen sich mehr über die Selbstmordanschläge als über die | |
Drohnenangriffe auf. Die Einstellung gegenüber den Drohnen hat sich | |
verändert. Zum einen sind die Angriffe selektiver geworden und fordern | |
weniger zivile Opfer. Auch gibt es keinen Zweifel mehr, dass Armee und | |
Regierung dabei mit den Amerikanern kooperieren. Bereits vor der Offensive | |
im Swat-Tal 2009 wandelte sich die öffentliche Stimmung dahin, dass die | |
Armee etwas unternehmen müsse. Das Militär erlitt dabei selbst starke | |
Verluste. | |
Heute helfen bis zu 80.000 Soldaten bei der Flut, aber mehr stehen an der | |
Grenze zu Indien. Deshalb werden wir bis nächstes Jahr kaum Aktionen gegen | |
militante Islamisten sehen. Diese wissen das. Für Armee und Amerikaner sind | |
die Drohnen ein Mittel, den Druck aufrecht zu erhalten. Doch letztlich | |
wissen wir nicht, wer wirklich dabei getötet wird und ob die USA damit | |
Erfolg haben. Auch wird man Soldaten vor Ort brauchen, um bestimmte Gebiete | |
kontrollieren zu können. | |
Ist die Flut trotz des Versagens der pakistanischen Regierung eine Chance | |
zu Reformen? | |
Ich habe die Einrichtung eines Treuhandfonds vorgeschlagen, der von der | |
Weltbank und unabhängigen pakistanischen Ökonomen verwaltet werden sollte. | |
Die Mittel verschiedener Regierungen würden dann transparent für Hilfs- und | |
Wiederaufbauprojekte verwendet. Pakistans Regierung wäre auch vertreten, | |
hätte aber keine alleinige Kontrolle. Über meinen Vorschlag regten sich | |
viele Rechte in Pakistan auf, weil das ein Verlust der Souveränität wäre. | |
Doch die haben wir längst verloren, weil Flut und Taliban große Gebiete | |
kontrollieren. Wir brauchen jetzt das Vertrauen von Gebern und deren | |
Wiederaufbauhhile. | |
Die Armee wird meinen Vorschlag aber wohl nie akzeptieren. Die andere Frage | |
ist, ob die Flut hilft, die Position der Armee gegenüber Indien und | |
Afghanistan zu verändern. Momentan gibt es dafür keine Zeichen. Hilfe auf | |
der Ost-Westachse, also aus Indien und Iran, könnte viel effektiver sein | |
als auf der zerstörten Nord-Südachse. Aber dafür müsste Pakistan seine | |
Außenpolitik ändern. | |
Indien bot fünf Millionen Dollar Hilfe an. Doch Pakistan reagierte | |
zurückhaltend. | |
Pakistans Reaktion war lächerlich und sicher vom Militär diktiert und nicht | |
von der Regierung. Wie können wir so dringend benötigte Hilfe verweigern? | |
Inzwischen hat Pakistan die Hilfe akzeptiert, die jetzt über die Vereinten | |
Nationen abgewickelt wird. Indien ist sogar bereit auf 20 Millionen | |
aufzustocken. Doch wichtiger wärer der Zufluss von Hilfe und Nachschub aus | |
Indien. | |
Kann die Flut eine Friedendividende bringen? | |
Hoffentlich führt sie zur Änderung der pakistanischen Außen- und | |
Sicherheitspolitik. Wie können wir behaupten, dass Indien unsere nationale | |
Sicherheit bedroht, wenn heute die Flut eine viel größere Bedrohung ist und | |
wir dort keine zehn Millionen Obdachlose werden ernähren können. | |
Viele Flutopfer dürften in die großen Städte ziehen. Verkraftet eine Stadt | |
wie Karatschi eine Million Flüchtlinge? | |
Das wäre verheerend. Schon heute gibt es dort große interethnische und | |
sektierische Gewalt plus die Taliban. Karatschi ist ein Kessel, wo alle | |
Spannungen des Landes vorhanden sind. Schon heute sperrt sich die Regierung | |
von Sindh gegen die Aufnahme von Flutflüchtlingen in Karatschi. Die Flut | |
hat eine sehr unvorhersehbare Situation geschaffen. Ist die innerhalb eines | |
halben Jahres zu lösen, so dass alle in ihre frühere Heimat zurückkehren | |
und dort genug zu Essen haben? Oder führt dies zu großem Chaos? Um dies zu | |
verhindern bräuchten wir eine bessere Regierungsführung. Die ist aber nicht | |
zu sehen. | |
Der frühere Militärmachthaber Pervez Musharraf hat jetzt seine Rückkehr aus | |
dem Exil angekündigt und will wieder Präsident werden. Kann er helfen? | |
Dass er zurückkommt ist Propaganda, um die Hoffnungen seiner wenigen | |
Anhänger am Leben zu erhalten. Er ist mit Todesdrohungen, Gerichtsklagen | |
und Korruptionsverfahren konfrontiert... | |
...wie viele pakistanische Politiker! | |
Das stimmt, aber als früherer Armeechef ist er nicht der Typ, der das | |
Risiko einer sofortigen Festnahme bei der Rückkehr eingehen würde. Offenbar | |
erzählte ihm sein Umfeld, das von seiner Macht profitierte, alle Pakistaner | |
würden auf ihn warten. Da ist er falsch informiert. | |
Wie sollten westliche Regierungen jetzt Pakistan helfen? | |
Sie sollten Indien und Pakistan zu Gesprächen zusammenbringen und Pakistan | |
dazu veranlassen, mehr Hilfe aus Indien anzunehmen... | |
Würde Pakistan in einer Situation der Schwäche überhaupt mit Indien | |
verhandeln? | |
Nicht über Kaschmir und andere sensible Themen, aber doch über | |
Hilfsmaßnahmen. Ansonsten ist westliche Hilfe dringend nötig beim | |
Wiederaufbau, vor allem in der Landwirtschaft. Die Aussetzung der | |
Importzölle für pakistanische Produkte durch die EU ist hilfreich. Die USA | |
sollten ähnliches machen, auch ein Schuldenerlass wäre gut. Aber diese | |
Maßnahmen setzen eine glaubwürdige Politik Pakistans voraus. Das versteht | |
unsere Regierung leider nicht. | |
Kann der Westen in dieser Situation Bedingungen stellen? | |
Aber sicher, Pakistan ist doch vom Westen und Internationalen Währungsfonds | |
abhängig. | |
Schon bisher bekam der Westen für seine Hilfe an Pakistan nur selten die | |
gewünschte Politik. Kaum ein Land bekam so viel Hilfe von den USA wie | |
Pakistan und zugleich haben die USA in kaum einem Land so einen schlechten | |
Ruf wie ausgerechnet dort. | |
Wer Pakistan kennt, ist sehr besorgt, dass es zum gescheiterten Staat wird. | |
Aber Pakistan ist nicht irgendein marginales Land in Afrika, sondern von | |
vitalem Sicherheitsinteresse für den Westen. Unglücklicherweise stützten | |
die USA mit 70 Prozent ihrer Hilfe Pakistans Militär. So konnten sie keine | |
Herzen gewinnen. US-Präsident Barack Obama und sein Sondergesandter Richard | |
Holbrooke haben zum Glück gemerkt, dass sie mehr Bildung und Entwicklung in | |
Pakistan unterstützen müssen. | |
1 Jan 1970 | |
## AUTOREN | |
Sven Hansen | |
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