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# taz.de -- Giftschlamm in Ungarn: Warten auf das Leben
> Häuser und Gärten sind mit giftigem Schlamm überzogen - doch die Bewohner
> wollen das ungarische Dorf Devescer nicht aufgeben. Und auch die
> Aluminiumfabrik soll bleiben.
Bild: Giftschlamm in Ungarn: Die Bewohner der betroffenen Region wollen bleiben
DEVESCER taz | Matratzen, Kleidung, Küchengeräte, Spielzeug - alles
überzogen von der rötlichen Schlammschicht. Menschen in Schutzanzügen
pumpen den Schlamm aus Häusern, tragen ihn in Eimern weg. Eine Woche nach
der Chemielawine, die das westungarische Städtchen Devescer und einige
Nachbardörfer heimsuchte, sind die Aufräumarbeiten in vollem Gange. Männer
vom Zivilschutz, Rotkreuzleute, Militärs und Journalisten bevölkern die
Stadt. In den Gärten steht der Schlamm noch knöcheltief, unter der milden
Herbstsonne beginnt er zu trocknen. Alle hier tragen Gummistiefel,
Mundschutz und Handschuhe.
"Eine beschissene Arbeit ist das", lacht Martin Nikolov, der mit einer
Gruppe von Glaubensbrüdern vor wenigen Stunden aus Rumänien eingetroffen
ist. Jetzt schaufeln die Mormonen, die in gelb-weißen Schutzanzügen
stecken, wabbligen Schlamm in Schubkarren und kippen sie in den
Straßengraben. Ein anderer Trupp saugt die zähe Masse mit dicken Schläuchen
in einen Wagen. Der bringt sie zurück zur Aluminiumhütte, wo sie
hergekommen ist.
"Die Leute wollen nicht mehr in ihre Häuser zurück", sagt Tamás Toldi, seit
wenigen Wochen erst Bürgermeister der 5.000-Einwohner-Stadt. 90 Prozent
hätten das bei einer Bürgerversammlung gesagt. Doch er ist sich nicht
sicher, ob sie die Stadt auch wirklich verlassen wollen.
Als letzten Freitag alle Einwohnerinnen und Einwohner von Devecser zur
Evakuierung zusammengetrommelt wurden, kehrten die meisten nach der
Entwarnung sofort wieder zurück. Nicht einmal die Gefahr, dass ein zweites
Rotschlammdepot der Aluminiumfabrik MAL bersten und noch größere Mengen als
bei dem ersten Dammbruch freilassen könnte, schreckte sie ab.
Der 15-jährige György Farkas ist mit Vater und Bruder im Lieferwagen
unterwegs. Sie helfen bei Transporten, bringen den Helfern Essen. Familie
Farkas will nicht weg, sagt György, der hin und wieder auf dem Wiener
Flohmarkt verkauft und leidlich Deutsch spricht. Ihr Haus wurde nicht
beschädigt, sie sehen also keinen Anlass wegzugehen. Wie die 60-jährige
Joszefné Röst, die in der Apotheke aushilft. Sie hat nicht mal etwas
dagegen, dass die Aluminiumfabrik MAL, aus deren Depot sich geschätzte 1,1
Millionen Kubikmeter giftigen Rotschlamms über die Dörfer ergossen,
weiterarbeitet. "Die sollen bleiben", sagt Röst.
Warum sie das will, ist schnell erklärt: "Von den rund 3.000 Werktätigen
der Stadt haben 1.100 einen Job bei MAL", sagt Bürgermeister Toldi. Mit
jenen, die in Zulieferbetrieben arbeiten, lebt die Hälfte der Bevölkerung
von der Aluminiumhütte. Toldi glaubt, dass bei Einhalten internationaler
Sicherheitsstandards nichts dagegen spreche, den Industriebetrieb zu
retten.
Der Bezirk Veszprém, der bis zum Nordufer des Plattensees reicht, hat noch
eine weitgehend intakte lokale Wirtschaftsstruktur. Die Menschen sind mit
dem Fahrrad oder Bus unterwegs, eigene Autos sind selten. Die Löhne sind
niedrig, die meisten Familien wohnen billig im Eigenheim und bauen im
Garten Gemüse an. Zur Arbeit ins zwei Stunden entfernte Budapest oder ins
hundert Kilometer entfernte Sopron zu pendeln, kommt niemandem in den Sinn.
Viele waren noch nie in der Hauptstadt.
Bürgermeister Toldi ist zuversichtlich. Auf dem Konferenztisch in seinem
Büro liegt ein Evakuierungsplan. Er wurde schon 2005 für den Fall, der
tatsächlich eintraf, entworfen und identifiziert punktgenau die gefährdeten
Viertel. Toldi, ein Mann der regierenden rechtspopulistischen Fidesz, hat
sich von der Regierung bereits Rückendeckung für einen Entschädigungsplan
geholt. Die 270 Familien, die ihre Häuser verloren haben oder aufgeben
wollen, sollen im Nordwesten oder Südosten der Stadt ein neues Haus
bekommen.
Selbst für die 30 Bauern, deren Land verseucht ist, gibt es Staatsland. Was
die Gefahr einer neuen Schlammlawine aus der rissigen zweiten Deponie
betrifft, gibt sich Toldi fatalistisch: "Das liegt in Gottes Hand." So
richtig vertraut man aber doch nicht auf den Schutz von ganz oben. In
Windeseile wurde ein vier Meter hoher Schutzwall errichtet.
Auch Marc Beume würde gerne in Devecser bleiben. Der niederländische
Unternehmer hat einen Betrieb aufgebaut, der Kissen für Gartenmöbel und
Unterwäsche für Markenfirmen in Europa herstellt. Seine Fertigungshalle
wurde nur fünf Zentimeter hoch mit Schlamm verschmutzt. "Er drang aus der
Kanalisation nach oben", sagt Beume. Die Schlammlawine selbst machte wenige
Meter vor seiner Fabrik Halt. Die Lawine durchkreuzt seine Pläne, gerade
wollte er seine Belegschaft von 100 auf 130 aufstocken. "Erst im Juni
hatten wir ein ausgeglichenes Geschäftsergebnis", sagt er. Der Schaden ist
mit rund 5.000 Euro gering, doch ob es weitergehen kann mit seiner
Kissenproduktion, macht Beume von den Erkenntnissen der Wissenschaftler,
die am Montag ihre Untersuchungen begannen, abhängig. Bisher gebe es keine
Informationen, inwieweit der giftige Feinstaub vom getrockneten Schlamm die
Atmung belasten werden.
"Sechs Monate mit Atemschutz arbeiten zu müssen, wäre nicht akzeptabel",
sagt Beume. Seine Leute wollen natürlich weitermachen. Schon wenige Tage
nach der Katastrophe meldeten sich 98 Prozent der Belegschaft wieder zur
Arbeit. Jene drei, die ihr Haus verloren, bekamen bis Ende des Monats frei.
Bürgermeister Toldi hat Pläne für Devecser. Er will, dass der Staat das
verwüstete Areal kauft und dort ein Wäldchen pflanzt. Andere wollen lieber
einen Park oder eine Industrieanlage. Die Menschen warten auf das Urteil
der Wissenschaft. Darüber, ob in den nächsten Jahren Leben möglich sein
wird in Devescer.
13 Oct 2010
## AUTOREN
Ralf Leonhard
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