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# taz.de -- Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21": Der Zug des Fortschritts
> In Stuttgart wird um das Konzept des Fortschritts gerungen. Doch sind
> zehn Milliarden für dreißig Minuten Zeitgewinn gut ausgegebenes Geld?
> Eine entschleunigte Betrachtung.
Bild: Die Geschichte von Protesten ist nichts als eine elende Kette von Niederl…
Über Stuttgart und seinen neuen Bahnhof ist schon sehr viel, eigentlich
alles, und zwar mehrfach, geschrieben worden - einschließlich der Tatsache,
dass die Widerstandsparole "Oben bleiben!" inzwischen auch auf den
örtlichen Fußballverein ausgeweitet werden muss, der in der
Bundesligatabelle ganz unten steht.
Historisch gesehen ist die Geschichte von Protesten und Aufständen nichts
als eine lange, elende Kette von Niederlagen. So hat es Peter Weiss in
seiner "Ästhetik des Widerstands" herausgearbeitet, dabei aber empfohlen,
den Kopf trotzdem oben zu behalten. Der VfB scheint das mit den Niederlagen
nun allerdings allzu wörtlich zu nehmen.
Tatsächlich ist "oben bleiben" als Fußballmaxime geeigneter denn als Motto
des Widerstands. Denn diejenigen, die gegen die Tieferlegung des Bahnhofs
rebellieren, treten ja zugleich gegen "die da oben" an, die nach der
nächsten Wahl eben nicht "oben bleiben" sollen. Schon Bert Brecht dichtete,
"dass was oben ist, nicht oben bleibt". Er meinte das ausschließlich
klassenspezifisch und machttheoretisch.
Der neue Bahnhof liegt demnach nicht nur quer zum alten Gleisbett, sondern
auch quer zur Klassenfrage. So viel steht fest, wenn die Losung "Oben
bleiben!" bleiben soll. Vertreter der Unterschicht würden dieser Parole
wohl kaum zuneigen; nur eine bürgerliche, bewahrende, konservative
Protestbewegung hat damit keine Probleme.
Brechts Sinnbild für den ewigen Umwälzungsprozess war das Mühlrad, also ein
zu seiner Zeit eher romantisches, rückwärtsgewandtes Bild, das mittlerweile
aber in Gestalt der Wasserkraft durchaus für Fortschritt und Zukunft steht.
Es ist eben auch technologisch nie ein für allemal ausgemacht, wo oben und
unten, vorwärts und rückwärts anzusiedeln sind.
Dass sich der Widerstand gegen "die da oben" ausgerechnet an einem
Bahnhofsbau entzündet, ist erstaunlich, haben Proteste hierzulande sich
bisher nur an größeren Gefahren wie Atomenergie oder Mittelstreckenraketen
entzündet und daraus die nötige Energie gewonnen. Und doch ist es
konsequent, ist doch der Bahnhof das natürliche Symbol für Mobilität,
Geschwindigkeit, Pünktlichkeit, Zeitgewinn, also all das, was "Fortschritt"
definiert.
Fortschritt ist ja nichts anderes als das Einsparen von Zeit auf
technologischer Basis. Alle Rationalisierung der Produktion läuft darauf
hinaus; Wohlstand ist ein Gewinn an freier Zeit. Als Ende des 19.
Jahrhunderts die großen Bahnhofsbauten in Deutschland entstanden, galten
sie völlig zu recht als Kathedralen des Fortschritts und wurden
entsprechend mit sakralen Rosettenfenstern, Säulenhallen und gotischen
Giebeln bestückt. Bahnhöfe waren nicht nur funktionale Architektur, sondern
Glaubensstätten. Egal, in welche Richtung der Zug auch fuhr, er fuhr ganz
gewiss in die Zukunft. An diese Epoche knüpft Stuttgart 21 an, indem es ein
neues Symbol technologischer Zukunftshaftigkeit schafft. Die Frage ist
allerdings, ob dieses Symbol noch zeitgemäß ist.
Beschleunigung war seit Erfindung der Eisenbahn das zentrale Credo der
Gesellschaft, der kapitalistischen ebenso wie der sozialistischen, der
Erich Honecker von seinem Tribünenplatz aus das durchaus
CDU-wirtschaftsflügeltaugliche "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!" zurief.
Solange Wirtschaftswachstum als Bedingung des wachsenden Wohlstands
anerkannt war, musste eben alles immer schneller gehen, auch das Reisen,
das in der Folge zur bloßen Fortbewegung von einem Ort zum anderen
degenerierte. Nicht mehr das Unterwegssein war das Ziel, sondern die
möglichst rasche und reibungslose Ankunft.
Mit Reisen als Bildung in einem goetheschen, emphatischen Sinn hat das
nichts mehr zu tun. Im ICE durchquert man Landschaft und Städte im rasenden
Tiefflug und hat keine Chance mehr, die Einzelheiten vor dem Fenster
wahrzunehmen. Man beschäftigt sich folglich nicht mehr mit dem Draußen,
sondern mit sich selbst und seinem technischen Equipment, mit dem man sich
die Zeit vertreibt. Der Preis des Erfahrungsverlustes wird entrichtet, um
dafür mit einem Zeitgewinn am Zielort belohnt zu werden. Die Bahn bezahlt
diese Ideologie damit, dass ihr nun jede kleine Verspätung wie ein Betrug
vorgehalten wird. Wenn die rasche Ankunft alles ist, ist Unpünktlichkeit
ein Verbrechen.
Der unterirdische Transport in Tunnelröhren, wie er nun auf weiten Strecken
zwischen Stuttgart und Ulm geplant ist, radikalisiert diese
Verunwirklichung des Reisens als eines Raum- oder Welterlebnisses. Im
Zugfenster wird dann nichts mehr zu sehen sein als das eigene Spiegelbild.
In letzter, utopischer Konsequenz müsste diese Fortbewegungsweise im
"Beamen" ihre Erfüllung und Überwindung finden: Dann reisen wir nicht mehr,
sondern materialisieren uns mittels Knopfdruck am gewünschten Ort. Dann
allerdings wären auch Bahnhöfe obsolet, ob über oder unter der Erde.
Allerdings wird es bis zu dieser technologischen Stufe noch eine Weile
dauern. Sie kann also für das 21. Jahrhundert noch kein Argument gegen
einen Bahnhofsneubau sein.
Und doch ist die fortgesetzte Beschleunigung in der analogen Welt der
wirklichen, körperlichen Dinge und Lebewesen ein Prinzip, das in die Krise
geraten ist. Wir kennen inzwischen die Dialektik der Aufklärung; wir wissen
um die Grenzen des Wachstums; wir erleben, dass Natur nicht unendlich
ausbeutbar ist. Der Fortschrittsglaube ist ziemlich ruiniert. Das zwingt
uns dazu, das Verhältnis zu Raum und Zeit neu auszurichten.
Denn nichts anderes ist der Fortschritt: Er beruht darauf, den Raum (die
Natur) zu vernutzen, um Zeit (Freiheit) zu gewinnen. Ressourcenverbrauch +
Zeitgewinn = Fortschritt. Ein Bahnhof inklusive Hochgeschwindigkeitstrasse
ist der natürliche Ort, an dem sich dieses Verhältnis bestimmen lässt. Und
wenn, um ihn zu bauen, schöne alte Bäume als Repräsentanten von in
Jahresringen geronnener Dauer gefällt werden müssen, bekommt dieser Kampf
um Natur und Freiheit gleich noch ein zweites, wirkungsmächtiges Symbol.
So lässt sich auch erklären, dass gerade diejenigen Personen und Parteien,
die sich selbst als konservativ verstehen, am entschiedensten für das Neue
in Gestalt des Bahnhofs sind. Denn es gibt nichts Älteres als das Konzept
des Fortschritts, für das sie damit fechten. Wer im 21. Jahrhundert den
Fortschritt verteidigt, der im 19. Jahrhundert erfunden wurde, muss ein
wahrhaft Konservativer sein. Es handelt sich dabei um eine Glaubensfrage,
die wie jede religiöse Ausrichtung rationalen Argumenten nicht zugänglich
ist. Die Fortschrittskonservativen setzen, um ihren Glauben zu behaupten,
nicht nur die Natur aufs Spiel, sondern darüber hinaus das Kostbarste, was
sie haben: ihre Macht.
Es geht ums Prinzip
Dass es in Stuttgart weniger um den konkreten Neubau, als vielmehr ums
Prinzip geht, lässt sich auch den Wortmeldungen der Bundeskanzlerin
ablesen: Wenn Stuttgart 21 scheitert, so Angela Merkel, dann wird in
Deutschland kein Großprojekt mehr durchsetzbar sein. Heißt das aber im
Umkehrschluss, dass, nur um die parlamentarische Demokratie mit ihren
Entscheidungsnöten zu retten, auch das durchgezogen werden muss, was sich
als zu teuer und womöglich gar ineffizient erweist? Verträgt sich die
Revision nicht mit Fortschrittskonservatismus?
Wie sinnig das verkehrspolitische Konzept von Stuttgart 21 ist, können nur
Experten beurteilen. Wie viel Geld eine Gesellschaft ausgeben möchte, um
eine mehr oder weniger spürbare Beschleunigung zu erzielen, ist allerdings
eine Frage, zu der jeder Beteiligte und Unbeteiligte eine Empfindung
entwickeln kann. Sind 10 Milliarden für dreißig Minuten Zeitgewinn gut
ausgegebenes Geld?
Schwer zu sagen. Eine sinnvolle Antwort ist auf rein quantitativer Ebene
von Geld und Zeit wohl nicht zu finden, wenn nicht zugleich die qualitative
Dimension berücksichtigt wird, also die Frage, wozu weiterer Zeitgewinn
eigentlich dienen soll. Je mehr die deutschen Innenstädte sich einander
anähneln, je schrecklicher die Fußgängerzonen mit den immer gleichen
Ladenketten sich monotonisieren, umso sinnloser wird es, überhaupt noch in
eine andere Stadt zu fahren. Welche Rolle spielt es, schneller in Ulm zu
sein, wenn der Unterschied zwischen Stuttgart und Ulm verschwindet? Das
Münster muss man ja nicht alle Tage besichtigen, und schon gar nicht ganz
dringlich dreißig Minuten früher.
Bleibt die ökonomische Bedeutung der Beschleunigung für Geschäftsreisende,
die mit schnelleren Verbindungen womöglich ein paar Termine mehr in ihren
Arbeitstagen unterbringen. Doch für diese Fälle bietet sich die immer sehr
viel raschere Videokonferenz an. Und im Übrigen sind die Zugabteile längst
zu rollenden Büros geworden, wo Akten studiert, Mails geschrieben,
Telefonate geführt werden können.
Es gibt kaum einen Ort, an dem man konzentrierter arbeiten kann als im Zug.
Das hat damit zu tun, dass man immer zugleich das Gefühl hat, auf angenehme
Weise zielorientiert vorangebracht zu werden. Und für die Lektüre eines
Romans braucht man nun mal eher mehr als weniger Zeit. So gesehen wäre
Beschleunigung kontraproduktiv, denn jede gewonnene Minute geht von der
Arbeitszeit ab.
Ist es lächerlich, mit der Frage nach Zeitqualität auf ein
High-Tech-Bauprojekt zu reagieren? Wenn Fortschritt bedeutet, das
Verhältnis zu Raum und Zeit zu bestimmen, muss es aber eben auch darum
gehen, die Zeit sinnvoll zu füllen. Geschwindigkeit ist schön. Man kann sie
genießen. Aber sie ist nicht alles. Vor allem dann nicht, wenn man versäumt
hat, vorher die richtige Richtung festzulegen.
Oben oder unten hat - auf Stuttgart 21 bezogen - jedenfalls nichts mit
vorwärts oder rückwärts zu tun, wenn der Fortschritt in der Vergangenheit
liegt. Kopfbahnhof oder Zeitgewinn ist ein falscher und ziemlich dummer
Gegensatz. Wäre der Konflikt so primitiv, dann könnten wir ja einfach eine
Münze werfen: Kopf oder Zahl.
17 Oct 2010
## AUTOREN
Jörg Magenau
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Schwerpunkt Stuttgart 21
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